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APPELL/049: Das Flüchtlingsdrama - ein Appell zum Umsteuern. In Europa und in Deutschland (Initiative »Europa neu begründen«)


Initiative »Europa neu begründen« - Pressemitteilung vom 14. April 2016

"Das Flüchtlingsdrama: ein Appell zum Umsteuern. In Europa und in Deutschland"


Über 70 Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens nehmen die Flüchtlingskrise zum Anlass, heute mit einem Appell zu einem politischen Kurswechsel in der europäischen und der deutschen Politik aufzurufen. Die Unterzeichnenden des Aufrufs, darunter führende Mitglieder von Gewerkschaften, Grünen, SPD und Die Linke sowie zahlreiche Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler/innen, sehen das Ziel eines freundschaftlichen Miteinanders in einem Europa der Vielfalt durch nationalistische Egoismen und menschenfeindliche Abschottungspolitik akut gefährdet. Die Flüchtlingskrise bringe politische Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit ans Licht, die jetzt fremdenfeindlichen und rechtsnationalistischen Parteien Auftrieb gäben. Wörtlich heißt es: "Dem europäischen Haus fehlt das soziale und solidarische Fundament. Und in Deutschland zeigt sich, wie falsch das starre Festhalten an einer Politik ist, der die "schwarze Null" wichtiger ist als ein zukunftsfähiges Gemeinwesen." Der Aufruf warnt vor dem Errichten eines Bollwerks gegen Menschen, die vor Verfolgung und Bombenterror flüchten: "Europa würde daran scheitern, sowohl politisch als auch moralisch."

Zu den wichtigsten Forderungen des Aufrufs gehören ein großes humanitäres Sofortprogramm Europas sowie die Förderung einer "Koalition aufnahmewilliger Länder" durch ein europäisches Sonderprogramm für Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser und Arbeitsplätze, um das sich europaweit auch Gemeinden bewerben können. An die Bundesregierung richtet der Aufruf die Forderung, vor allem die Kommunen rasch und massiv finanziell zu unterstützen, damit endlich dringende Zukunftsinvestitionen in Angriff genommen werden könnten. Wörtlich heißt es: "Die notwendigen Investitionen in die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens dürfen nicht dem Mantra der "Sparpolitik" geopfert werden."

Neben zahlreichen Wissenschaftlern gehören zu den Unterzeichnenden des Aufrufs bekannte SPD-Mitglieder wie der stellv. Parteivorsitzende Ralf Stegner und die Vorsitzende der Grundwertekommission Gesine Schwan, führende Mitglieder der Grünen wie die Parteivorsitzende Simone Peter, der Europaabgeordnete Reinhard Bütikofer und die Vizepräsidentin des Bundestages Claudia Roth, prominente Mitglieder der Linkspartei wie der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow und der Bundestagsabgeordnete und stellv. Parteivorsitzende Axel Troost sowie zahlreiche leitende Gewerkschaftsfunktionäre, darunter der ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske und die und NGG-Vorsitzende Michaela Rosenberger und weitere Vorstandsmitglieder wie Annelie Buntenbach (DGB), Wolfgang Lemb und Hans-Jürgen Urban (IG Metall) und Andreas Keller (GEW).

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Das Flüchtlingsdrama: ein Appell zum Umsteuern.
In Europa und in Deutschland


Aus dem Flüchtlingsdrama ist eine politische Zerreißprobe geworden. Das Ziel eines freundschaftlichen Miteinanders in einem Europa der Vielfalt wird derzeit zwischen nationalistischen Egoismen und menschenfeindlicher Abschottungspolitik zerrieben. Auch Deutschland steht vor einer gigantischen Herausforderung, die viele Menschen verunsichert und die nur bewältigt werden kann, wenn die politisch Verantwortlichen mutig und zielstrebig Kurs nehmen auf ein zukunftsfähiges, gerechtes und starkes Gemeinwesen. Da aber die für ein solches Umdenken und Umsteuern notwendige Konsequenz bisher fehlt, entsteht ein Klima, in dem Sorgen in Ängste verwandelt werden: vor Überforderung, Überfremdung, Übervorteilung. Das Schüren von Angst gibt rückwärtsgewandten, fremdenfeindlichen, völkischen und rechtsnationalistischen Parteien in Deutschland und anderen europäischen Ländern Auftrieb.

Aus dieser politischen Sackgasse kommen wir nur heraus, wenn wir die Flüchtlingskrise als Appell begreifen. Sie bringt die politischen Fehler und Versäumnisse der Vergangenheit schlagartig ans Licht. Der mangelnde Wille zur solidarischen Zusammenarbeit in Europa ist Ergebnis eines seit Jahren beschrittenen Weges der Europäischen Union, der die Mitgliedsländer zu Konkurrenten untereinander gemacht und zwischen Stärkeren und Schwächeren gespalten hat. Dem europäischen Haus fehlt das soziale und solidarische Fundament. Und in Deutschland zeigt sich, wie falsch das starre Festhalten an einer Politik ist, der die »schwarze Null« wichtiger ist als ein zukunftsfähiges Gemeinwesen. So führt uns die Flüchtlingskrise brutal vor Augen, wie überfällig ein radikales politisches Umsteuern ist.

