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ATTAC/599: Alternativer ECOFIN endet mit gemeinsamer Abschlußerklärung


Attac Deutschland - Pressemitteilung vom 23. April 2007

* Breites Bündnis für Umkehr der EU-Wirtschaftspolitik

* 2. Alternativer ECOFIN endet mit gemeinsamer Abschlusserklärung


Mit mehr als 300 Teilnehmern ist am Sonntag der 2. Alternative ECOFIN in Berlin zu Ende gegangen. In einer gemeinsamem Abschlusserklärung fordern die Veranstalter - ein breites Bündnis aus Gewerkschaften, Globalisierungskritikern, Verbänden, Umwelt- und Entwicklungsorganisationen - eine radikale Umkehr in der Wirtschaftspolitik der Europäischen Union. "Der Versuch, die europäische Einigung unter neoliberalem Vorzeichen fortzuführen, findet keine gesellschaftliche Akzeptanz mehr - er gefährdet vielmehr das gesamte europäische Projekt", heißt es in der Erklärung. Die Orientierung auf ein markt- und elitenfixiertes Integrationsmodell habe Europa in eine tiefe Krise geführt. Notwendig sei stattdessen ein offener und demokratischer Prozess, der zu einem ökologisch und sozial gestalteten Europa führt.

Der Erklärung ist verfasst worden von Attac, dem BUND, der Euro-Memorandum-Gruppe, den Gewerkschaften IG Metall und Verdi sowie der entwicklungspolitischen Organisation WEED. "Diese neue Übereinstimmung zwischen den Organisationen ist als großer Erfolg zu werten. Damit hat die zivilgesellschaftliche Opposition gegen die derzeitige, neoliberal ausgerichtete EU eine neue Qualität erreicht", sagte Sven Giegold vom Attac-Koordinierungskreis.

Die Unterzeichner sind sich einig in ihrer Ablehnung der Lissabon-Strategie. Diese habe die Angebotsorientierung in der Wirtschafts- und Sozialpolitik weiter verschärft, Ziele wie Vollbeschäftigung, Armutsreduzierung und Umweltschutz seien aus der politischen Praxis weitestgehend verbannt worden. Der EU - und innerhalb dieser in besonderem Maße Deutschland - komme zunehmend die internationale Rolle als Globalisierungsverschärferin zu.

Auch die neue Strategie zur Handelspolitik der EU ("Global Europe - Strategie zur externen Wettbewerbsfähigkeit") stößt auf scharfe Kritik. Ziel dieser aggressiven Außenhandelspolitik ist die Durchsetzung weitreichender WTO-plus-Regeln gegenüber Entwicklungs- und Schwellenländern. "Damit einher geht eine verschärfte Anpassung EU-interner Regeln und politischer Prozesse an die Bedürfnisse weltmarkt-orientierter Konzerne ohne soziale und ökologische Regulierungen", heißt es in der Erklärung. Die derzeit verhandelten bilateralen Handelsabkommen (Economic Partnership Agreements - EPA) mit den 78 so genannten AKP-Staaten (Afrika, Karibik, Pazifik) seien mit einer solidarischen Handelspolitik gegenüber Entwicklungsländern nicht vereinbar.

Die Verfasser der Erklärung fordern Volksabstimmungen über einen neuen, demokratischen EU-Vertrag. Auch dies ist in diesem Bündnis ein Novum.

Informationen im Internet:
http://www.alternativer-ecofin.org/


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Abschlusserklärung zum 2. Alternativen ECOFIN
in Berlin vom 20./21. April 2007

'Berliner Deklaration'

Parallel zum 'informellen' ECOFIN-Rat der Wirtschafts-und Finanzminister der EU hat in Berlin der 2. Alternative ECOFIN getagt. Der alternative ECOFIN greift die Impulse der Vorgängerkonferenz und 'Wiener Deklaration' vom April 2006 auf. Ein einiges, wirtschaftlich erfolgreiches, friedliches, solidarisches und ökologisch nachhaltiges Europa ist zu wertvoll, um es der Politik der Regierungen und der EU-Institutionen zu überlassen. Die Orientierung auf ein markt- und elitenfixiertes Integrationsmodell hat Europa in eine tiefe Krise geführt. Deshalb melden wir uns zu Wort. Im Zusammenwirken von Gewerkschaften, sozialen und ökologischen Bewegungen sowie kritischer Wissenschaft wollen wir in einem offenen und demokratischen Prozess zu einem Umsteuern beitragen und erneuern unsere Forderungen nach einem ökologisch und sozial gestalteten Europa.


