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EUROPA/476: Innenministerkonferenz in Bremerhaven - CDU-Flüchtlingskonferenz ist erbarmungslos


Presseerklärung vom 4. Juni 2009

Innenministerkonferenz in Bremerhaven (4./5.6.)

"Erbarmungslose CDU-Flüchtlingspolitik verhöhnt Prinzipien christlicher Nächstenliebe"
Keine Abschiebung von langjährig Geduldeten und ihren in Deutschland aufgewachsenen Kinder!


Die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) hat die Ankündigung von Unionspolitikern, bei der am heutigen Donnerstag in Bremerhaven beginnenden Innenministerkonferenz gegen eine Liberalisierung der Ausländergesetze zu stimmen, als "Verhöhnung der Prinzipien christlicher Nächstenliebe" bezeichnet. "Als in Niedersachsen beheimatete internationale Menschenrechtsorganisation schämen wir uns vor allem für die erbarmungslose Haltung des niedersächsischen Innenministers Uwe Schünemann (CDU), der sich "nicht länger als fünf Minuten" mit dem Flüchtlingsthema befassen und so kaltherzig über das Schicksal von 110.000 Menschen entscheiden will", kritisierte der GfbV-Vorsitzende Tilman Zülch. Für die weit mehr als 30.000 Kinder und Jugendlichen unter diesen Flüchtlingen, deren Zuhause Deutschland sei, weil sie hier geboren, zur Schule und Universität gegangen seien und deren Muttersprache Deutsch sei, werde eine Abschiebung in das Herkunftsland ihrer Eltern eine Deportation ins "Nichts".

Der Menschenrechtler überreicht - begleitet von zwei Flüchtlingsfamilien aus Syrien und dem Kosovo - den Innenministern und -senatoren am Donnerstagnachmittag einen Appell, den langjährig in Deutschland geduldeten Flüchtlingen und ihren "deutsch gewordenen" Kindern endlich Bleiberecht einzuräumen.


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ES FOLGT DER APPELL DER GFBV IM WORTLAUT:


Täglich Flüchtlingskinder ins "Nichts" deportieren, aber klagen über unser kinderloses Land!

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrter Herr Minister Schäuble, sehr geehrter Herr Minister Steinmeier,
sehr geehrte Herren Innenminister und -senatoren,

Deutschland könnte für nicht wenige Länder in vieler Hinsicht Vorbild sein, was das Zusammenleben Menschen verschiedener Herkunft betrifft. Unser Land hat in den vergangenen Jahrzehnten viele Verfolgte aufgenommen.

Doch das darf nicht Anlass zur Selbstgerechtigkeit sein. Wir haben den Eindruck, dass die Mehrheit unserer Politiker und Parlamentarier, insbesondere auch die meisten deutschen Innenminister, die Augen verschließen vor den Problemen einer Gruppe von etwa 100.000 Menschen, die bei uns - meist als Flüchtlinge - eine neue Heimat suchten, seit acht, zehn, fünfzehn oder mehr Jahren unter uns leben und denen man dennoch kein wirkliches Heimatrecht gewährt. Sie sind Roma und Aschkali aus dem Kosovo, Kurden, Bahai, Yeziden, christliche Assyrer, Chaldäer, Aramäer und Armenier, Aleviten oder Mandäer aus dem Nahen Osten, Tschetschenen aus der Russischen Föderation oder Afghanen, die den Taliban oder zuvor der sowjetischen Armee entkommen sind.

Woche für Woche sind wir als Mitarbeiter der Gesellschaft für bedrohte Völker mit dem Schicksal diese Menschen konfrontiert. Sie werden seit Jahren nur geduldet, oft sogar für jeweils nur einen Monat oder ein Vierteljahr. Sehr lange wurde ihnen die Arbeitserlaubnis vorenthalten, und ihre Bewegungsfreiheit ist bekanntlich seit Jahren an ihren Aufnahmeort oder -kreis gebunden.

Unter diesen Flüchtlingen befinden sich Zehntausende Kinder, die hier geboren oder hier aufgewachsen sind. Sie sprechen Deutsch de facto als Muttersprache, oft mit diesem oder jenem regionalen Akzent. Unsere deutsche Gesellschaft hat sie ethnisch und kulturell zu Deutschen gemacht. Die meisten dieser Kinder und Jugendlichen haben keine wirkliche Verbindung mehr zur Heimat der Eltern. Aber Deutschland verweigert ihnen die Staatsbürgerschaft.

