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MELDUNG/294: Türkei - Bundesregierung muss Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention einfordern


Amnesty International - Pressemitteilung vom 27. September 2018

Besuch des türkischen Präsidenten in Berlin: Bundesregierung muss die Gelegenheit nutzen, die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention einzufordern

Statement von Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland, anlässlich des Staatsbesuchs von Präsident Erdoğan


BERLIN, 27.09.2018 - "Die deutschen Gesprächspartner der türkischen Delegation, allen voran Bundespräsident und Bundeskanzlerin, sind aufgefordert, in allen Gesprächen vorrangig die dramatische Menschenrechtssituation in der Türkei zu thematisieren. In der Türkei werden über die letzten Jahre grundlegende Menschenrechte massiv und systematisch verletzt. In einer solchen Situation muss ein Staatsbesuch genutzt werden, mit aller Deutlichkeit für alle willkürlich und unschuldig inhaftierten Menschen einzutreten."

Mehr als 150 Journalisten sitzen zurzeit in türkischen Gefängnissen - das sind mehr als in jedem anderen Land der Welt. Wer sich kritisch gegenüber der Regierung äußert, muss damit rechnen, jederzeit festgenommen zu werden. Hunderte Nichtregierungsorganisationen und Medienhäuser wurden in den vergangenen zwei Jahren geschlossen. Friedliche Proteste werden unterdrückt. Die türkische Regierung verbreitet so ein Klima der Angst und bringt kritische Stimmen zum Schweigen.

"Deniz Yücel Peter Steudtner und mein Kollege Taner KÕlÕç sind zwar frei, aber Tausende warten weiter hinter Gittern auf ihre Anklage oder ihr Verfahren. Die Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit bleibt massiv eingeschränkt. Wenn die türkische Regierung einen Neuanfang der internationalen Beziehungen will, so muss sie als Erstes ihre internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen erfüllen. Die Instrumentalisierung der Justiz muss beendet, willkürlich Verhaftete frei gelassen und die Europäische Menschenrechtskonvention eingehalten werden", sagt Beeko. "Die Bundesregierung muss den Besuch von Präsident Erdoğan nutzen, um von der türkischen Regierung die Einhaltung ihrer menschenrechtlichen Verpflichtungen zu fordern."

Mit Blick auf die angespannte Lage in Syrien sagt Beeko: "Die Türkei steht in der Pflicht, den Menschen auf der Flucht vor den Angriffen in der syrischen Region Idlib sichere Zuflucht auf türkischem Boden zu gewähren. Die Internationale Gemeinschaft - und damit auch Deutschland - dürfen die Türkei dann nicht alleine lassen, die Geflüchteten angemessen unterzubringen und zu versorgen", so Beeko.

Zur Lage der Menschenrechte in der Türkei

• Am 20. Juli 2016 wurde infolge des gewaltsamen Putschversuchs in der Türkei der Ausnahmezustand ausgerufen. Bis zu seiner Aufhebung im Juli 2018 kam es siebenmal zu einer Verlängerung um jeweils drei Monate. Der Ausnahmezustand hat der türkischen Regierung weitreichende Eingriffsmöglichkeiten an die Hand gegeben, um scharf gegen die Zivilgesellschaft vorzugehen, das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren zu unterlaufen und Menschen willkürlich festzunehmen und strafrechtlich zu verfolgen. Es kam zu Folter und anderen Misshandlungen, massiven Einschränkungen der Rechte auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit sowie zu Massenentlassungen. Umfassende Regierungsbefugnisse wurden durch den immer wieder verlängerten Ausnahmezustand verfestigt. Auch wenn dieser inzwischen aufgehoben wurde, haben viele der Maßnahmen weiterhin Bestand. Die Zivilgesellschaft steht unvermindert unter enormem Druck.

• Mehr als 70.000 Menschen warten derzeit im Gefängnis auf ihre Anklage oder ihr Gerichtsverfahren. Über 130.000 Angehörige des öffentlichen Dienstes, darunter auch Gewerkschafter und Menschenrechtler, wurden fristlos entlassen.

• Mehr als 150 Medienschaffende sind derzeit in der Türkei inhaftiert.

• Über 170 Medienhäuser wurden unter dem Ausnahmezustand geschlossen; in vielen Fällen wurden die Vermögenswerte beschlagnahmt.

• Mehr als 1.500 Verbände und Stiftungen mussten ihre Arbeit einstellen.

• Über 360 Akademiker wurden wegen der Unterzeichnung einer Petition für den Frieden strafrechtlich verfolgt.

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Quelle:
Pro Asyl - Pressemitteilung vom 27. September 2018
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. September 2018

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