1. Die gegenwärtige Krise der EU

Das historisch fortschrittliche Projekt der europäischen Integration wird seit Mitte der 1980er Jahre zunehmend neo-liberal deformiert. Die von den EU-Organen und den meisten Mitgliedsstaaten vorangetriebene Wirtschafts-und Finanzpolitik setzt einseitig auf Deregulierung, Liberalisierung und Privatisierung. Statt die kontraproduktive Wirkung dieses Ansatzes auf die erklärten EU-Ziele zu überdenken, reagierte die Politik mit einer Erhöhung der Dosis: Bei der Lissabon-Strategie der EU wurde die schon zu Beginn vorhandene Tendenz in Richtung einer angebotsorientierten Wirtschafts- und Sozialpolitik weiter betont und die verbal noch vertretenen Ziele Vollbeschäftigung, Armutsreduzierung und Umweltschutz aus der politischen Praxis weitestgehend verbannt. Gegenüber den Skandalen von Massenerwerbslosigkeit und Armut in der Wohlstandsregion Europa betreibt die EU viel verbalen Aufwand, aber keine energische Politik. Dabei zeigt das Beispiel der skandinavischen Länder, dass im Sinne sozialer Solidarität, ökologischer Nachhaltigkeit und ökonomischer Leistungsfähigkeit auch in Zeiten der Globalisierung große Handlungsspielräume bestehen. Aber der ECOFIN-Rat stimmt eine Wirtschafts-und Finanzpolitik der EU ab, die die internationale Rolle der EU als 'Globalisierungsverschärfer' weiter zuspitzt.

Dadurch entstehen auch innerhalb Europas immer bedrohlichere Ungleichgewichte, die dann innergesellschaftlich zu sozialer Ausgrenzung und Polarisierung führen. Diese Fehlentwicklung ist ganz entscheidend von einem aggressiv auf hohe Exportüberschüsse fixierten, "räuberischen" Deutschland geprägt worden. Der deutschen Position als Exportweltmeister stehen wachsende Leistungsbilanzdefizite vieler Mitgliedsländer gegenüber. Die deutsche Wirtschafts-und Sozialpolitik der letzten Jahre kann deshalb kein Modell für Europa sein. Auf Dauer bedrohen derartige Ungleichgewichte nicht nur den wirtschaftlichen, sondern auch den politischen Zusammenhalt Europas. Die deutsche EU-Präsidentschaft - und die parallele G8 Präsidentschaft Deutschlands - verschärfen diese negativen Tendenzen weiter:

o An die Stelle einer Einbindung der Finanzmärkte in die Entwicklung der Realwirtschaft tritt weitere Liberalisierung im Interesse der Finanzkonzerne.

o Ein neuer Privatisierungsschub und die Erosion der Steuerbasis bedrohen die ohnehin geschwächten öffentlichen Leistungen und Räume und verstärken damit bestehende Geschlechterungerechtigkeiten. Ganze Finanzierungskreisläufe - wie etwa die umlagefinanzierten Pensionssysteme - sollen europaweit den Anlagestrategien des privaten Kapitals preisgegeben werden.

o Mit der Umsetzung der neuen handelspolitischen 'Global Europe'-Strategie planen Deutschland und die EU die Durchsetzung weitreichender 'WTO-plus'-Regeln gegenüber Entwicklungs-und Schwellenländern. Damit einher geht eine verschärfte Anpassung EU-interner Regeln und politischer Prozesse an die Bedürfnisse weltmarktorientierter Konzerne ohne soziale und ökologische Regulierungen.

o Anstatt die sich immer weiter verschärfende ökologische Krise wirklich durch sozialökologische Umbaumaßnahmen am "europäischen Haus" anzugehen, beschränkt sich die EU bislang auf Ankündigungen und halbherzig verfolgte Strategien.

o Statt zu versuchen, das weltpolitische Engagement der EU strikt auf nichtmilitärische Politik zur Friedenssicherung und Entwicklungshilfe zu konzentrieren, unterstützt auch die deutsche Präsidentschaft die Forderungen nach einem weiteren Ausbau der militärischen Fähigkeiten der EU.

o Anstatt sich innerhalb des UN-Systems dem neoliberale Washington Consensus entgegenzustellen und einen neuen, entwicklungs- und umweltgerechten Multilateralismus zu schaffen, verfolgt die EU zunehmend selbst eine bilaterale Agenda in der internationalen Politik, durch die dieses destruktive Regulierungsmodell noch schärfer durchgesetzt wird.

