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BUCHBESPRECHUNG/002: B. Wägenbaur, U. Oelmann - Von Menschen und Mächten. Stefan George, Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892-1933 (Sachbuch) (Christiane Baumann)


Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann


Von Menschen und Mächten.
Stefan George, Karl und Hanna Wolfskehl.
Der Briefwechsel 1892-1933

von Christiane Baumann, August 2016

Mit dem Briefwechsel zwischen Stefan George und Karl sowie Hanna Wolfskehl liegt neben Thomas Karlaufs großer George-Biographie [1] ein Kompendium vor, an dem künftige Forschungen zum George-Kreis und zur Literatur um 1900, die das Tor zur literarischen Moderne des 20. Jahrhunderts aufstieß, nicht vorbeikommen werden, und das aus mehreren Gründen. Der Schriftsteller und Publizist Karl Wolfskehl (1869-1948) gehörte zu Georges Freunden aus der Frühzeit und war der einzige, mit dem der Kontakt bis zum Lebensende andauerte. Damit bietet der Briefwechsel, der von 1892 bis zum Tod Georges im Jahr 1933 reicht, einen dichten Abriss zu vier Jahrzehnten Leben und Schaffen Georges, die sich vor allem in den Wolfskehl'schen Briefen spiegeln. Diese Briefe kommentieren gewissermaßen Georges Lebensweg, ermöglichen aufgrund der Kontinuität subtile Einblicke in den George-Kreis und erweisen sich trotz der Kargheit der George-Briefe für den individualbiografischen Hintergrund als produktiv. Von besonderem Wert ist der Briefwechsel auch deshalb, weil seine intensivste Zeit in die Jahre von 1894 bis 1901 fällt und damit in die "Werdezeit" Georges, in der Wolfskehl eine seiner zentralen Bezugsfiguren war. War für George das Briefeschreiben nicht die "art der mitteilung" (S. 272) [2], so dass er einen knappen, geschäftlich-spröden Stil pflegte - nicht zuletzt auch als Schutz in Zeiten des Homosexuellenparagraphen 175 -, leben Wolfskehls Briefe von Emotionalität und ausladenden Darstellungen. Georges Zurückhaltung und Verschlossenheit stehen die Begeisterungsfähigkeit und Mitteilsamkeit Wolfskehls gegenüber. Dadurch wird Karl Wolfskehl zur eigentlichen Entdeckung in dieser Edition, dessen biographischer Werdegang von vor 1900 zudem erstmals ausgeleuchtet wird. Wolfskehl tritt als eine zentrale Persönlichkeit des geistig-kulturellen Münchens der Jahrhundertwende hervor, als umtriebiger Netzwerker und Unterstützer, der dem "Meister" unschätzbare Dienste leistete. Dieses Sendungsbewusstsein ließ ihn 1899 stolz verkünden: "Der Weg Georges ist nun gebahnt!" (S. 277). Dass 360 der 868 veröffentlichten Briefe von Wolfskehl stammen und 271 von George [3], wirft ein Schlaglicht auf beider Verhältnis. Der Rückgang der Briefkommunikation nach 1901 verwundert nicht. George hatte neue Jünger um sich geschart und bedurfte des Wegbereiters und Statthalters in München nicht mehr, auch wenn er bis 1919 regelmäßig bei ihm, im berühmten "Kugelzimmer", logierte und Wolfskehl ihm die Treue hielt.

