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AUTOREN/036: Mit dem Körper schreiben. Die Schriftstellerin Anne Duden (ROSA)


ROSA:36 - Die Zeitschrift für Geschlechterforschung - Februar 2008

Mit dem Körper schreiben. Die Schriftstellerin Anne Duden

Von Sabine Schneider


Die ebenso sensiblen wie sprachvirtuosen Texte der Autorin Anne Duden loten das Feld zwischen Schrift und Körper aus und machen Sprache als etwas Leibhaftes schmerzhaft und lustvoll erfahrbar.


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Roland Barthes' Forderung nach einer neuen Lust am Text, die den sterilen Raum der Schrift wieder öffnen solle für die verdrängte Körperlichkeit der Stimme, lässt sich wie ein Kommentar zu den Texten der Schriftstellerin Anne Duden lesen. Was Barthes postuliert - eine "mit Haut bedeckte Sprache", die der "Verknüpfung von Körper und Sprache" gehorche und "in ihrer ganzen Materialität, in ihrer Sinnlichkeit den Atem, die Rauheit, das Fleisch der Lippen, die ganze Präsenz des menschlichen Maules hören" lasse - ist in Anne Dudens Poetik auf virtuose Weise umgesetzt.(1) Es war die vom Poststrukturalismus beeinflusste feministische Literaturwissenschaft, wie sie etwa Hélène Cixous vertrat, die auf der Suche nach einer écriture feminine eine solche Re-Verkörperung der Schrift durch die weibliche Stimme verlangte. "In gewissem Sinne", schreibt Cixous, "klingt im weiblichen Schreiben unaufhörlich der Schmerz wieder, den das mündliche Wortergreifen in der Frau auslöste, - (Ergreifen) das vielmehr einem Entreißen gleicht, einem schwindelnden Aufschwung, sich Hinwegschleudern, Eintauchen."(2)


Kryptästhesie: Berührbarkeit der Texte

Von solchen unerhörten Aufschwüngen der Sprachergreifung, von solchen gewalttätigen Auftakten des Schreibens als Widerstandsakten gegen das Schweigen und das Vergessen handeln die Texte der in London lebenden Schriftstellerin Anne Duden seit ihren beiden in den achtziger Jahren erschienenen Debutbänden Übergang und Das Judasschaf. "Schreiben wird Enthauptung der gewalttätigen Ordnungen und Hierarchien des Tages, Entfesselung, Lösung der Bindungen", beschreibt sie das Widerständige des weiblichen Schreibakts in einem poetologischen Essay-Band mit dem Titel Zungengewahrsam. Erkundungen einer Schreibexistenz (S. 53). "Kryptästhesie" lautet eine ihrer vielen präzisen Wortneuschöpfungen, um die "unendliche Berührbarkeit" zu bezeichnen, von der die Texte nicht nur auf einer inhaltlichen Ebene handeln - immer wieder nehmen sie die Perspektive der Opfer hin, der geschundenen, vergewaltigten, gepfählten Körper - sondern die die Sprache selbst mit einer Sinnlichkeit infiziert, welche sie zum Vibrieren bringt. Den Begriff der Ästhetik nehmen sie in seinem Wortsinne ernst, als grenzüberschreitende, "end- und uferlose Wahrnehmungsarbeit", wie es die "Nachschrift" zum Band Wimpertier nennt (S. 114).

Dabei macht es die besondere literarische Qualität dieser lyrisch verdichteten Prosatexte aus, dass die sensitive Berührbarkeit nicht allein die Schmerzempfindungen, die überwachen Wahrnehmungen und Erinnerungen der Figuren betrifft, etwa die der "Person" als erlebender und handelnder Figur des Judasschafs. Die Erregbarkeit greift vielmehr auf die Textökonomie und die Sprachgestalt selbst über. Es ist ein nervengebündeltes und nervensplitterndes Schreiben, wie Anne Duden es nennt, balancierend "auf den Nervensträngen, den Nervenbahnen, es sind prekäre Hochseilakte auf Antonin Artauds "Nervenbahnen des Denkens", immer vom Absturz bedroht.(3) Sie wenden dem physischen Körper als Schwellenort der Übergänge zwischen Innen- und Außenraum ihre ganze Aufmerksamkeit zu. Er ist "wandelndes Erregerfeld", sensitives Körpergedächtnis, wie ihn die Icherzählerin im Judasschaf erfährt (S. 92). Seine Erinnerungsspuren werden von der Kryptästhesie der Texte lesbar gemacht.


