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REZENSION/041: Christian Baron - Ein Mann seiner Klasse (SB)


Christian Baron

Ein Mann seiner Klasse

von Christiane Baumann


Kein "Schaffschuhversteckeler" und dennoch im sozialen Aus.
Zu Christian Barons Debüt Ein Mann seiner Klasse.

"Er kübelte sein Bier in einem Zug, rülpste seine Alkoholfahne in die stickige Raumluft und zog den Rotz hoch, so laut und so lange, dass jeder, der es zwischenzeitlich hätte vergessen können, sofort wieder wusste, wer hier der Boss war." (107) So erinnert und beschreibt in Ein Mann seiner Klasse der 1985 in Kaiserslautern geborene Ich-Erzähler Christian seinen Vater, einen gewalttätigen Alkoholiker, der das Leben der Familie, der Mutter und der vier Kinder, zur Hölle werden ließ, und zwar einer Familie, für die Armut und soziale Ausgrenzung zum Alltag gehörten. Die Geschichte spielt nicht in irgendeiner Vorzeit oder in einem Entwicklungsland. Erzählt werden mit dokumentarischer Genauigkeit Kindheit und Jugend eines jungen Mannes zwischen 1985 und 2011 in Deutschland, das seit der 1957 proklamierten sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards das Narrativ vom "Wohlstand für Alle" fortschreibt und jene, die diesen nicht erreichen, auf ihre Eigenverantwortung verweist.

Der eigentliche Skandal des Buches dabei ist: Christians Vater geht jeden Tag zur Arbeit und verdient als ungelernter Arbeiter in einer Umzugsfirma als Möbelpacker mühsam sein Geld, mit dem er jedoch am Ende des Tages seine Familie nicht ernähren kann, was den Erzähler als Kind zu der berechtigten Frage führt: "Warum sollte sein Chef ihm nicht genug Geld geben, um seine Familie zu ernähren, das ergab doch überhaupt gar keinen Sinn, welcher Chef würde denn so was tun!" (15) Trug der Vater, erinnert als "Bestie" (54) und "Monster" (103), aber trotz allem der Vater, trug er die Schuld am Elend der Familie? Die Schuldfrage steht im Zentrum der Erinnerungen des Erzählers. Sein Bruder Benny spricht den Vater an dessen Sterbebett "in allen Anklagepunkten" (5) frei: frei "von jeder Schuld an der Armut" (5) der Familie, frei von jeder Schuld am frühen Krebstod der Mutter und frei von der Schuld an einer bedrückenden Kindheit.

Mit dieser Sterbeszene im Jahr 2003 beginnt Christian Barons Buch-Debüt, das autobiographischen Charakter hat. Baron wurde wie der Ich-Erzähler im Mai 1985 in Kaiserslautern geboren. Nach dem Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik arbeitete er für verschiedene Lokalzeitungen und ist seit 2018 Redakteur der Wochenzeitung der Freitag. Er schaffte, wie der Ich-Erzähler Christian, der sich zum Abitur durchkämpft, studiert und Journalist wird, den sozialen Aufstieg. Der Erzähler macht den moralischen Freispruch des Vaters durch den Bruder zum Ausgangspunkt seiner akribischen Recherchen und nimmt seine im Erinnerungsvorgang gewonnene Erkenntnis vorweg: "Unser Vater war ein Mann seiner Klasse. Ein Mann, der kaum eine Wahl hatte, weil er wegen seines gewalttätigen Vaters und einer ihn nicht auffangenden Gesellschaft zu dem werden musste, der er nun einmal war." (19) Damit wird dem Leser zum Einstieg eine fatalistische Sicht auf das Erzählte angeboten. Sozialisierung, "vererbte" Armut und Gewalttätigkeit, die der Erzähler ansatzweise auch bei sich selbst entdeckt, und soziales Versagen, das den Vater in seinem Milieu gefangen hält, werden zu Determinanten des Lebens, was an naturalistische Literatur denken lässt, deren prominentestes Beispiel, Gerhart Hauptmanns soziales Drama Vor Sonnenaufgang 1889 erstmals das Thema Alkoholismus auf eine deutsche Bühne brachte. "Saufen und prügeln" (184) - auf diesen Nenner bringt in Barons Buch die Mutter des Erzählers das häusliche Leben, das sie verabscheut, aus dem sie jedoch nicht auszubrechen vermag.

