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AUTOREN/022: Rüdiger Safranski über die deutsche Romantik (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2007

Geistesblitze - Teufelswerk
Rüdiger Safranski über die deutsche Romantik

Von Harro Zimmermann


Klassik sei das Gesunde, Romantik das Kranke, sagte Goethe, einigermaßen verständnislos, über die jungen Dichterkollegen, die seit Ende des 18. Jahrhunderts, in Abkehr von Klassik und Aufklärung, den neuen Geist der Zeit bestimmten. Heinrich Heine fasste sie unter dem Namen "romantische Schule" zusammen. Zu ihr gehörten einige der geistvollsten Menschen, welche die deutsche Kulturgeschichte hervorgebracht hat: von Novalis und den Brüdern Schlegel über Brentano und Arnim bis zu E.T.A. Hoffmann und Eichendorff. Die Romantiker, denen man Willkür und Formlosigkeit vorwarf, wagten Expeditionen ins Unbekannte: in das Zauberreich der Poesie und die Wunderwelt des Imaginären, aber auch in die Tiefenschichten der menschlichen Seele. Rüdiger Safranski hat nun eine große Studie über die deutsche Romantik vorgelegt. Er beschreibt sie als Ausgangspunkt der Moderne: auf einem Weg, der über Wagner, Nietzsche und Thomas Mann ins 20. Jahrhundert und bis in die Gegenwart führt: eine "deutsche Affäre".


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Keine Periode der europäischen Kultur- und Geistesgeschichte ist so sehr mit einem vermeintlichen Wesen des Deutschen verwoben worden wie die Romantik. Waldeinsamkeit und verwunschene Landschaften, schöne Lieder in allen Naturdingen, Zauberwelten unter der Patina trauter Vergangenheit - davon ist das Wunderhorn ihrer Fantasiefiguren erfüllt. Schon seit dem frühen 19. Jahrhundert umgibt die Romantik ein Nimbus des Anachronistischen, und ein Fluidum des Märchenhaften und Fantastischen, der Mythensehnsucht und der Volkstümlichkeit begleitet ihre Überlieferungsgeschichte. Zum Inbegriff deutscher Seelentiefe und Redlichkeit hat man sie verklärt, zur Bastion gegen welsche Überfremdung und zum Hort des nationalen Sprachstolzes, später zu einer gleichsam natürlichen Irrationalität, die noch den Gewaltmythen und dem Blut- und Bodenkult der Nationalsozialisten diabolisch zu Diensten gewesen sei.

Das alles liegt weit hinter uns, und ist dennoch keineswegs aus dem Bildungs- und Erinnerungshaushalt der Deutschen verschwunden. Dabei stehen die Dinge doch ganz anders. Man könnte sagen, die deutsche Romantik ist heute entzaubert durch intelligente Wiederverzauberung - aber das hat sich noch nicht herumgesprochen. Seit Mitte der achtziger Jahre etwa verfügen wir über einen stark veränderten, auch theoretisch renovierten (Er-)Kenntnisstand in Sachen Romantik. So verschlüsselt, verrenkt und teilweise hermetisch er in den einschlägigen Schriften daherkommen mag, die Romantiker sind uns nun gegenwärtig als eine hochkarätige, teils esoterische, großenteils aber die öffentliche "Mittheilung" suchende, die Bildungs- und Fantasiekraft einer humanen Zivilgesellschaft herausfordernde Generation von deutschen Intellektuellen und Künstlern. Vielleicht ist ein so luzide analysierender und glänzend formulierender Autor wie Rüdiger Safranski jetzt in der Lage, Mittler zu sein zwischen den Spezialisten der Forschung und einem möglichst großen, interessierten Publikum - sein Buch hätte es verdient.

Natürlich kommt ein Interpret, der nicht nur das historische Phänomen der Romantik um 1800, sondern zugleich seine untergründigen und obergärigen Nachwirkungen in der deutschen Geistes- und Mentalitätsgeschichte darstellen will, nicht umhin, Vereinfachungen vorzunehmen, gewisse Themenbereiche auszulassen, manche wissenschaftliche Anstrengung zu übersehen. Was Safranski in summa als Funktion und Bedeutung der Romantiker beschreibt, sie seien "metaphysische Unterhaltungskünstler in einem sehr anspruchsvollen Sinn" gewesen, lässt sich mit etlichen ihrer Wesenszüge kaum befriedigend vereinbaren. Aber wie der Autor im einzelnen zeigt, dass die Romantik "fantastisch, erfindungsreich, (...), imaginär, versucherisch, überschwenglich, abgründig" gewesen sei, das ist oft genug von bestechender Überzeugungskraft.