Ausgeburten: Sprachleib

Doch diese störende, verdrängte Körperlichkeit ist nicht nur Thema, sie wird auch der Sprache selbst zurückerstattet, als Verleiblichung der Sprache zum schmerzempfindlichen "Sprachkörper". Das Schreiben leitet sich, so Dudens Wortspiel mit dem lautlichen Anklang, um nur einen Buchstaben verschoben, aus dem Schreien ab, es verleiht den stumm gebliebenen Schreien Stimme, die eingeschlossen in den "Kehlturm", die "Schlundenge" der Kehle, zu "Verklumpungen" gestaut, nun schreibend zu Wort kommen: "in Zukunft also schreiben, bei geschlossenem Mund die Zunge lösen" (Zungengewahrsam, S. 24), das "unbeschriene, unbeschreibliche beschreiben. Das Axiom von Anne Dudens Poetologie, wonach das Schreiben "sich wörtlich erinnere" (Wimpertier, S. 113), erhält so eine konkrete (Sprach)-Gestalt. Verblasste Körpermetaphern nehmen das vergessene sensitive Wissen der Sprache um ihren leiblichen Ursprung buchstäblich beim Wort und treiben so die Bildphantasie der Texte über das metaphorische Bildgeschehen voran, das sich dann metonymisch zu Texträumen erweitert. Man kann sagen, dass diese Texte der Bedeutung der Wörter nachschmecken, dass sie ihnen in den Vorhöfen der offiziellen Bedeutungen nachhorchen, mit "Herzohren" freilich, die auch die Zwischentöne wahrnehmen, welche sich die symbolischen Ordnungen mit ihren Automatisierungen gewöhnlich vom Leib halten. Dabei ist der unmittelbare Effekt dieses beim Wort Nehmens der Wörter eine schockierende Brutalisierung, wie wir sie sonst vielleicht nur von Kleists oder Kafkas Metaphern her kennen. Die Redewendung vom "Pfahl im Fleisch" materialisiert sich etwa in dem Gedicht Herz und Mund im Band Übergang zu einer Miniaturszene der Gewalt: "Kadaver: Zähne, Knochen, Splitter. Pfahl/Pfählchen im Fleisch (...). Vergewaltigung des Kopfes. Mittels eines Eisenrohrs." (S. 42f.). Und was es etwa heißt, jemanden mundtot zu machen, besetzt, nachdem wir Anne Dudens Beschreibung von Drachenkampf-Szenarien der abendländischen Kunstgeschichte gelesen haben, in sehr viel konkreterer Weise unsere Bildphantasie. Die Lanzen der Georgs- und Michaelshelden, jener gepanzerten männlichen Recken, so Dudens Lesart eines Gewaltszenarios der christlichen Ikonographie, ist den Opfern "in der Kehle steckengeblieben oder im aufgesperrten Rachen, hat den Hals durchbohrt und die Zunge an den Mundboden geheftet", hat ihnen "das Maul gestopft".


Anstössiges: Sprachballistik

Die "Behauptung" verliert ihre abstrakte Unverfänglichkeit, wenn sie in ihrem Schatten eine Enthauptung mit sich führt. Sprache wird so in der Wortbedeutung anstößig, wird zum Steinschlag - so der Titel eines Gedichtbands aus dem Jahr 1993. Die Wörter sind "Ballisten, Wurfgeschosse, Hauptanwürfe, -schläge, -rückschläge." (Zungengewahrsam, S. 24). Sie legen so verborgene Gewaltstrukturen des alltäglichen und offiziellen Sprachgebrauchs frei, sie erinnern wie die Körper das Verdrängte und Unterdrückte "wörtlich": Was die Gesellschaft ins Vergessen verbannt hat, "der Sprachkörper behielt es mittels seiner Organe und Eingeweide, der Wörter. Und natürlich musste es dadurch zu Eingeweidebrüchen und Organbeschädigungen kommen." (S. 25). Immer wieder taucht das sehr konkrete Bild des Sprach- oder Textkörpers als poetologisches Denkbild auf, die Vorstellung von der "Ausgeburt" des Textes: "ein mehrstimmiger Textkörper, durchaus auch mit Monstrosität begabt: eine unblutige Ausgeburt, während der Verfasserin das Blut ausgeht, die Tränenflüssigkeit, die Knochensubstanz, das Unterhautzellgewebe und so weiter." (S. 45).


Gegenstrebige Fügungen: Monstren und Chimären

Sehr oft sind es Bildmeditationen, von denen solche poetologische Überlegungen ausgehen. Nirgends sind Anne Dudens Texte so sehr bei sich, als wenn sie über Bilder aus dem Archiv der Kunstgeschichte nachsinnen. Gerade deren materiale Fremdheit, deren sich die Sprache nicht ohne weiteres bemächtigen kann, ist der Anreiz für Dudens medienbewusste Poetik. Die Bilder wissen etwas, was zwischen den Worten liegt, sie beherbergen ein Wissen, das nicht abgefragt werden kann. Anne Dudens sensible ekphrastische Texte respektieren das Schweigen der Bilder und lauschen ihnen dennoch ihr Geheimnis ab. Sie entdecken in den Bildern "gegenstrebige Fügungen", wenn sie etwa in dem gleichnamigen Prosastück aus dem Band Der wunde Punkt im Alphabet an einem Bild von Carpaccio, das den heiligen Georg im Kampf mit dem Drachen zeigt, die ungleichen Gegner zum "Tor der Gegnerschaft", zum "geschiedenen Paar" aus Mensch und Tier zusammenschließen und so hinter der offiziösen Ideologie untergründige Zusammenhänge ausmachen (S. 120).