Baron erzählt von der Kindheit und Jugend eines Deklassierten, eines sozialen Außenseiters, der aus bürgerlicher Perspektive zur "Unterschicht", zu den "Asozialen" (14) gehört. Die Orte des Erzählens sind soziale Brennpunkte, Orte an der Peripherie der Gesellschaft: ein Wohnblock, ein "kleines Elendsviertel" (25), nicht ganz so schlimm wie das berüchtigte "Kalkofen"-Viertel in Kaiserslautern, die Stammkneipe "Schnorres" des Vaters, wo sich Arbeiter, Arbeitslose und Abgehängte treffen, der Hinterhof, auf dem die Kinder spielen. Er fängt Bilder der Arbeitswelt ein. Es ist ein Mörderjob, den die Möbelpacker zu bewältigen haben. Aber er erzählt auch von ABM-Karrieren, von Arbeitslosigkeit, Entlassung. Das Wichtigste, so schärft es Opa Willy dem Erzähler ein, ist, dass aus der Familie "niemals Schaffschuhversteckeler würden" (152), denn allein die Arbeit, so erklärt er, schütze vor Asozialität und ernähre die Familien. Dieses Denken erweist sich als nicht haltbar. Die Familie steuert trotz Arbeit des Vaters unaufhaltsam ins soziale Abseits. Die Mutter, zermürbt von den untragbaren Lebensbedingungen und schwer depressiv, stirbt mit 32 Jahren an Krebs. Der Vater verfällt vollends dem Alkohol.

Der Erzähler nähert sich seiner Vergangenheit, seinen Wurzeln, denen er - trotz seines sozialen Aufstiegs - nicht entkommen kann, analytisch. Er rollt die Familiengeschichte von hinten auf, orientiert sich an Daten und Fakten. Gefühle wie Zorn, Glück, Schmerz, Scham, Angst, Hass, Liebe, Hoffnung, Zweifel, mit denen die Kapitel überschrieben sind, werden im Erzählvorgang auf ihre Tragfähigkeit überprüft und mit Erinnerungen des Bruders und der Tante Juli abgeglichen, um am Ende zu einem differenzierteren Bild vom Vater zu gelangen, seinen Frieden mit ihm machen zu können und das Kindheitstrauma zu überwinden.

"Wer oder was hat meinen Vater umgebracht? Sein Kummer? Seine Krankheit? Sein Körper? Seine Armut? Seine Klasse? Sein Sohn?" (279). Am Ende wirft der Erzähler nochmals diese Fragen auf, um sie im Raum stehen zu lassen. Er vertraut auf die Aussagefähigkeit des Erzählten und überlässt es dem mündigen Leser, Schlussfolgerungen zu ziehen. Gesellschaftliche Lösungen kann er nicht bieten, stattdessen kippt die Geschichte am Schluss ins Rührselige und Triviale. Das ist schade, gelingen doch Baron subtile Milieuschilderungen vom Rand unserer Gesellschaft, die man heute in dieser Härte kaum irgendwo lesen kann. Er macht das System kapitalistischer Ausbeutung am Schicksal des Vaters, der für einen Hungerlohn schwer arbeiten muss, ohne mit seiner Familie davon menschenwürdig leben zu können, erfahrbar und dokumentiert das Versagen staatlicher Institutionen, die sozial Schwachen mit Selbstüberhebung begegnen. Er rüttelt am Slogan "Wohlstand für alle" und richtet den Fokus auf die im sozialen Abseits Lebenden. Deutlich wird, dass der Erzähler seinen sozialen Aufstieg, seine Karrierechancen, nicht staatlicher Förderung und Obhut, sondern dem couragierten Eingreifen zweier Tanten zu verdanken hat.

Baron schildert packend, teils drastisch. Er nimmt Jargonismen ebenso auf wie dialektale Färbungen. Dabei suchen seine Personenbeschreibungen häufig den Vergleich zu Filmfiguren ("Elvis-Typ", Freddie-Mercury-Verschnitt usw.) und werden plakativ, wobei Film und Fernsehen, denen der Erzähler "fast alle schönen Momente" (15) seiner Kindheit verdankt, wesentlicher Teil des beschriebenen Milieus sind. Der Versuch, Poetisches zu bieten, gerät schnell zu Kitsch. Aber da, wo Baron minutiös und genau den Alltag und das Leben der Unterprivilegierten beschreibt, ist er authentisch und in seiner sozialen Anklage beeindruckend.

Christian Baron
Ein Mann seiner Klasse
Berlin: Claassen Verlag 2020
20,00 Euro
ISBN 978-3-546-10000-7

4. März 2020


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