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GRUNDSÄTZLICHES/337: Statement von Markus N. Beeko zum "Amnesty International Report 2016/17"


Amnesty International - 22. Februar 2017

Statement von Markus N. Beeko zum "Amnesty International Report 2016/17"


Lesen Sie hier das Statement von Markus N. Beeko, dem Generalsekretär der deutschen Amnesty-Sektion, anlässlich der Vorstellung des Reports in Berlin am 21. Februar 2017:

Schauen wir auf die Entwicklungen der vergangenen Monate, lässt sich feststellen, dass die Politik von mehr und mehr Regierungen sich mehr und mehr verabschiedet von dem internationalen Grundkonsens der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Der neue Amnesty International Report, der die Menschenrechtslage in 159 Staaten dokumentiert, zeichnet dieses Jahr die weltweite Aushöhlung grundlegender menschenrechtlicher Standards nach.

Als die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vor beinahe 70 Jahren von der Staatengemeinschaft verabschiedet wurde, betonte Eleanor Roosevelt die Bedeutung der Menschenrechte "at all the small places" - "an den kleinen Orten, nahe dem eigenen Zuhause. So nah und so klein, dass diese Orte vielleicht auf keiner Landkarte der Welt gefunden werden ko. Und doch sind diese Orte die Welt des Einzelnen: Die Nachbarschaft, in der wir leben, die Schule oder die Universität, die wir besuchen, die Fabrik, der Bauernhof oder das Büro, in dem wir arbeiten. Das sind die Orte, wo jeder Mann, jede Frau und jedes Kind gleiche Rechte, gleiche Chancen und gleiche Würde ohne Diskriminierung sucht."

Dieses Gleichheitsprinzip ist eine wichtige Errungenschaft des letzten Jahrhunderts: "Menschen mögen zwar nicht gleich sein, aber ihre Rechte sind es."

Dieses grundlegende Prinzip ist akut bedroht, wenn Regierungen oder Gruppierungen mit einer "Wir gegen die Anderen"-Rhetorik zu spalten suchen. Es ist akut bedroht wenn Kritiker pauschal zu Feinden erklärt werden, denen Rechte abgesprochen werden dürfen.

Wenn bestimmte Gruppen für soziale und ökonomische Probleme verantwortlich gemacht werden - oder ihre Rechte den Interessen anderer geopfert werden.

Wenn äußeren Bedrohungen und Ängsten nicht mit der Stärkung des Gemeinwesens, sondern mit der Aufkündigung von Grundwerten und Menschenrechtsstandards begegnet wird. Wir erleben das ganz aktuell in den USA, wo die neue Regierung per Dekret Menschenrechte unterminiert und die Unabhängigkeit von Gerichten und das Prinzip der rechtsstaatlichen "Checks and Balances" in Frage stellt.

Wir beobachten dies bei der weiter dramatischen Entwicklung in der Türkei, wo die Regierung weiterhin nicht nur gegen mutmaßlich am gescheiterten Putschversuch Beteiligte, sondern auch massenhaft gegen friedliche Regierungskritiker vorgeht. Etwa 40.000 Personen befinden sich weiterhin in Untersuchungshaft. Besonders die schwächsten Gruppen der Gesellschaft haben darunter zu leiden, wenn der Staat seiner Schutzfunktion für alle Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen nicht gerecht wird.

Auf den Philippinen startete die Regierung von Präsident Duterte im Juli 2016 eine "sogenannte Anti-Drogen-Kampagne", die zu einer Welle rechtswidriger Tötungen im ganzen Land führte und vor allem die Ärmsten der Bevölkerung traf. Duterte hatte wiederholt und öffentlich seine Unterstützung für die Tötung von Menschen bekundet, die verdächtigt wurden, Drogen zu konsumieren oder zu verkaufen. 2016 wurden über 7.000 Menschen - unter ihnen auch Kinder - auf Verdacht hin erschossen, vielfach wurden Beweismittel gefälscht; Auftragsmörder sollen "Kopfgeld" von offiziellen Stellen erhalten haben. Amnesty hat vor kurzem hierzu einen Bericht vorgelegt.