Schon das komplexe Problem der Vor- und Urgeschichte der Romantik löst Safranski mit einer pointierten Analyse von Herders berühmter Seereise von 1769. In der Analyse dieser Initiationsschrift der späteren Romantik werden ihre Denktraditionen zumindest angedeutet: deutsche Mystik und Pietismus, die Mythenkritik Vicos, Spinozismus, Platonismus etc. Herder ist einer der ersten, der zum Entsetzen Immanuel Kants jene "Göttersprache der anschauenden Vernunft" spricht und propagiert, die Novalis, Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck, aber auch Friedrich Schiller bald aufmerksam zur Kenntnis nehmen.

Dass die Welt- und Menschen(er)kenntnis sich auf das Maß der subjektiven Vernunftkritik beschneiden lassen soll, hingegen den gesamten Kosmos, das Fichtesche Nicht-Ich, als bloßes "Ding an sich" der abwegigen Spekulation zu überlassen habe, konnte einer zeitgemäßen Vernunftauffassung nicht gerecht werden. Bereits in Schillers Spieltheorie, einem ästhetischen Erziehungskonzept, das geistige Autonomie sichern und damit der politischen Barbarisierung des Zeitalters Einhalt gebieten will, geraten Vernunft, Schönheit und Sittlichkeit in ein ungleich dynamischeres und komplexeres Verhältnis zueinander. Es kommt zu einer im säkularen Maßstab unerhörten "Rangerhöhung des Ästhetischen", wie Safranski formuliert, die Französische Revolution soll gleichsam humanitär überboten werden.

Friedrich Schlegel und Novalis, die freischwebenden Intelligenzler, werden daraus ästhetisch und politisch radikalere Folgerungen ziehen als der Jenaer Professor Schiller es wagen konnte. Sehr eindringlich zeigt Safranski, wie sich bei Fichte, Novalis, Schlegel und Schleiermacher die romantischen Ich- und Fantasie-Ermächtigungen herausbilden, wie Esoterik und öffentliches Wirkungskalkül ineinander spielen, wie Imagination, Ironie, Witz und Kritik einander befeuern, sich reiben und stoßen an einer Welt der kruden Politik, aber auch bürgerlicher Philisterei und des Nützlichkeitsstrebens. Es sei eine "gefährliche Zeit für Jünglinge von Geist", bemerkt 1800 ein Zeitgenosse, "heftig aufgeregt ... bewege sich das Leben zwischen lauter Extremen". Was Wunder, wenn ein Philosoph wie der junge Fichte dem Ich ein neues "ungeheures Volumen" gibt, wenn er das Sein mit nichts anderem gleichsetzen will als dem "Freisein - Schweben", wenn sich Schlegel & Co. die künstlerische Konstruktion einer neuen Mythologie, ja einer neuen Religion zutrauen.

Gesucht wird damals eine gesellschafts- und gemeinschaftsbildende Idee, die zur Herzensangelegenheit der Menschen werden kann, um jener politisch und kriegerisch verwüsteten Welt ein Ende zu machen, um die Sinnleere des bürgerlichen Alltags - mit seiner Zurichtung des Individuums zum Funktionsteilchen - in das hoffnungsvolle Licht eines kommenden goldenen Zeitalters zu tauchen. Solche öffentlichen Impulse haben sich Romantiker wie Novalis und Friedrich Schlegel nicht von der nützlichen vernünftigen Lehranweisung versprochen, sondern einzig von den Möglichkeiten und Formen ihrer geistig-ästhetischen Autonomie. Wenn das Publikum erzogen werden sollte, dann keineswegs nur mit bohrendem Tiefsinn, sondern vor allem durch die "berückende Gabe des Leichtnehmens und Leichtmachens". Ein schillerndes Arsenal von Reflexionsformen und Denkmotiven, ein bewegliches Heer oszillierender Geistesfiguren, hat sich insbesondere Friedrich Schlegel einfallen lassen, um die Funken des eigenen Esprit auf seine Leser überspringen zu lassen. Die besten europäischen Traditionen standen ihm zu Gebote - Montaigne, Chamfort, Voltaire, Lichtenberg und Lessing. Ironie, Witz, Arabeske, das fragmentarische Prinzip, das unendliche Schweben oppositioneller, ja paradoxaler Bedeutungen - eine derart inspirierte "progressive Universalpoesie" sollte das Leben mit Ästhetischem durchwirken, seine Beharrungen und Orthodoxien durch "Witz, Einfälle, Experimente und Hypothesen" aufbrechen und zu mehr schöner Geselligkeit führen.