Es waren die frühen Dichtungen Georges, seine Hymnen (1890) und Pilgerfahrten (1891), die auf den 23-jährigen Wolfskehl wie eine Initiation wirkten und ihn zu dem 24-jährigen Dichter im November 1892 Kontakt aufnehmen ließen. Wolfskehl, der aus einer gut situierten, hoch angesehenen jüdischen Bankiers-Familie in Darmstadt stammte und kurz vor dem Abschluss seines Germanistikstudiums stand, erkannte mit sicherem ästhetischen Gespür in George den originären Dichter, mit dem er sich in dem Gedanken, die deutsche Dichtung zu revolutionieren, verbunden sah. Doch auch in anderen Dingen waren sie wesensverwandt. So pflegten beide einen antibürgerlichen Lebensstil. Während George auf einen festen Wohnsitz verzichtete und zeitlebens "unterwegs" war, wehrte sich Wolfskehl erfolgreich gegen den väterlichen Wunsch, einen bürgerlichen Beruf zu ergreifen und unternahm selbst nach seiner Eheschließung 1898 immer wieder allein und für längere Zeit Reisen, bevorzugt nach Italien. War George der genialische Dichter, so Wolfskehl der Essayist, der diesen zu einem "epochalen Ereignis" (Karlauf, George, 2007, S. 169) stilisierte. War George Inspiration, so Wolfskehl der Denker, der dem Dichter und seiner Idee wirkungsästhetisch den Boden bereitete. Schrieb George dem Freund im November 1895 stolz, dass man nun auch von "alten lehrstühlen herab" hören könnte, dass "in der dichtung wieder nach einer reineren edleren form" (S. 98) gestrebt werde, so entwarf Wolfskehl parallel das Bild von der "Kunst als Priestertum" (S. 99). Die Auffassung von der Kunst als höchste Daseinsform, das Evozieren des "l'art pour l'art" und die Intention, "den Deutschen ein wenig geschmack beizubringen" (S. 149) standen diametral zum naturalistischen Kunstverständnis, was folgerichtig zur Ablehnung Gerhart Hauptmanns führte, und markierten gleichermaßen die sich durch die Briefe ziehende Konfliktlinie mit Detlev von Liliencron und Richard Dehmel und dem Anspruch einer "Kunst fürs Leben" (S. 114). Der Briefwechsel macht nachvollziehbar, wie sich sukzessive der George-Kreis mit seiner nahezu hermetischen Abschirmung von der Außenwelt und Exklusivität formte, in der sich nicht zuletzt ein Auflehnen gegen die Kommerzialisierung des Kunstbetriebs aussprach. Die Briefe Wolfskehls, der mit programmatischen Essays die von George initiierten Blätter für die Kunst, aber auch das Jahrbuch für die geistige Bewegung [4] und konzeptionelle Entwürfe für gemeinsam edierte Anthologien, darunter die dreibändige Deutsche Dichtung, maßgeblich prägte, lassen ihn als "Architekt" des George-Mythos' hervortreten. Sein ungeheurer literarischer Fundus', sein überbordendes Wissen, seine Vielseitigkeit - Wolfskehl verfasste Essays zur Literatur und Musik und trat als Dichter, Herausgeber und Übersetzer hervor - sowie seine ökonomische Unabhängigkeit und Verwurzelung in der jüdischen Überlieferung, die den "Dienst am Wort" (Karlauf, George, 2007, S. 171), an der Dichtung, zur Religion werden ließ, bewahrten Wolfskehl vor reproduzierendem Götzendienst und machten ihn in geistiger Beziehung ebenbürtig. Dennoch wecken die Briefe Zweifel daran, dass er zu George "emotionale Distanz" bewahrte und "auf Abstand" (Karlauf, George, 2007, S. 170) hielt. Richtig ist, dass das Werk für Wolfskehl das Maß aller Dinge war. Aber auch er erlag - wie die Briefe belegen - der mephistophelischen Persönlichkeit Georges. Immer wieder machte er Entscheidungen von Georges Urteil abhängig, lehnte eine "Hochzeitsgabe" (S. 336) für den Maler und Buchillustrator Fidus ab, nachdem George knapp geantwortet hatte, es sei "wie immer das sich abschliessen von namentlich schreibenden unteren leuten das ratsamste" (S. 337). Selbst als George 1906 ausrichten ließ, jeder möge jetzt tun, "was er für gut und nützlich" (S. 581) halte, bat Wolfskehl weiter um Zustimmung. Vorangegangen war eine Anfrage Hannas, ob der "Meister" eine Veröffentlichung in der Neuen Deutschen Rundschau für opportun hielte. Ausführlich setzte er sich noch 1922 beim Buch vom Wein mit etwaigen "Einwände(n)" (S. 777) Georges auseinander. Zu diesem Zeitpunkt hatte Wolfskehl infolge des Ersten Weltkriegs sein Vermögen verloren und war zum Broterwerb gezwungen, den George als Ausdruck des Bürgerlichen ablehnte. Karlaufs Belege für die unterstellte emotionale Distanz basieren auf Erinnerungen Wolfskehls und sind wohl als später Versuch zu werten, sein Verhältnis zum "Meister" zu korrigieren und in einen "Werk"-Mythos zu gießen. Damit erwies er sich bis zuletzt als Meister im Stilisieren. Wolfskehl zerbrach nicht an der 1901 einsetzenden merklichen Entfremdung. Aber 1922 erinnerte er George daran, dass er "ohne jede Freundeshilfe" (S. 777) seinen Lebensunterhalt verdienen müsse. Diesen Vorwurf erneuerte er im Oktober 1929, als er darauf hinwies, dass er "einsam und ohne Hilfe brotlos der Verzweiflung nah" (S. 815) die von George verpönte umfangreiche publizistische Tätigkeit habe aufbauen müssen. Anders als George hatte Wolfskehl, der wie ein Seismograph politische Veränderungen registrierte, zu diesem Zeitpunkt bereits die Gefahr des heraufziehenden Nationalsozialismus erkannt, wenn er schrieb: "Die Zeiten sind furchtbar. Ich sehe grauenhaftes Kommen über die Welt" (S. 816). Wenig später musste er die antisemitisch aufgeladenen Ausführungen über sich in Friedrich Wolters von George beauftragtem Werk Stefan George und die Blätter für die Kunst lesen. Wolters, der seit 1909 zum "inner circle" des George-Kreises gehörte, markierte mit seinem in den Blättern für die Kunst erschienenen Aufsatz Herrschaft und Dienst den Übergang von einem ästhetisch fundierten Bund zu einer ideologisch überformten Gemeinschaft, die in den Briefen schließlich als "der Staat" firmierte. Noch 1914 hatte Wolfskehl wie viele deutsche Intellektuelle und Schriftsteller, darunter so prominente wie Gerhart Hauptmann, den Ersten Weltkrieg begrüßt und sich öffentlich als Mitglied des George-Kreises gegen Romain Rolland gestellt, der die Zerstörung der belgischen Stadt Leuven angeprangert, den Krieg als Verbrechen bezeichnet und Deutschlands geistige Eliten zum Protest aufgefordert hatte. In seinem "Anti-Rolland" fasste Wolfskehl in national-patriotischer Manier den Krieg als "Schicksal" (S. 716) und ging so weit, in George den Dichter zu preisen, der diesen Krieg prophezeit habe. George, dem öffentliche Disputationen widerstrebten, wertete diese Erwiderung, die neben Hauptmann erschien, als "ein vernünftiges wort" in dieser "fülle von un- und schwachsinn" (S. 718). Eine solche Übereinstimmung gab es 1929 nicht mehr. Wolfskehl sah sich aus dem George-Kreis zunehmend mit antisemitischen Ausfällen konfrontiert, die seine Außenseiter-Position verstärkten. Bereits 1930 sagte er "Maßregeln jeder Art gegen die Juden" voraus und sprach gegenüber Freunden von zu erwartendem "Terror" sowie "Berufs- und Bewegungsbeschränkungen" (S. 822-823). Im Juni 1932 schrieb er George "tief bedrängt von dem was jetzt sich vollzieht, was mich den Juden bedroht" (S. 830), worauf dieser lapidar antwortete, Wolfskehl würde "zu düster" (S. 831) sehen. Während in Wolfskehl immer wieder der politisch denkende Mensch hervorbrach, bezeugen Georges Briefe dessen distanziertes, fast gleichgültiges Verhältnis gegenüber dem politischen Zeitgeschehen. Wolfskehl verließ 1933 kurz nach dem Reichstagsbrand Deutschland und emigrierte 1938 nach Neuseeland. Seine noch 1933 erfolgte Entlassung beim Verlag Knorr & Hirth mit Hausverbot sollte seine Befürchtungen bestätigen und beendete seine umfangreiche publizistische Tätigkeit, setzte jedoch erneut künstlerische Produktivität frei, die in den Gedichtband Die Stimme spricht (1934) mündete. Die Bemühungen Wolfkehls, mit George, der sich 1933 unweit von ihm in Minusio aufhielt, noch einmal zusammenzutreffen, blieben erfolglos. Die Nachricht vom Tode Georges ließ ihn ein letztes Mal zu seinem "Meister" eilen.

Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann haben eine philologisch sorgfältig aufbereitete Briefedition vorgelegt, die gründlich kommentiert und nur wenige "weiße Flecken" aufweist. Dabei konnten sie auf Vorarbeiten zurückgreifen, wie die vom George-Erben Robert Boehringer frühzeitig beauftragte Übertragung der schwer bis unlesbaren Briefe Wolfskehls. Diese Vorarbeiten waren bereits 1970 abgeschlossen. Boehringer nahm letztlich von einer Veröffentlichung Abstand, weil er in den Briefen auch "unbedeutendes" (S. 859) fand. Die vorliegende Edition lässt den entscheidenden Grund ahnen. Die Briefe rücken Wolfskehl in das Zentrum der Betrachtung, was sie als Beitrag zum George-Mythos weniger bedeutsam erscheinen ließ. Wolfskehls Briefe enthalten Alltägliches, auch Redundantes, in ihrer Gesamtheit sind sie jedoch ein wichtiges Dokument zum literarischen Prozess der vorigen Jahrhundertwende.


Anmerkungen:

[1] Karlauf, Thomas: Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. Biographie. München 32007. Zit.: Karlauf, George, 2007.

[2] Zitate aus der Briefedition werden im Folgenden mit der Seitenangabe in Klammern angegeben.

[3] Wolfskehl schrieb 18 Briefe an Vertraute Georges. Von ihnen und von Hanna Wolfskehl stammen die restlichen Briefe des Bandes.

[4] Die erste Ausgabe des Jahrbuchs für die geistige Bewegung, das Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters herausgaben, eröffnete 1910 Wolfskehls Aufsatz Die Blätter für die Kunst und die neueste Literatur (S. 660).


Birgit Wägenbaur und Ute Oelmann:
Von Menschen und Mächten.
Stefan George, Karl und Hanna Wolfskehl.
Der Briefwechsel 1892-1933.
C. H. Beck, München 2015
879 S.


Erstveröffentlicht in "Studia Niemcoznawcze - Studien zur Deutschkunde", Bd. LVII, Warszawa 2016, S. 687-691.

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Quelle:
Dr. Christiane Baumann
Copyright by Instytut Germanistyki Uniwersytetu Warszawskiego
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und des Instituts


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. August 2016

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