In Indien werden indigenen Minderheiten wie den Adivasi, grundlegende Rechte verwehrt. Sie werden immer wieder rechtswidrig aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben, weil sie staatlichen Investitionsprojekten weichen sollen. Aktivisten und Anwälte, die sich für ihre Rechte einsetzen oder Journalisten, die über Schikanen und Polizeigewalt gegen Adivasi berichten, werden selbst bedroht und inhaftiert.

Umwelt- und Landrechtsaktivisten waren 2016 weltweit an vielen Orten Repressalien ausgesetzt. Insbesondere Honduras blieb für sie eines der gefährlichsten Länder Lateinamerikas. Allein dort bezahlten 9 Aktivisten ihr friedliches Engagement im vergangenen Jahr mit dem Tod. Prominentester Fall war der von Berta Káseres, Sprecherin und Gründungsmitglied der Indigenenorganisation COPINH, die am 3. März 2016 in ihrem Haus erschossen wurde. Wie viele andere Aktivistinnen war sie zuvor fortlaufend bedroht und angegriffen worden. Schutz und Aufklärung der Übergriffe haben alle von staatlicher Seite nicht erfahren. Stattdessen haben sich die Verleumdungskampagnen gegen Menschenrechtsverteidigerinnen zu Beginn dieses Jahres noch einmal verschärft.

In 22 Ländern hat Amnesty International im Jahr 2016 Morde an Menschen dokumentiert, die nichts anderes taten als sich friedlich für die Menschenrechte einzusetzen. Auch in zahlreichen EU-Staaten wurden 2016 grundlegende Standards ausgehöhlt oder Bevölkerungsgruppen stigmatisiert.

So wurden in einigen europäischen Ländern die Hürden für Notstands-Regelungen gesenkt. Neue Antiterrorgesetze erlauben teilweise ohne die notwendige rechtsstaatliche Kontrolle die massive Einschränkung von Grundrechten.

In Frankreich wurden mit der fünften Verlängerung des Ausnahmezustandes im Juli 2016 unter anderem wieder Hausdurchsuchungen ohne vorherige richterliche Genehmigung eingeführt. Alarmierend ist der diskriminierende Charakter einiger Gesetze und Maßnahmen: So erlaubt Polens neues Antiterrorgesetz den Behörden dezidiert ein diskriminierendes Vorgehen gegen nicht-polnische Staatsangehörige: Diese dürfen ohne jede richterliche Anordnung oder Kontrolle über einen Zeitraum von drei Monaten verdeckt überwacht werden, ihre Gespräche und elektronische Kommunikation abgehört und erfasst werden.

In zahlreichen EU-Mitgliedsstaaten wurde über neue Überwachungsgesetze auch der Weg für anlasslose Massenüberwachung frei gemacht. Dies geschah oft unter Missachtung von jüngeren Urteilen des Gerichtshofes der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Diese haben die notwendigen Voraussetzungen und Genehmigungsvorbehalte für die Überwachung und Erfassung von persönlichen Daten klar hervor gehoben. Dennoch verabschiedete Grossbritannien ein neues Überwachungsgesetz, dass Behörden befugt künftig die gesamte digitale Kommunikation einer Person abzufangen, einzusehen, zurückzuhalten oder in anderer Weise zu manipulieren, ohne dass ein stichhaltiger Verdacht gegen diese vorliegt - eine massive Verletzung des Rechts auf Privatsphäre.

Wenn Länder ihren Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten mehr und mehr weitreichende Befugnisse ohne die notwendige rechtsstaatliche richterliche Kontrolle einräumen, so unterscheiden sie sich weniger und weniger von "Überwachungsstaaten".

2016 war auch das Jahr, in dem die internationale Gemeinschaft eklatant versagte beim Schutz von Männern, Frauen und Kindern, die in größter Not Hilfe und Zuflucht suchen.

Mindestens 36 Länder haben im Jahr 2016 nach Amnesty-Recherchen internationales Recht verletzt, indem sie Schutzsuchende in Länder zurücksandten, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen und Gefahr für Leib und Leben drohten.

Auch die EU behandelte die zunehmende Zahl an Flüchtlingen und Migranten vor allem als "Migrationsproblem", das man über Kooperationen mit Herkunfts- und Transitländern weitestgehend auslagern möchte.

