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GRUNDSÄTZLICHES/293: Relevanz der Massenmedien für den Terrorismus (ai journal)


amnesty journal 08/09/2010 - Das Magazin für die Menschenrechte

Sauerstoff brennt

Egal ob Taliban, al-Qaida oder Hamas: Islamisten führen ihren antimodernen Kampf mit modernen Mitteln. Zu ihren wichtigsten Waffen zählen die Medien.

Von Daniel Kreuz


Es ist früh am Morgen und kalt. Dichter Nebel liegt auf der Hauptstraße zwischen Kundus und Kabul im Norden Afghanistans. In der vorherigen Nacht haben rund ein Dutzend Verbündete der Taliban an der Straße Sprengsätze versteckt. Nun warten sie auf Fahrzeuge der ISAF-Schutztruppe. Zwei der Mudschaheddin lauern mit Tüchern maskiert nicht weit entfernt in einem Baumwollfeld. Als ein Konvoi mit afghanischen Polizisten und US-Soldaten vorbeifährt, wollen sie die Bomben per Handy zünden. Aber nichts passiert. "Du musst fünf Mal D drücken!" "D? Welches D?" Also schießt einer der Aufständischen mit einer Panzerfaust, doch er verfehlt sein Ziel. Die Angegriffenen erwidern das Feuer, die Islamisten müssen sich zurückziehen und machen sich gegenseitig Vorwürfe: "Wenn jemand sagt, dass du eine Bombe bauen kannst, dann ist er ein Idiot!" Der Bombenbauer widerspricht heftig und hantiert mit dem Fernzünder. Plötzlich detoniert im Hintergrund einer der Sprengsätze, die Männer zucken zusammen, schwarzer Rauch steigt auf. "Bloß weg hier."

Militärisch ist der Angriff ein Fehlschlag, und aus Sicht der Aufständischen fast noch schlimmer: ein PR-Gau. Denn die ganze Aktion wurde von dem in London lebenden afghanischen Journalisten Najibullah Quraishi gefilmt. Die Aufständischen hatten ihn im Herbst 2009 eingeladen, sie mehrere Tage zu begleiten. Sie wollten ihre Gefährlichkeit demonstrieren. Doch was Quraishi an diesem Tag filmte, ist mehr Slapstick als Guerillakampf.

Blamierte Islamisten - das kommt nicht oft vor. Denn die afghanischen Aufständischen, allen voran die Taliban, wissen ihren Kampf mediengerecht in Szene zu setzen. Mit ihren Kalaschnikows und Panzerfäusten bekämpfen sie die ISAF-Soldaten vor Ort, doch mit den TV-Bildern von zerstörten Armeefahrzeugen und getöteten oder verletzten Soldaten zielen sie auf die Öffentlichkeit in den westlichen Staaten, wo die Zustimmung zu dem Einsatz der internationalen Truppen immer geringer, wird.


Der islamistische Terrorismus hat höhere Einschaltquoten als die Fußballweltmeisterschaft

Während der Taliban-Herrschaft von 1996 bis 2001 waren in Afghanistan Fernsehen und Internet verboten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die islamistischen Fundamentalisten die Gesetze der Mediengesellschaft nicht bestens beherrschen. Immer wenn in Deutschland Wahlen oder Abstimmungen über die ISAF-Mission bevorstehen, greifen die Taliban verstärkt Bundeswehrsoldaten an und veröffentlichen ihre Drohbotschaften auf Video.

Als die afghanische Regierung im März 2010 ankündigte, die Live-Übertragung von Taliban-Anschlägen verbieten zu wollen, kritisierten diese den Plan als "Einschränkung der Pressefreiheit". Dabei sind die Taliban nicht gerade als Verfechter der Pressefreiheit bekannt. Journalisten, die ihnen unbequem sind, werden eingeschüchtert oder ermordet. In den von ihnen kontrollierten Gebieten gehen sie so massiv gegen afghanische Journalisten vor, dass eine unabhängige Berichterstattung kaum möglich ist, wie Amnesty International im Jahresreport 2010 kritisiert. Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" führt neben Staatsoberhäuptern auch die Taliban auf ihrer Liste der 40 "Feinde der Pressefreiheit", ebenso wie islamistische Milizen aus Somalia und die palästinensische Hamas.