Der Versuch, die europäischen Einigung unter neoliberalen Vorzeichen fortzuführen, findet keine gesellschaftliche Akzeptanz mehr - er gefährdet vielmehr das gesamte europäische Projekt. Angesichts der gravierenden Fehlentwicklungen der offiziellen EU-Politik geht es für uns um Protest und politische Alternativen.


2. Unsere Alternativen

Wir wollen die Schlagseite einer vor allem an kurzfristigen Renditeinteressen ausgerichteten und von den politischen Eliten ohne wirksam demokratische Kontrolle bestimmten EU überwinden. Eine wirklich "moderne Finanz-und Wirtschaftspolitik", muss die folgenden Elemente umfassen:

o Wirksame Schritte in Richtung einer koordinierten europäischen Politik der existenzsichernden, menschenwürdigen Vollbeschäftigung: Begrenzung und Verkürzung der Arbeitszeit, öffentliche Zukunftsinvestitionen, insbesondere in den Bereichen des sozialökologischen Umbaus, der Erarbeitung und Vermittlung von Wissensgrundlagen und der sozialen und kulturellen Dienstleistungen, sowie eine selektiv wirkende Makropolitik, die zugleich gezielt die vorrangigen Zukunftsaufgaben eines sozialökologischen Umbaus angeht, bilden die wesentlichen Achsen eines Richtungswechsels, der den lähmenden und einschüchternden Druck von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung von allen ArbeitnehmerInnen nehmen kann.

o Strategien zu einem grenzübergreifenden Ausbau der sozialen Sicherheit, die der Verarmung und Prekarisierung gezielt entgegenwirkt: Dazu sollte die Politik in einer neuen, veränderte Geschlechter-und Generationenverhältnisse berücksichtigenden Weise an Forderungen nach Mindeststandards und -entgelten anknüpfen. Sie sollte bindende soziale Korridore für Steuer- und Sozialstandards je nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit der Staaten beschließen - mit dem Ziel ihrer mittelfristigen Konvergenz nach oben. Zugleich sind öffentliche Leistungen und Räume als ein wichtiger Faktor sozialen Ausgleichs zu begreifen und durch eine Erneuerung öffentlicher Dienste und Unternehmen zu stärken.

o Ein koordiniertes Vorgehen der Mitgliedstaaten zur Durchsetzung von sozialer Gerechtigkeit und sozialer Kohäsion: Die Mitgliedstaaten der EU sollten sich endlich auf wirksame Maßnahmen gegen den Steuerwettbewerb einigen. Sie allein können die "Finanzierungsgrundlagen der staatlichen Aufgabenwahrnehmung" langfristig sichern. Dazu gehören die Festsetzung von einheitlichen Mindeststeuersätzen und einer einheitlichen Bemessungsgrundlage, sowie die Bekämpfung der Steuerflucht. Zugleich ist sicherzustellen, dass die sozialen und ökologischen Folgewirkungen der verschärften Binnenmarktkonkurrenz auch grenzübergreifend durch entsprechende Transferzahlungen kompensiert werden. Als ein erste Schritte dazu wären etwa eine Devisentransaktionssteuer sowie eine europäische Kerosinsteuer zu erheben und direkt für europäische Transferzahlungen zur Kompensation von 'Klimaschäden' einzusetzen.

o Die Nachhaltigkeitspolitik der EU neu definieren und konkreter umsetzen: Bisher begnügen sich die maßgeblichen Kräfte in der EU mit einem grundsätzlichen Bekenntnis zu den Zielen einer ökologisch, sozial und ökonomisch nachhaltigen Entwicklung. In der konkreten Gesetzgebung bleiben die EU und die Mitgliedsstaaten aber weit hinter den Zielen zurück Der Ausstoß der Treibhausgase muss bis 2020 auf der Basis von 1990 in der EU um 30 Prozent und in Deutschland um 40 Prozent verringert werden. Dafür sind u.a. folgende Maßnahmen auf EU-Ebene erforderlich: Ausbau der erneuerbaren Energien, Aufbau einer dezentralen und effizienten Energieversorgung, Wärmedämmung von Gebäuden, Verringerung des Kraftstoffverbrauchs der PKW, Verbrauchsstandards für Elektrogeräte. Die Steuer- und Subventionspolitik der EU muss an den Zielen nachhaltiger Entwicklung ausgerichtet werden, etwa durch den Abbau umweltschädlicher Subventionen und eine ökologische Steuerreform. Das unerlässlich gewordene Umsteuern muss an den gegenwärtigen nicht- nachhaltigen Energie- und Verkehrssystemen ansetzen und dem strukturellen Zurückbleiben ganzer Gruppen von Mitgliedstaaten entgegenwirken.