Unter die Räder gerät dabei das Recht "Asyl zu suchen", das Menschenrecht, welches Menschen Schutz gewährt auf der Flucht vor Verfolgung und Vertreibung. Es fehlt weiterhin an einer aktiven EU-Flüchtlingspolitik, die den Schutz und sichere Zugangswege für Flüchtlinge in den Fokus stellt - und die nicht vorrangig nur in der Kategorie "Migrationskontrolle" denkt.

Hier muss Europa seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen treu bleiben. Grundlage jeder internationalen Kooperation müssen verbindliche Menschenrechtsstandards sein, deren Umsetzung kontrolliert wird. Dazu gehören unter anderem das Recht auf ein faires Asylverfahren sowie keine pauschalen Inhaftierungen von Flüchtlingen.

Die jüngst vereinbarte Zusammenarbeit der EU mit Libyen gibt deshalb Grund zur Sorge. Das Land ist politisch und militärisch zersplittert. Flüchtlinge und Migrantinnen werden in Libyen in Haftzentren gebracht, wo sie oft auf unbestimmte Zeit ohne Kontakt zur Außenwelt und unter unwürdigen Bedingungen festgehalten werden. Es existiert kein Asylsystem. Angehörige der libyschen Küstenwache machen immer wieder von ihren Schusswaffen Gebrauch und misshandeln Flüchtlinge und Migranten.

Durch Kooperationen wie diese nimmt die Europäische Union schwere Menschenrechtsverletzungen wissentlich in Kauf. Die EU darf ihre Verantwortung für den Schutz von Menschen nicht an Länder abgeben, in denen grundlegende Menschenrechtsstandards missachtet werden.

Ebenso darf sie Menschen nicht in Länder zurückschicken, in denen ihnen Menschenrechtsverletzungen drohen. Dies trifft auch auf Afghanistan zu, wo sich die Lage im vergangenen Jahr noch einmal deutlich verschlechtert hat. Die derzeitige Situation erlaubt nach unserer Einschätzung keine Abschiebungen nach Afghanistan.

Die Missachtung der Werte der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde offenkundig in einem Jahr, in dem die Bombardierung von Krankenhäusern in Syrien und dem Jemen zur Routine wurde, in dem flüchtende Menschen in Konfliktzonen zurückgedrängt wurden, in dem die Weltgemeinschaft vor den zahlreichen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ob in Afrika, oder dem Nahen Osten, die Augen verschloss.

Der Amnesty Jahres-Report 2016 weist Kriegsverbrechen in 23 Ländern nach.

Die Erosion menschenrechtlicher Standards bildet sich auch ab in der Schwächung internationaler Institutionen. Der UN-Sicherheitsrat zeigte sich entscheidungsunfähig, und zahlreiche Staaten - darunter Russland - wenden sich vom wichtigen internationalen Strafgericht in Den Haag ab.

Eine globalisierte Welt kann aber nicht ohne globale Menschenrechtsstandards funktionieren. Sie sind eine wesentliche Grundlage für Freiheit, Frieden und Sicherheit. Wenn mehr und mehr Staaten den politischen Willen vermissen lassen, die Menschenrechte zu schützen, dann droht ein Domino-Effekt.

Zu Beginn des Jahres 2017 scheinen wir alle gefragt, als Bürger, Wähler und Aktivisten. Um noch einmal Eleanor Roosevelt zu zitieren: "Wenn die betroffenen Bürger nicht selbst aktiv werden, um diese Rechte in ihrem persönlichen Umfeld zu schützen, werden wir vergeblich nach Fortschritten in der weiteren Welt suchen."

In der Zukunft wird es darauf ankommen, dass Menschen weltweit für die Stärkung der Menschenrechte - im eigenen Land, wie im Ausland - eintreten.

Wir erleben eine kritische Zeit, in der es gilt, historische Errungenschaften wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte entschlossen zu verteidigen.


Weitere Informationen finden Sie "Amnesty International Report 2016/17" auf:
www.amnesty.de/report

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Quelle:
Statement vom 21. Februar 2017
https://www.amnesty.de/2017/2/22/statement-von-markus-n-beeko-zum-amnesty-international-report-201617?destination=node%2F33323
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Februar 2017

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