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REZENSION/048: Clemens Meyer - Nacht im Bioskop (SB)



Clemens Meyer:

Nacht im Bioskop

Eine Erzählung aus dem Großen Krieg mit Bildern aus einem Frieden

von Christiane Baumann

Der Fuhrmann des Todes
Zu Clemens Meyers verstörender und zugleich berührender Kriegs-Erzählung Nacht im Bioskop

Ein Bioskop ist ein Kino - zumindest im Sprachgebrauch des früheren Jugoslawien. In dieser Region, in der im heutigen Serbien gelegenen Stadt Novi Sad, spielt sich das Erzählte ab. Das Bioskop der Stadt bildet das Zentrum des Erzählens. Dort laufen die Fäden der Geschichte aus dem Jahr 1942 zusammen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich das Kino und die Filmwelt im Alltagsleben etabliert. Man lebt "in einer Zeit der Bilder" (48). Das bildhaft-filmische Erzählen ist zugleich ein Markenzeichen, ein ästhetisches Prinzip, von Clemens Meyer. Er entwirft filmartige Bildsequenzen, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart überlagern und in surreal-grotesken Szenen mit modellhaftem Charakter aufgehen. Bilder bestimmen auch die ungewöhnliche Buchgestaltung, denn der Erzählung "aus dem Großen Krieg" sind Fotos, "Bilder aus einem Frieden", wie es im Untertitel heißt, beigefügt. Es handelt sich um historische Postkarten des alten Novi Sad, das in seiner Geschichte viele andere Namen hatte: "Neoplanta", "Újvidék", wie es die ungarischen Besatzer oder "Neusatz", wie es die Deutschen seinerzeit nannten. In dieser Stadt wurden viele Sprachen gesprochen: ungarisch, deutsch, serbo-kroatisch, rumänisch, slowakisch. Es sind beschauliche Bilder einer architektonisch von der k.u.k.-Monarchie geprägten Stadt, die dem Leser wie mit einem Bioskop gezeigt werden. Das Bioskop bezeichnete nämlich auch eine deutsche Erfindung der Brüder Max und Emil Skladanowsky, die 1895 ihren Projektionsapparat so nannten, der sich allerdings aufgrund seiner für die industrielle Nutzung unbrauchbaren Technologie in der Filmbranche nicht durchsetzen konnte. Das Wort "Bioskop" kommt aus dem Griechischen und verbindet "Bios", das Leben, und "skopeô", was mit "sehen" und "schauen" übersetzt werden kann. So ließe sich der Titel von Meyers Erzählung auch als "Nacht im geschauten Leben" lesen.

Die Nacht im Januar 1942, die der Text in szenischen Folgen auferstehen lässt, bildet einen scharfen Kontrast zu den Postkartenbildern aus einem Frieden und gehört zu den finstersten Kapiteln der europäischen Geschichte. Vom 21. bis 23. Januar 1942 ermordeten in der Stadt die ungarischen Besatzer, die während des Zweiten Weltkriegs zu den sogenannten Achsenmächten, Nazi-Deutschland und Italien, gehörten, fast 1.300 Zivilisten, darunter vor allem Juden, Serben sowie Sinti und Roma. Es handelte sich um eine "Säuberungsaktion", um sogenannte Vergeltungsmaßnahmen für angebliche Sabotageakte, bei denen hunderte Zivilisten unter das Eis der gefrorenen Donau geworfen und so auf bestialische Weise ertränkt wurden. Das den Text eröffnende Bild von der "unterm Eis eines großen Flusses" (7) treibenden jungen Frau, das am Schluss der Erzählung nochmals aufgenommen wird, versetzt den Leser, was sich ihm erst sukzessive enthüllt, unmittelbar in diese Situation. Die Eis- und Kälte-Metaphorik, die den Text durchzieht, geht unter die Haut. Man spürt das Unerbittliche dieses Winters, der, wie es heißt, "Jahre dauern würde" (11). In dieser barbarischen Kälte betritt an einem Abend ein Mann in einem "alten Pelzmantel aus grauschwarzem Wolfsfell" (11) die Stadt. Er gehört zur Ustascha, zu den kroatischen Faschisten. Dieser Mann im Wolfspelz, die Umkehrung des Wolfs im Schafspelz aus dem Grimm'schen Märchen Der Wolf und die sieben Geißlein, wird in der Geschichte keinen anderen Namen bekommen. Ebenso wenig die "junge Frau" mit den blonden Haaren, die am Anfang der Erzählung und am Schluss wie hunderte andere Menschen im Fluss treiben wird. Die Namenlosigkeit unterstreicht das Exemplarische des Erzählten. Ein Mann und eine Frau, die in diesem Krieg verschiedenen Seiten angehören, begegnen sich zufällig in der Nacht der Vernichtung in Novi Sad und gehen gemeinsam ins Bioskop, in dem die Schüsse des Karl May-Films Durch die Wüste mit den Schüssen draußen in der Stadt verschmelzen. Der Mann im Pelzmantel war schon in den 192 0er Jahren in diesem Kino. Er liebt Filme, erinnert sich an einige, aber vor allem an Der Fuhrmann des Todes, ein 1921 entstandener Stummfilm nach einer Erzählung von Selma Lagerlöf, der 2012 zum besten schwedischen Film aller Zeiten gekürt wurde. Der Fuhrmann ist verdammt, die Seelen der Toten auf seinem Karren mitzunehmen. Ein Mann, der über diese Legende lacht, wird von der Geschichte eingeholt und eines besseren belehrt. Dieser Fuhrmann nun "fährt ins Bioskop von Novi Sad" (37). Der Knecht des Todes hat viel zu tun in dieser brutalen Nacht in der alten Stadt am Fluss. Doch während in Lagerlöfs Legende der Fuhrmann einen vom rechten Weg abgekommenen Familienvater zu Reue, Liebe und verantwortungsbewusstem Handeln führt, geraten in Meyers Erzählung die toten Seelen wahllos auf den Karren des Fuhrmanns. Der Mann im Wolfspelz, der "nach den Toten fragte" (31), wird wie Lagerlöfs Fuhrmann zum Retter. Er hilft zwei "Seelen" in der Nacht von Novi Sad und beschützt sie vor der vom Menschen gemachten Barbarei.

