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GRUNDSÄTZLICHES/316: Amnesty startet die Kampagne "My Body, My Rights" (ai journal)


amnesty journal 10/11/2014 - Das Magazin für die Menschenrechte

Selbst entscheiden
Wer bestimmt über meinen Körper? Amnesty startet die Kampagne "My Body, My Rights" über sexuelle und reproduktive Rechte.

von Gunda Opfer


Mit wem will ich Sex haben - sogar mit einer Partnerin oder einem Partner des gleichen Geschlechts? Wen heirate ich? Will ich dies überhaupt? Möchte ich Kinder haben? Wie viele und wann? All dies selbst zu entscheiden, gehört zu den fundamentalen Rechten eines eigenverantwortlichen Lebens. Voraussetzung dafür sind entsprechende Gesetze, Sexualaufklärung, der Zugang zu Verhütungsmitteln sowie medizinische Betreuung rund um Schwangerschaft und Geburt. Diese "sexuellen und reproduktiven Rechte" (SRR) scheinen in unserer Gesellschaft fast selbstverständlich zu sein - nicht so in zahlreichen anderen Ländern, nicht so in Deutschland bis in die jüngere Vergangenheit hinein. Dabei hat die Verweigerung von Rechten gerade im Bereich der SRR so verheerende Auswirkungen auf das Leben von Menschen.

Ein eindringliches Beispiel ist die Lage der Frauen im Jemen, einem der ärmsten Länder der Welt. Im "Gender Gap Index 2013" des Weltwirtschaftsforums, der die Gleichstellung der Geschlechter in 136 Ländern analysiert, belegt der Jemen den letzten Platz. In dem arabischen Land ist der Islam Staatsreligion. Das islamische Recht, die Scharia, prägt das Leben der Menschen und ist auch für das Familien- und Strafrecht maßgeblich. Demzufolge ist der Mann der Frau übergeordnet, die Ehefrau ist zu Gehorsam verpflichtet und der Mann hat das Recht, sie zu züchtigen. Eine Frau darf nur mit der Erlaubnis des Mannes und in Begleitung männlicher Verwandter die Wohnung verlassen. Die Zwangsverheiratung von Mädchen ist - trotz Verbots - weit verbreitet, nicht selten schon im Alter von unter zehn Jahren. Die Mädchen müssen dann die Schule verlassen und dem Ehemann beziehungsweise dessen Familie dienen. Häusliche Gewalt und frühe Schwangerschaften sind an der Tagesordnung.

Auch in Deutschland und anderen westlichen Ländern wurden Rechte, die all dies verhindern und neue Freiheiten schufen, erst mühsam erkämpft. So hatte in Bayern der Ehemann bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuchs im Jahre 1900 das verbriefte Recht, seine Frau zu züchtigen. Für ganz Deutschland wurde das Züchtigungsrecht erst 1928 explizit aufgehoben. Erst seit 1976 kann die Ehefrau frei entscheiden, ob sie berufstätig sein will. Sexuelle Aufklärung war in Deutschland bis in die fünfziger Jahre ein Tabuthema. Das änderte sich nur langsam. Seit Ende der sechziger Jahre ist Sexualkunde Unterrichtsfach, Verhütungsmittel sind heute allgemein verfügbar. Schwangerschaftsabbruch ist seit 1976 nicht mehr in jedem Fall strafbar ("modifizierte Indikationsregel", § 218). Aber erst 1997 wurde Vergewaltigung in der Ehe zum Straftatbestand.

Internationale Menschenrechtsabkommen garantieren die sexuellen und reproduktiven Rechte inzwischen in den meisten Ländern - bislang vielerorts jedoch nur auf dem Papier.

Ausgangspunkt der weltweit einsetzenden positiven Entwicklungen ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UNO von 1948, der sich alle nunmehr 193 Mitgliedsstaaten verpflichtet haben. Verbindlich oder gar einklagbar sind ihre 30 Artikel zwar nicht, ihr "moralisches Gewicht" ist dennoch hoch. Die sexuellen und reproduktiven Rechte wurden erstmals im Rahmen der UNO-Weltbevölkerungskonferenz ("International Conference on Population and Development", ICPD) 1994 in Kairo explizit formuliert. Die Delegierten hielten damals fest, dass die Stärkung von Frauen ("Empowering women") der Schlüssel zu einer gedeihlichen Entwicklung jedes Landes ist.

Sie erkannten zudem an, dass dieses "Empowering" engstens verknüpft ist mit der Bekämpfung sexueller Gewalt und der Gewährung sexueller und reproduktiver Rechte. Die Abschlussdeklaration der Konferenz enthielt denn auch einen Aktionsplan mit sehr fortschrittlichen Forderungen dazu. Die 179 Teilnehmerstaaten setzten sich also zum Ziel, diese Rechte in den Ländern zu etablieren. Für Menschen in vielen Ländern ist dies jedoch bis heute nur eine Zukunftsvision.

Die Amnesty-Kampagne "My Body, My Rights" soll einen neuen kraftvollen Anstoß geben, um die sexuellen und reproduktiven Rechte wieder vermehrt ins Blickfeld der internationalen Öffentlichkeit zu rücken. Dabei stehen vor allem junge Menschen im Fokus. Den Anlass für die Kampagne bildete die UNO-Konferenz "ICPD+20" im April 2014, auf der es galt, die Forderungen von 1994 hinsichtlich der sexuellen und reproduktiven Rechte mindestens festzuschreiben.