Anne Dudens Blick auf die Kunstgeschichte ist unbestechlich und eigenwillig. In den Herrschaftsszenarien der Ikonographie, insbesondere der christlichen, gilt ihre Aufmerksamkeit den Opfern. Zu ihnen, den Unterlegenen und Ausgegrenzten, gehören die grotesken und chimärischen Mischwesen, denen in ihren Texten Asyl gewährt wird gegen die Vernichtung durch eine gewalttätige Rationalität. Die liebevolle Spracharbeit dieser Texte gilt gerade jenem "heillosen Durcheinander, das der Körper dieser Wesen darstellt". Sie fabuliert diese anstößige Körperlichkeit lustvoll aus, "all das Gewarzte, Genoppte und Geschuppte, das rot Aufflammende und schwarzbraun Blakende, das Geschwänzte, Bebrüstete und rochenartig Wedelnde und Flatternde." (Der wunde Punkt im Alphabet, S. 35). Jene ungehemmte Körperlichkeit ist es, die die Aggression der Verfolger auf sich zieht: "Ein einziger Skandal, dieser Drache. Ausgeburt von allem, was je kreuchte und fleugte, Körper, der sich an keine Vorgabe, Abmachung oder Einteilung hält und der zu allem Überfluß auch noch die Geschlechteraufspaltung und -zuweisung ignoriert. So etwas ist der Körper des Vergehens schlechthin, das corpus delicti." (S. 80).


Chiffren des Schreibens: Sphinx und Green Man

Ein anderes dieser (weiblich konnotierten) Mischwesen ist die Sphinx, eine Zwittergestalt aus Mensch und Tier, der Anne Duden in dem Band Wimpertier das Gedicht Sphinx hinter Gittern gewidmet hat, das ein Bild von Francis Bacon umschreibt. "Hydra Chimäre Drache Schlange Brut", mit einem uneindeutigen anstößigen Tierkörper versehen, am Übergang von Nacht und Tag erstarrt, gehört die Sphinx dem Bereich der Nachtintelligenz zu, in dem Anne Duden auch ihre eigene Produktivität verortet. Diese Sphinx lebt "in dem bläulichen Höhlen- oder Neonlicht" des Bildes in einem Raum der Insomnie" (so der Titel eines anderen Textes aus dem Band Wimpertier). Sie ist einer der gespenstischen Dämmerungsvögel, die als Ikonen der Poesie erscheinen.

Eine dritte Ikone der poetischen Existenz, die das Thema der sich verzehrenden KünstlerInnenschaft für Anne Duden verkörpert, ist ebenfalls ein Mischwesen. Es ist der sogenannte Green Man auf den Kragensteinen der englischen Kathedralen: Ein Gesicht, das aus allen Gesichtsöffnungen vegetabil überwuchert wird. An zentraler Stelle, nämlich am Ende des poetologischen Essays Zungengewahrsam wird er zum "Blatt- oder Blätterheiligen" der Autorin erhoben. Er setzt die "Mündungs-, Sprachenergie" eines grotesken Sprachleibs ins Bild, eine identitätszersprengende, sich verzehrende und sich entäußernde Sprache, welche die Grenze zwischen Innen- und Außenraum aufhebt und dabei alle Sinne mit Gewalt besetzt. Sie lässt den von seinem Werk ganz und gar eingenommenen Blätterheiligen am Ende "unverloren zugrundegehen" (S. 61f.). Anne Dudens Texte gehören in ihrer Radikalität und Intensität zum Besten, was die sprachreflexive Prosa der Moderne hervorgebracht hat.


Anmerkungen:

(1) Barthes, Roland, Die Lust am Text. Übers. v. Traugott König, Frankfurt/M, 1974, S. 97f.

(2) Cixous, Hélène. Schreiben, Feminität, Veränderung. Aus dem Französischen von Monika Bellan, in: alternative. Zeitschrift für Lyrik und Prosa 108/09 (1976), S. 143.

(3) Artaud, Antonin. Fragmente eines Höllentagebuchs, in: Frühe Schriften. 2. Aufl. München 2001, S. 109.


Autorin

Sabine Schneider ist Professorin für Neuere deutsche Literatur am Deutschen Seminar der Universität Zürich. Sie ist mit der Autorin befreundet. sabine.schneider@ds.uzh.ch


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Quelle:
ROSA:36 - Zeitschrift für Geschlechterforschung
Ausgabe Februar 2008, S. 21-23
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2009