Die islamistische Bewegung ist nicht homogen. Organisationen wie Taliban, al-Qaida oder Hamas unterscheiden sich in ihren Zielen und in ihrer Zusammensetzung. Was die meisten Gruppierungen neben einer fundamentalistischen Auslegung des Islam jedoch gemeinsam haben, ist der professionelle Gebrauch der Medien. Obwohl sie gedanklich im siebten Jahrhundert verwurzelt sind, zögern sie nicht, ihren Kampf gegen die Moderne mit modernen Kommunikationsmitteln zu führen, wie der Publizist Hans Magnus Enzensberger schreibt. "So sehr sich die Islamisten als Hüter der Tradition aufspielen, so sehr sind sie ganz Geschöpfe der globalisierten Welt. Geschult durch Fernsehen, Computertechnik, Internet und Reklame, erreicht der islamistische Terror höhere Einschaltquoten als jede Fußballweltmeisterschaft."

Ein Terroranschlag, über den nicht öffentlich berichtet wird, bleibt ohne Wirkung. "Denn zuletzt bezweckt der Terror nicht den Tod eines einzelnen, sondern die kollektive Angst, die dem Täter seine Wirkungsmacht beweist", erklärt der Soziologe Wolfgang Sofsky. Die Beziehung zwischen Medien und Terrorismus ist dabei durchaus symbiotisch. Einerseits benötigen Medien Ereignisse, über die sie berichten können, andererseits bedienen sich die Terroristen der Medien, um ihre Anliegen zu verbreiten. Die ehemalige britische Premierministerin Margaret Thatcher folgerte: "Publizität ist der Sauerstoff für den Terrorismus."

So gesehen liefen die Planer der Anschläge vom 11. September 2001 Gefahr, zu hyperventilieren. Denn mehr Publizität ist kaum möglich. Die Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington sind das meistgesehene TV-Ereignis der Geschichte, das Hunderte Millionen Menschen weltweit live miterlebten. Genau so, wie es al-Qaida beabsichtigt hatte. Das World Trade Center wählte das Terrornetzwerk nicht nur wegen der zu erwartenden hohen Opferzahlen aus, sondern auch wegen dessen Symbolik. Für Osama Bin Laden waren die Twin Towers "Ehrfurcht gebietende materialistische Türme, die von Freiheit, Menschenrechten und Gleichheit" kündeten, wie er im Oktober 2001 in einem Interview mit dem Fernsehsender al-Dschasira sagte.


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Was die heutige islamistische Internationale von ihren Vorgängern unterscheidet, ist die Unabhängigkeit von den traditionellen Medien. Nach dem Verlust der Ausbildungslager in Afghanistan 2001 machte al-Qaida das Internet zur neuen Basis. Seitdem ähnelt das Terrornetzwerk dem weltweiten Netz: Es ist dezentral und omnipräsent. So sind die Islamisten nicht nur in der Lage, neue Rekruten zu werben, sondern auch ihre eigene Öffentlichkeit herzustellen. Im Netz gibt es Tausende Seiten, auf denen Enthauptungsvideos aus dem Irak, Kampfszenen aus Tschetschenien oder Collagen zu sehen sind, in denen Selbstmordattentäter als Märtyrer verehrt werden.

Videokamera und Internet ermöglichen es den Terroristen, zu Berichterstattern ihrer eigenen Taten zu werden. Auf die Massenmedien allein sind sie nicht mehr angewiesen. Stell dir vor, es herrscht Terror und keiner schaut hin - dieser Satz bleibt da Utopie.

Unabhängige Berichterstattung ist daher umso nötiger, auch wenn sie nicht leichter geworden ist. Der Journalist Najibullah Quraishi hätte seinen Einsatz beinahe mit dem Leben bezahlt. Wenige Tage nach dem missglückten Anschlag stießen al-Qaida-Kämpfer zu den Verbündeten der Taliban. Für sie war der Journalist aus dem Westen ein Spion, der geköpft werden musste. Zu Quraishis Glück konnten sie sich mit ihrer Meinung nicht durchsetzen. Er musste seine Recherche zwar sofort abbrechen, aber die Mudschaheddin ließen ihn unversehrt ziehen. Doch sie gaben ihm eine Warnung mit auf dem Weg: Er solle bloß nicht wiederkommen. Zu seiner eigenen Sicherheit.


Der Autor studierte Kultur- und Medienwissenschaften und ist Volontär beim Amnesty Journal. Seine Abschlussarbeit verfasste er zur Relevanz der Massenmedien für den internationalen islamistischen Terrorismus.


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Quelle:
amnesty journal, August/September 2010, S. 70-71
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veröffentlicht im Schattenblick zum 26. August 2010