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GRUNDSÄTZLICHES/308: Wolfgang Grenz - Noch lange nicht genug (ai journal)


amnesty journal 04/05/2013 - Das Magazin für die Menschenrechte

Noch lange nicht genug

von Wolfgang Grenz



Nach 33 Jahren scheide ich als hauptamtlicher Mitarbeiter der deutschen Sektion von Amnesty International aus. Es war eine Zeit mit Höhen und Tiefen.


Als ich 1979 als Referent für politische Flüchtlinge bei Amnesty International im Sekretariat in Bonn anfing, hatte das Sekretariat 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Heute arbeiten mehr als 70 Stammkräfte im Sekretariat. Hinzu kommen mehr als 20 Praktikanten und Aushilfen. Auch bei den Mitgliedern und Unterstützern hat es in diesen Jahren einen erheblichen Zuwachs gegeben. 1979 zählten wir weniger als 10.000 Mitglieder und um die 20.000 Unterstützer. Heute zählen wir 25.000 Vereinsmitglieder und 130.000 Unterstützer.

1977 erhielt Amnesty International den Friedensnobelpreis. Diese Preisverleihung steigerte das Ansehen und die Anerkennung von Amnesty sowohl international als auch in der Bundesrepublik Deutschland beträchtlich. Für die deutsche Sektion kam positiv hinzu, dass die Sektion den evangelischen Pfarrer Helmut Frenz als Generalsekretär einstellte. Er war Pfarrer in Chile gewesen und hatte nach dem Sturz von Präsident Salvador Allende durch General Pinochet vielen Gefangenen, Gefolterten und Verfolgten zur Freilassung, zur Flucht und zur Aufnahme in einem anderen Land verhelfen können. Helmut Frenz war für die deutsche Sektion von Amnesty ein Glücksgriff. Er war die glaubhafte Stimme Amnestys.

Ende der siebziger Jahre stieg die Zahl der Asylsuchenden in der Bundesrepublik erstmals an. Die deutsche Sektion hatte sich bereits ehrenamtlich für den Schutz von Flüchtlingen engagiert und die bundesdeutsche Asylpolitik kritisch begleitet. Maßgeblich dafür war die Erfahrung, dass Verfolgte aus Chile und Argentinien nun in der Bundesrepublik ankamen, aber Schwierigkeiten im Asylverfahren und bei der Klärung ihres aufenthaltsrechtlichen Status hatten. Aber auch aus anderen Ländern stieg die Zahl der Asylsuchenden an.

Heidi Merk, im ehrenamtlichen Vorstand für politische Flüchtlinge zuständig, war beruflich voll eingespannt und deshalb auf Dauer nicht in der Lage, die Arbeit der Asylreferenten zu koordinieren und zu überprüfen, welche Asylsuchenden nach den Kriterien von Amnesty in ihrem Verfahren unterstützt werden konnten. Deshalb wurde die Stelle des hauptamtlichen Asylreferenten geschaffen. Beim Einstellungsgespräch fragte mich Helmut Frenz, wie lange ich denn bei Amnesty bleiben wolle. Ich antwortete: "zwei bis drei Jahre". Nun ja, es sind ein paar mehr geworden.

Als ich am ersten bundesweiten Asyl-Arbeitskreis der Bezirkssprecherkonferenz teilnahm, staunte ich über drei Dinge: Das Verhältnis Frauen-Männer betrug drei zu eins. Ein solches Verhältnis kannte ich aus anderen Organisationen nicht. Die Altersspanne war noch erstaunlicher. Die jüngste Teilnehmerin war 16, die älteste 75 Jahre alt, von der Schülerin bis zur Professorin. Aber erstaunlich war auch, dass trotz dieser Altersspanne die Zusammenarbeit sehr gut klappte. Der dritte Punkt, der mich beeindruckte, war das hervorragende Fachwissen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