Amnesty richtete daher eine entsprechende Petition an die Delegierten der Konferenz. Allein die deutsche Sektion sammelte rund 16.000 Unterschriften, weltweit waren es mehr als 282.000. "Junge Menschen aus aller Welt erwarten von ihren Regierungen, dass sie ihre Rechte fördern, schützen und umsetzen", sagte Amnesty-Generalsekretär Salil Shetty, als er die Petition an UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon übergab. "Sie haben das Recht, eigenständige Entscheidungen zu treffen in Dingen, die ihren Körper, ihre Sexualität, ihre Gesundheit und damit ihre Zukunft betreffen."

Die Konferenzergebnisse wertet Amnesty International als Erfolg: So wurde nicht nur die Bedeutung der sexuellen Gesundheit und der reproduktiven Rechte für die soziale Gerechtigkeit bestätigt, sondern auch die Bekämpfung von geschlechtsspezifischer Gewalt als Voraussetzung für Entwicklung. Enttäuschend war allerdings, dass auf Betreiben des Vatikans und einiger UNO-Mitgliedsstaaten wichtige Menschenrechte aus dem Schlussdokument gestrichen wurden, wie etwa der Schutz vor Gewalt und Diskriminierung aufgrund sexueller Orientierung und Geschlechtsidentität.

Die Amnesty-Kampagne "My Body, My Rights" unterstützt auch jene Menschen, denen die Schlusserklärung der Konferenz "ICPD+20" den dringend benötigten Schutz verweigerte, also Homosexuellen, Transgender, Bisexuellen und Intersexuellen. Deren Ausgrenzung im täglichen Leben ist auch in Europa keineswegs beendet. Gleichwohl ist es anderswo deutlich schlechter bestellt. Nach Angaben der "International Lesbian and Gay Association" sind gleichgeschlechtliche Beziehungen in 76 Ländern - darunter 36 afrikanischen Staaten - illegal, in einigen werden sie sogar mit der Todesstrafe geahndet. Amnesty International zeichnete in diesem Jahr die mutige Kameruner Anwältin Alice Nkom mit dem Menschenrechtspreis der deutschen Sektion aus, in Anerkennung und zur Unterstützung ihres selbstlosen Einsatzes für LGBTI in ihrem Heimatland (siehe Amnesty Journal, 02-03/2014).

Im Rahmen der internationalen Kampagne widmet sich Amnesty zudem der Situation in einzelnen Ländern. Den Anfang bildete Nepal. Dort führen frühe und häufige Schwangerschaften, schlechte Ernährung und schwere körperliche Arbeit dazu, dass Frauen sehr häufig bereits in jungen Jahren einen gefährlichen Gebärmuttervorfall erleiden. Sie verschweigen dies jedoch aus Angst vor Gewalt und sozialer Ausgrenzung, mit oft gravierenden Folgen. Im Mai 2014 überreichte Amnesty International der nepalesischen Regierung 125.000 Unterschriften und forderte sie auf, das Problem als Folge andauernder Diskriminierung von Frauen zu begreifen und zu bekämpfen. Die Regierung hat positiv darauf reagiert.

Ein aktueller Schwerpunkt für die deutsche Sektion ist die Lage in El Salvador. Dazu wird Amnesty International im Herbst 2014 einen Bericht veröffentlichen und eine Petition starten. Gewalttaten bis hin zu Mord lassen Frauen dort in ständiger Gefahr leben. Das Totalverbot von Schwangerschaftsabbrüchen bedeutet eine zusätzliche Bedrohung ihres Lebens und ihrer Gesundheit.

Daneben richten wir den Blick auf den Maghreb: Marokko-West Sahara, Algerien und Tunesien. Dort bleiben Vergewaltiger ungestraft, wenn sie die vergewaltigte Frau heiraten. Eheliche Vergewaltigung ist nicht strafbar, wohl aber einvernehmlicher Sex unter Nicht-Verheirateten. Marokko hat nach dem Selbstmord einer vergewaltigten jungen Frau bereits erste Schritte gegen diese Missstände eingeleitet, nicht aber die anderen Maghreb-Staaten, und auch in Marokko sind die Probleme noch nicht gelöst.

Der Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen in Irland und die Lage in Burkina Faso werden 2015 in den Fokus der internationalen Kampagne rücken. In Burkina Faso hindern kulturell bedingte Normen Frauen und Mädchen daran, ihre sexuellen Rechte wahrzunehmen. Verhütungsmittel erhalten sie nur mit Zustimmung ihrer Eltern oder ihres Ehemanns und nur gegen hohe Gebühren.

Bisherige Erfolge ermutigen uns, nicht nachzulassen - auch im Kampf um die sexuellen und reproduktiven Rechte. Dass sich Beharrlichkeit lohnt, zeigt schon ein Blick auf Deutschland. Viele Freiheiten, mit denen junge Menschen heute bei uns aufwachsen, waren noch vor wenigen Jahrzehnten völlig undenkbar.


Die Autorin ist Sprecherin der Themen-Koordinationsgruppe "Menschenrechtsverletzungen an Frauen" der deutschen Amnesty-Sektion.

Weitere Informationen unter:
www.amnesty-frauen.de

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Quelle:
amnesty journal, Oktober/November 2014, S. 27-29
Herausgeber: amnesty international
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Telefon: 0228/98 37 30, E-Mail: info@amnesty.de
Redaktionsanschrift: Amnesty International, Redaktion amnesty journal,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Februar 2015

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