o Die globale Verantwortung der EU aktiv und kooperativ wahrnehmen: Als größter Wirtschaftsraum trägt die EU eine wesentliche Verantwortung für eine friedliche und gerechte internationale Wirtschaftsordnung. Sie sollte für die demokratische Kontrolle der internationalen Regulierungsinstitutionen, für die Erhöhung der "Finanzmarktstabilität" und generell für gleichberechtigte und faire internationale Handelsbeziehungen eintreten. Dazu gehören auch eine solidarische Handelspolitik gegenüber Entwicklungsländern und der Schutz wirtschafts- und umweltpolitischer Gestaltungsmöglichkeiten vor dem Korsett von WTO- und 'WTOplus'-Regeln. Die derzeit verhandelten bilateralen Handelsverträge mit den AKP-Staaten (EPAs) sind damit nicht vereinbar. Ferner bedarf es der Neuausrichtung der Entwicklungskooperation auf die Förderung eigenständiger Strategien der Entwicklungsländer zur Überwindung von Armut und Hunger sowie der Durchsetzung der Kernarbeitsnormen der ILO und verbindlicher internationaler Verhaltensstandards für Unternehmen. Das Öffentliche Beschaffungswesen der EU und aller Mitgliedstaaten sollte konsequent zur Stärkung sozialer, ökologischer, fairer und entwicklungsgerechter Produktion innerhalb und außerhalb Europas genutzt werden.


3. Blockaden überwinden - Grundlagen der europäischen Integration neu bestimmen

Anstatt die überkommene und verfehlte Politik fortzuschreiben - wie dies das ECOFIN-Programm für die deutsche EU-Präsidentschaft 2007 getan hat - ist es längst überfällig, die Fixierung der offiziellen wirtschafts- und finanzpolitischen Debatte in Europa auf Liberalisierung und Deregulierung zu überwinden. Es ist vorurteilslos zu fragen, welche wirtschafts- und finanzpolitischen Strategien die Ziele einer ökologisch nachhaltigen, sozial gerechten und solidarischen und ökonomisch leistungsfähigen Entwicklung im Interesse der Menschen wirklich erreichen können. Dies erfordert auch eine neue Einbindung von Europäischer Zentralbank, ECOFIN-Rat und andere europäischen Institutionen in demokratische Politik.

Die von der deutschen Präsidentschaft beabsichtigte schnelle Wiederbelebung des gescheiterten Verfassungsentwurfs wäre für die notwendige demokratische Neubestimmung der Wirtschafts- und Sozialpolitik in Europa eine schwere Hypothek.

Die in dem Entwurf enthaltenen neoliberalen, wirtschafts- und finanzpolitischen Vorgaben sollten zurückgenommen und die soziale Dimension gestärkt werden. Die 'Berliner Erklärung' des EU-Gipfels kündigte "eine erneuerte gemeinsame Grundlage" Europas an. Dafür ist jedoch ein offener demokratischer Prozess Voraussetzung. Die darin erarbeiteten neuen Grundlagen sollten die weitere Entwicklung Europas an starke soziale und ökologische sowie geschlechtergerechte Leitplanken binden und Europas Fähigkeit zur globalen Kooperation stärken. Der Festigung des europäischen Zusammenhaltes würde es dienen, wenn die Menschen Gelegenheit erhalten, eine in diesem Prozess entwickelte konkrete Vision der europäischen Integration in Volksabstimmungen zu ratifizieren. Dies würde mehr Beteiligung und Demokratie in Europa bedeuten - und die Menschen wieder näher an die Europäische Einigung heranführen.

Berlin, 21.4. 2007

Attac, BUND, Euromemorandum, IG metall, ver.di, WEED


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Quelle:
Pressemitteilung vom 23. April 2007
Frauke Distelrath
Pressesprecherin Attac Deutschland
Post: Münchener Str. 48, 60329 Frankfurt/M
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E-Mail: presse@attac.de
Internet: http://www.attac.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. April 2007