Im Flüchtlingsbereich sind die Erfolge rar. Es gibt immer wieder Grund zur Freude, wenn von Amnesty unterstützte Flüchtlinge als Asylberechtigte anerkannt werden oder ein anderer Schutz vor Abschiebung gewährt wird. Ich habe mich sehr gefreut, als es Helmut Frenz über Weihnachten 1979 gelang, bei einigen Landesregierungen die Aufnahme von regierungskritischen äthiopischen Studenten zu erreichen, denen Verhaftung, Folter und die Todesstrafe drohte. Aber in der politischen Arbeit für den Schutz von Flüchtlingen gab es häufig schwere Rückschläge. Ein schlimmes Ereignis war für mich im August 1983 der Tod des türkischen Asylbewerbers Cemal Kemal Altun. Die Bundesregierung wollte ihn trotz bevorstehender Asylanerkennung in die Türkei ausliefern. Er befand sich monatelang in Auslieferungshaft und sprang dann aus Furcht vor der drohenden Auslieferung aus dem Fenster des Verwaltungsgerichts und in den Tod.

Seit Beginn meiner Tätigkeit hatte ich das Gefühl, in der Asylpolitik mit dem Rücken an der Wand zu stehen, und die Wand gab immer weiter nach. Seit Ende der siebziger Jahre gab es zahlreiche Gesetzesänderungen, die die Rechte von Asylsuchenden einschränkten. Die politische Diskussion wurde härter, und es wurde gegen Asylsuchende gehetzt. So war es nach Jahren unsachlicher Angriffe gegen das Grundrecht auf Asyl nicht überraschend, dass der Bundestag im Mai 1993 mit Zweidrittelmehrheit eine Änderung des Asylgrundrechts beschloss, die vom ursprünglichen Grundrecht nicht mehr viel übrig ließ. Besonders bitter war es, dass das Bundesverfassungsgericht nach drei mündlichen Verhandlungsterminen, in denen viele Zweifel an der Verfassungsgemäßheit der Grundgesetzänderung deutlich wurden, dann doch die wesentlichen Punkte der Grundgesetzänderung für verfassungsgemäß erklärt hatte. Ich nehme nach wie vor an, dass der politische Druck auf das Bundesverfassungsgericht zu stark war. Die Entscheidungen vom 14. Mai 1996 waren alles andere als eine Sternstunde des Bundesverfassungsgerichts.

Nach einem ersten Schock haben wir uns aber nicht entmutigen lassen. Und in den vergangenen zwei Jahren zeigten die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg und des Europäischen Gerichtshofs der EU in Luxemburg, dass wir in wichtigen Streitfragen durchaus Erfolge erringen konnten. So zum Beispiel bei dem Verbot, Flüchtlinge, die im Mittelmeer aufgegriffen wurden, ohne ein faires Asylverfahren zurückzuschieben. Oder dem Verbot, Flüchtlinge in das nach der Dublin-II-Verordnung an sich zuständige Land zu überstellen, wenn der Zugang zu einem Asylverfahren fehlt, oder wenn eine menschenrechtswidrige Behandlung droht.

Die deutsche Sektion war mit ihrer Arbeit zu Flüchtlingen Vorreiter innerhalb der internationalen Organisation. Auf internationaler Ebene begann Amnesty Anfang der achtziger Jahre zum Schutz von Flüchtlingen zu arbeiten. Und in dem Maße, wie die Organisation wuchs, konnten wir nach und nach weitere wichtige Arbeitsgebiete hinzunehmen: Frauen- und Kinderrechte, die Arbeit gegen Straflosigkeit und zu Rüstungsexporten. Schließlich stieg Amnesty auch in die Arbeit zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten ein.

Alle Erweiterungen führten zu Diskussionen. Oft kam der Vorwurf auf, Amnesty arbeite in zu vielen Bereichen, die Organisation sei zu beliebig. Ich halte die Erweiterungen aber für folgerichtig. Amnesty versteht sich heute als Organisation, die zu dem gesamten Bereich der Menschenrechte arbeitet. Amnesty hat aus der Erfahrung gelernt, dass ohne wirtschaftliche, soziale und kulturelle Menschenrechte für viele Menschen auch die Wahrnehmung der bürgerlichen und politischen Menschenrechte nicht möglich ist. Umgekehrt gilt dies auch: Ohne z.B. die Menschenrechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit und das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit wird es kaum möglich sein, die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte einzufordern.