Gleichwohl - Rüdiger Safranski ist fraglos Recht zu geben - waren die Romantiker absturzgefährdet, und so sahen sie sich auch selber. Ihr soziales Dasein, ihre psychische Verfassung war oft genug instabil, sie lebten in einer nur "gedeuteten" Wirklichkeit, in einer Welt der tönenden Zeichenverfügung zwischen Logos und Mythos, prekärer Jetztzeit und utopischem Überschwang. Aber sie waren keine Repräsentanten eines manifesten oder potenziellen Nihilismus, wie lange behauptet wurde, vielmehr offenbarte der horror vacui ihre Problematik. Sie wollten das Romantische mit Leben erfüllen, indem sie die Wirklichkeit der romantischen Sinnzufuhr und Geisteszauberei zu öffnen versuchten. Immer noch leitete sie die Vernunft, freilich eine für das Dunkle und Gefühlte, das Fantastische und Imaginäre sensibilisierte Vernunft. Genau dies allerdings hat man den Romantikern schon früh nicht mehr abnehmen wollen. War nicht zumindest die (katholisierende) Spätromantik zum Handlanger der Heiligen Allianz, zum Büttel der Metternichschen Restauration geworden?

Schon im frühen 19. Jahrhundert war der revolutionäre Impuls der deutschen Romantik aufgebraucht, davon ist Rüdiger Safranski überzeugt. Damals sei das ironische Spiel mit der "schönen Verwirrung" des Geistes am Ende gewesen, die ästhetische Bildungsutopie habe sich in und an der Wirklichkeit erschöpft. Hegel war einer der ersten, der seine romantischen Ursprünge verleugnete und umarbeitete in das eherne Bewegungsgesetz des Weltgeistes, in ein propreußisches Staats- und Ordnungsdenken. Für die Romantik hatte Hegel nur noch Vorwürfe und schärfste Kritik übrig, er sprach vom "Nebulosen, Eitlen und Leeren" der Romantik, vom "willkürlichen Mystizismus" anmaßender Subjekte. Die Generation der Junghegelianer und der Vormärzler wollte gleichfalls das "Luftreich des [romantischen] Traums" verlassen, drängte auf Realisierung der politischen Utopie, auf eine menschenrechtlich renovierte Wirklichkeit. Nun sollte die christliche Mythenwelt vollkommen entzaubert werden, Marx erklärte die Religion zum Opium des Volkes und verhieß - nicht ohne romantische Anklänge - ein Goldenes Zeitalter, das vom weltweit siegreichen Proletariat erkämpft werden sollte.

Die Losung "Romantik" entwickelte sich im öffentlichen Gebrauch immer mehr zum Schimpfwort - zu ihrem "letzten und abgedankten Fabelkönig" erklärte sich Heinrich Heine -, doch lebte sie noch einmal auf im Gesamtkunstwerk Richard Wagners. Hier feierte der Helden- und Götterapparat des Deutschtums fröhliche Urständ, sollte Kunst in einen belebenden Mythos übergehen - Kompensation der menschenfeindlichen Moderne. Im Bayreuther Weihefestspiel war das Schöne ausersehen, ein letztes Mal den Nimbus der religiösen Läuterung anzunehmen. Für Nietzsche wurde eben dies zum Anlass, sich vom Personenkult Wagners und seiner anmaßenden Erlösungsästhetik zu befreien. In jenem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hat der Geist des technischen Fortschritts, Positivismus und Materialismus, längst alles fortgeschwemmt, was an romantischem Geisteszauber noch erinnern konnte. Jetzt empfindet man als fantastisch, überspannt und abstrus, was den Romantikern als geistig-sinnliche Befreiungstat in der Erziehung des Menschengeschlechts galt. Der - wie einst die Romantiker - von den dionysischen Unterströmen des Lebens faszinierte Modernekritiker Nietzsche wird den Nachgeborenen das entscheidende Stichwort "Leben" vermachen - den Wandervögeln und Reformbewegten, den Kosmikern und sonstigen Neoromantikern, sogar den Dadaisten.