Lehrer, Sozialarbeiter, Geistliche, christliche Gemeinden, Flüchtlingsräte, Menschenrechtler und viele andere Bürger haben unendlich viel, materiell und ideell, für ihre Integration geleistet. Und doch sollen die meisten von ihnen bald abgeschoben werden. Ökonomisch ausgedrückt bedeuten diese Abschiebungen auch die Verschleuderung des eingesetzten Kapitals.

Viele dieser Abschiebungen, für die Kinder und Jugendlichen ohnehin, werden zu Deportationen ins Nichts. Diese kulturell und sprachlich eigentlich Deutschen haben in der früheren Heimat ihrer Eltern in der Regel keine Chance. Zudem kommen sie fast immer aus Kriegs-, Genozid- oder Verfolgungssituationen.

Benutzt man dann den Ausdruck Deportation für viele dieser Fälle, erschrecken Innenminister und Ausländerbehörden. Das aber zu recht, denn dem Völkermord und anderen Verbrechen des Nationalsozialismus gingen solche Abschiebungen von Menschen voran, die lange Jahre im Deutschland der Weimarer Republik gelebt hatten.

Schließlich ist Deutschland ein Land der Flüchtlinge und Vertriebenen. Es hat nach dem Zweiten Weltkrieg 14 Millionen von ihnen aufgenommen, dazu etwa vier Millionen Flüchtlinge aus der SBZ/DDR, die in die damalige Bundesrepublik flüchteten, und dann noch Millionen deutsche Aussiedler aus Osteuropa, unter ihnen die Russlanddeutschen, die bis heute vielfach über Diskriminierung klagen.

Doch in jedem Fall ist die Weigerung heute, diese 100.000 Flüchtlinge aufzunehmen, ein Traditionsbruch und ein kaltherziges Spiel mit Menschenschicksalen.

Als Politiker klagen Sie über zu wenig Kinder in Deutschland. Warum wollen Sie dann Woche für Woche, Monat für Monat gut integrierte Kinder abschieben? Warum machen Sie "deutsch gewordene" Kinder und Jugendliche für ihr Leben unglücklich und vertreiben sie aus ihrer Heimat?

Sie trennen sogar nicht selten Väter von Müttern, Eltern von Kindern, Kinder von Geschwistern. Sie deportieren Kinder, Kranke und Alte. Sie machen aus Deportationen "freiwillige Rückkehr". Sie erfinden Behandlungs- und Heilmöglichkeiten, die es in vielen der Abschiebeländer gar nicht gibt. Ihre Abschiebungen werden in diesen Fällen dann auch zu Verbrechen an diesen Familien.

Deshalb bitten wir Sie, geben Sie endlich diesen 100.000 Menschen, diesen seit vielen Jahren in Deutschland ansässigen Familien und ihren Kindern, denen nur die deutsche Staatsbürgerschaft fehlt, ein dauerhaftes Bleiberecht und ermöglichen Sie eine schnelle Einbürgerung. Deutschland braucht diese Menschen. Es darf diesen Kindern nicht länger Unrecht tun! Doch geben Sie dabei allen Betroffenen diese Rechte. Schließen Sie nicht Menschen aus, die von Sozialhilfe leben müssen, nachdem Sie ihnen jahrelang in den meisten Bundesländern die Arbeitserlaubnis verweigert und ihren Kindern dieWeiterbildung nach der Schule meistens versagt haben.

Die Gesellschaft für bedrohte Völker fordert:

Alle Flüchtlinge, die langjährig in Deutschland leben, müssen eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis erhalten.
Für sie müssen Aufenthalts- und Arbeitsmarktbeschränkung aufgehoben werden.
Familien dürfen nicht auseinandergerissen werden.
Ihren Kranken, traumatisierten, alten und pflegebedürftigen Angehörigen muss ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht gewährt werden.
Alle Kinder und Jugendliche in Deutschland sollen endlich gleiche Chancen bekommen. Diesen diskriminierten Flüchtlingskindern muss umgehend die deutsche Staatsbürgerschaft gewährt werden.

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Quelle:
Presseerklärung Bremerhaven/Göttingen, den 4.06.2009
Herausgeber: Gesellschaft für bedrohte Völker e. V.
Postfach 20 24, D-37010 Göttingen,
Tel.: 0551/49906-25, Fax: 0551/58028
E-Mail: presse@gfbv.de
Internet: www.gfbv.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2009