Brücken statt Mauern

Kurswechsel beginnt mit einem großen humanitären Sofortprogramm Europas. Die vor Krieg und Elend Flüchtenden dürfen nicht weiterhin durch die beschämende Unterfinanzierung der UN-Hilfsorganisationen förmlich auf den Weg nach Europa gezwungen werden. Sie benötigen in ihrer Region Existenz-, Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten. Zugleich müssen endlich in enger Kooperation mit den UN geordnete Fluchtwege und legale Einreisemöglichkeiten nach Europa geschaffen werden. Die Europäische Union darf kein Bollwerk errichten gegen Menschen, die vor Verfolgung und Bombenterror flüchten, egal aus welchem Land sie kommen. Europa würde daran scheitern, sowohl politisch als auch moralisch. Politisch wird Europa seine Probleme nur lösen können, wenn es sich seiner eigenen Verantwortung für die Bekämpfung der Fluchtursachen stellt und sich nicht von Regierungen wie der in der Türkei abhängig macht. Und moralisch werden durch jede Form der völkerrechtswidrigen Abschottung die europäischen Werte mit Füßen getreten. Die UN-Flüchtlingskonvention und das Grundrecht auf Asyl sind unantastbar!

Ausbruch aus der Sackgasse der Austerität

Statt Geld in Grenzregime, Mauern und Stacheldraht zu stecken, sollte endlich konstruktiv an die Bewältigung der riesigen Herausforderung für Europa herangegangen werden. Mehr Mitgliedstaaten der Europäischen Union können ermutigt und finanziell in die Lage versetzt werden, solidarisch und entsprechend dem Völkerrecht Flüchtlinge aufzunehmen und zu integrieren. Um die Koalition der Aufnahmewilligen in Europa zu vergrößern, sollte die EU ein gemeinsames, z. B. durch Projektbonds finanziertes Sonderprogramm für Wohnungen, Schulen, Krankenhäuser und Arbeitsplätze initiieren, um das sich insbesondere aufnahmebereite Gemeinden bewerben könnten. Dies wäre zugleich ein Beitrag zu einer europäischen Investitionsinitiative, die sich nicht den von der Bundesregierung dogmatisch verteidigten Regeln des »Fiskalpakts« unterordnet - Regeln, die seit Jahren die wirtschaftliche Entwicklung in vielen Ländern Europas hemmen, soziales wie auch ökologisches Unheil vor allem in Südeuropa anrichten und zunehmend Zweifel an der demokratischen Legitimität politischer Entscheidungen wecken. Strategische Investitionen z. B. in den Klimaschutz ebnen den von der Krise am härtesten betroffenen Ländern neue Wege des ökologisch verträglichen Wachstums und sind zugleich ein wirkungsvoller Beitrag zur Bekämpfung wichtiger Fluchtursachen von morgen.

Umsteuern mit Zukunftsinvestitionen für Deutschland

Die Integration der vor Krieg, Elend und politischer Verfolgung Geflohenen in Deutschland erfordert kluges und mutiges Handeln. Sie wird dann gelingen, wenn sie Teil der Erneuerung der sozialen Infrastruktur zugunsten aller hier lebenden Menschen ist.

Als erstes müssen die Länder und vor allem die Kommunen unverzüglich vom Bund in einem Umfang finanziell unterstützt werden, der sie in die Lage versetzt, dringende Zukunftsinvestitionen in Angriff zu nehmen. Für alle heute und zukünftig in Deutschland lebenden Menschen ist es wichtig, dass unser Bildungssystem - von der Kita angefangen - modernisiert und ausgebaut wird. Wir brauchen mehr und besser bezahlte Fachkräfte in den öffentlichen Dienstleistungen und mehr bezahlbaren Wohnraum für alle in den Ballungsräumen. Die notwendigen Investitionen in die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens dürfen nicht dem Mantra der »Sparpolitik« geopfert werden. Angesichts der niedrigen Zinsen ist die Finanzierung öffentlicher Investitionen für den Staat so günstig wie noch nie. Für die Handlungsfähigkeit des Staates ist darüber hinaus das Schließen von Steuerschlupflöchern und eine gerechtere Besteuerung vor allem von Kapitaleinkünften und großen Vermögen unumgänglich. Und eine positive Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt darf nicht dadurch gefährdet werden, dass die Flüchtlingskrise für eine Absenkung von sozialen Standards wie dem gesetzlichen Mindestlohn missbraucht wird. Die schwierige Integration der Geflüchteten in den Arbeitsmarkt wird nur gelingen, wenn sie allen arbeitenden und Arbeit suchenden Menschen in Deutschland nutzt.

Wir werden daran wachsen

Die Wahlerfolge der AfD und die vielen rechtsextremen Anschläge dürfen nicht den Blick dafür verstellen, dass die große Mehrheit der deutschen Gesellschaft weiterhin von Hilfsbereitschaft und geistiger Aufgeschlossenheit geprägt ist. Das gesellschaftliche Engagement demonstriert Tatkraft und Erfindungsreichtum - allemal die stärksten Motoren für sozialen Zusammenhalt und gesellschaftlichen Fortschritt. Auf diese solidarische Zivilgesellschaft kann und muss sich eine kluge und führungsstarke Politik stützen.

Wenn wir mit Kopf und Herz umsteuern, werden wir alle daran wachsen: menschlich, gesellschaftlich und wirtschaftlich. Wenn wir jetzt in unsere Zukunft investieren, wird Deutschland in zehn Jahren ein stärkeres, ein sozial gerechteres und ökologisch nachhaltigeres Land sein, als es heute ist. Mit einem solchen Kurswechsel wird Deutschland zugleich helfen, bei uns und in anderen Ländern neues Vertrauen in die Zukunft Europas zu schaffen: Ein solidarisches, demokratisches und soziales Europa ist möglich!


Den Aufruf, die Liste der Erstunterzeichnenden sowie die Möglichkeit, den Appell zu unterzeichnen, finden Sie im Internet unter:
http://www.europa-neu-begruenden.de/

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Quelle:
Initiative »Europa neu begründen«
Internet: http://www.europa-neu-begruenden.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2016

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