Auch Thomas Mann, Ernst Jünger, Hugo von Hofmannsthal und Hermann Hesse sind nicht frei von romantischen Motiven, sie alle eint die "Bereitschaft für das Überwirkliche". Das gilt erst recht für einen Denker wie Martin Heidegger mit seinem "Willen zum Wunder und zum Geheimnis". Nach 1945 hat es immer wieder Versuche gegeben, die Geschichte der Romantik in Deutschland ursächlich mit dem Nazitum zu verknüpfen. Von der "stählernen Romantik" hatte in der Tat Goebbels gesprochen, Germanophilie, mythische Inbrunst, Biologismus und Rassismus waren nicht erst seit 1933 an der Tagesordnung, im historischen Archiv der Romantik fanden sich genügend Stoffe und Motive zur Ausbeutung für den deutschen "Doppelmenschen" - für den Kulturgenießer wie für den braunen Gewaltstrategen. Noch im 'Doktor Faustus' von Thomas Mann klingt die - historisch wie ästhetisch unzulängliche - These an, dass der Exzess des deutschen romantischen Geistes letztlich zur Katastrophe von Weltkrieg und Judenvernichtung geführt habe.

Sogar nach 1945, bemerkt Safranski, habe es an einem pragmatischen Nachdenken gemangelt, das die Ära und die Auswirkungen der deutschen Romantik abgewogen hätte beurteilen können. Sosehr man der 68er Bewegung Polit-Romantik vorwarf, so wenig wollten sich ihre Akteure selber als "romantisch" verstehen. Romantik galt als Traum und Illusion, als reaktionäre Versöhnung mit dem "Klassenfeind". Hier, versichert Safranski, sei ein "aus Fichte und Rousseau trübe gemischtes romantisches Erbe wirksam" gewesen. "Phantasie an die Macht", der Leitspruch des Pariser Mai, ist für Safranski Ausdruck einer falschen Antwort auf die berechtigte Frage nach unserem heutigen Verhältnis zur Romantik. Aber genau da lässt das mit stilistischer Verve geschriebene Buch nicht wenige Fragen offen. Bedenkt man, dass der französische Surrealismus und die deutsche Kunstavantgarde gleichermaßen von den Romantikern befruchtet wurden, dass Walter Benjamin ihrer kritischen Aura huldigte, dass der frühe Lukács hier seine Inspirationen erfuhr, dass Marcuse und Bloch sich am Herd romantischer Utopie wärmten, ja dass - wie der von Safranski unbeachtete Karl Heinz Bohrer gezeigt hat - die romantische Innovation für die künftige Kunstautonomie schlechthin konstitutiv geworden ist, so bedarf die Nachgeschichte der Romantik einiger Ergänzungen und Differenzierungen. Deshalb sollte man aus diesem schönen Buch nicht unbedingt die Allerweltslehre ziehen, dass Politik sich vor Romantik zu hüten habe und umgekehrt, sondern die Illumination einer Bildungslandschaft genießen, in der die ironischen Geistesblitze der Kunst noch zu schönem Gemeinsinn verschmelzen sollten.


Rüdiger Safranski:
Romantik. Eine deutsche Affäre,
HANSER VERLAG, München 2007, 415 S., Euro 24,90

Harro Zimmermann (*1949) ist Kulturredakteur bei RADIO BREMEN und Professor für Literaturwissenschaft an der Uni Bremen. Zurzeit arbeitet er an einem Buch über Friedrich Schlegel.
harro.zimmermann@radiobremen.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2007, S. 66-70
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. November 2007