Die Arbeit zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten stellt uns aber immer noch vor Herausforderungen. Viele Politiker und auch Journalisten sehen sie als "Menschenrechte 2. Klasse" an. Hier müssen wir weiter beharrlich deutlich machen, dass alle Menschenrechte universell gelten müssen.

Zugleich gilt es, eine Balance zu finden zwischen den Menschenrechten, bei denen die Öffentlichkeit aufgrund unserer bisherigen Ermittlungsarbeit Informationen von Amnesty erwartet und den Menschenrechten, die auch wichtig sind, aber bei denen Amnestys Beitrag einer von vielen ist.

Ich möchte dies anhand eines Beispiels darlegen. Im November 2011 war ich zu einer Veranstaltung des Exil-PEN-Clubs im WDR eingeladen zur Meinungsfreiheit in der Türkei. Wenige Wochen vor der Veranstaltung wurden knapp hundert Verleger, Schriftsteller und Journalisten wegen ihrer gewaltfreien Schriften und Artikel inhaftiert. Das internationale Sekretariat von Amnesty in London war leider nicht in der Lage, mir aktuelle Informationen zu schicken, da das Türkei-Team zu diesem Zeitpunkt an einem Bericht zu den Rechten sexueller Minderheiten in dem Land arbeitete. Ein wichtiges, relevantes Menschenrechtsthema. Aber aktuell war die Verletzung des Menschenrechts auf freie Meinungsäußerung angesagt, ein Thema, das wir über Jahre kontinuierlich bearbeitet hatten. Ich habe dann Informationen von einer Mitarbeiterin von Human Rights Watch erhalten, die früher bei Amnesty gearbeitet hatte. Hier sind meiner Meinung nach die Prioritäten falsch gesetzt worden.

Nach wie vor sehe ich die Ermittlungsarbeit neben Kampagnen und Aktionen als wichtigsten Arbeitsbereich von Amnesty an. Deswegen wünsche ich mir, dass Umfang und Qualität der Ermittlungen auch in Zukunft auf hohem Niveau erhalten bleiben. Auf die Informationen von Amnesty muss weiterhin Verlass sein und sie müssen auch zu wichtigen Ereignissen und Entwicklungen im Bereich der Menschenrechte zeitnah veröffentlicht werden.

Um aber dieses Niveau zu halten, müssen wir mehr Unterstützer gewinnen und auch unsere Einnahmen steigern. Bisweilen scheint es mir, als ob Amnesty International oft nicht den Eindruck erwecke, auf Spendengelder angewiesen zu sein. Das muss sich ändern, denn die Arbeit zu Menschenrechten kostet Geld. Wir wollen die Menschenrechte weltweit stärken und mehr Menschen vor Menschenrechtsverletzungen schützen. Wir können stolz auf das sein, was wir bisher erreicht haben, aber es ist noch lange nicht genug.

Bei den vielen Amnesty-Veranstaltungen, an denen ich in den vergangenen Jahren teilgenommen habe, habe ich mich immer gefreut, wenn ich Mitglieder getroffen habe, die ich vor zwanzig oder dreißig Jahren kennengelernt habe und die immer noch aktiv sind. Wichtig ist, dass sie die gute Arbeit bewahren und fortführen, gleichzeitig aber den jüngeren Mitgliedern genug Platz zur Entwicklung ihrer eigenen Ideen und Aktionsformen lassen. Das kann Amnesty International helfen, die langjährigen Mitglieder weiter zu halten und jüngeren Mitgliedern die Chance zu bieten, ihren gleichberechtigten Beitrag zum Schutz der Menschenrechte zu leisten.

Ich war mehr als 33 Jahre bei Amnesty International. Es waren aufregende und spannende Jahre. Und die Arbeit bei Amnesty International war immer sinnvoll. Sie war ein Beitrag zur Verbesserung der Menschenrechte und zum Schutz bedrohter Menschen.


Wolfgang Grenz war von Juni 2011 bis März 2013 Generalsekretär der deutschen Sektion von Amnesty International.

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Quelle:
amnesty journal, April/Mai 2013, S. 60-62
Herausgeber: amnesty international
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Telefon: 0228/98 37 30, E-Mail: info@amnesty.de
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Juni 2013