Das Bioskop wird zur Insel im Krieg, zum Ort der Erinnerung an einen verlorenen Frieden, an Menschlichkeit, die in der Filmkunst bewahrt ist, und zur Stätte, an der die Humanität wieder aufersteht. Der Mann im Wolfspelz, ein kroatischer Faschist, rettet ein serbisches Baby und bringt es ins Bioskop. Es ist nach dem Massaker in Novi Sad der einzige Überlebende seiner Familie. Er rettet die junge Serbin mit den blonden Haaren, indem er sie zu seiner Gefangenen erklärt und mit ihr flieht, denn "der Fuhrmann des Todes fährt durch die Stadt" (88) und ohne den Mann im Pelzmantel, wäre sie verloren. So könnte es gewesen sein oder so hätte es sein können. Oder war es so? Im Schlussbild von der jungen Frau mit den blonden Haaren, die "unterm Eis eines breiten Stroms trieb" (91), ist wieder alles offen. Man will hoffen, dass sie und das Kind überlebten in einem anderen Frieden, dem wieder ein Krieg folgte, der Kosovo-Krieg 1998/99. Die Bilder wiederholen sich. Es spielt keine Rolle, "ob es dasselbe Bioskop ist, es ist ein Bioskop!" (48). Das Bioskop mit seinem "Projektorlicht" (81), mit seiner Filmkunst, seinen Bildern aus einer Zeit des Friedens ist Gegenwelt und Anker in der Nacht der Verbrechen, die in Novi Sad passierten und anderswo tagtäglich passieren. "Wo sind wir?", fragt die blonde Frau am Ende und erhält zur Antwort: "Ich weiß es nicht". Und dann zieht ihr der Mann die "Augenbinde vom Gesicht" (88). Literatur wird zum Wunschtraum, zur Utopie , die sich gegen die Realität wehrt und zugleich sehend macht.

Clemens Meyer, 1977 in Halle/Saale geboren, hat eine verstörende und zugleich berührende Erzählung über das Zerstörerische und Unmenschliche des Krieges geschrieben. Die erzählende Kamera ist unerbittlich und dabei doch von einer Behutsamkeit und Feinfühligkeit, die unter die Haut gehen. Er bannt das Grauen in poesievolle, filmische Bilder. Der Erzähler, der weiß was kommt, der sich in der Historie auskennt, ist präsent, ohne zu kommentieren. Er und der Mann im Pelzmantel verschwimmen zu einer Erzähler-Figuration, die die Legende um den Fuhrmann des Todes grundiert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen: "Schüsse? Nein, noch nicht. Stimmen und Bilder und Menschen, und er notiert all das in sich hinein." (39) An anderer Stelle heißt es: "Wann werden die Löcher ins Eis des Stroms gehackt und gesprengt und geschossen? Schon am ersten der drei Tage im Januar 1942? Kleiderhaufen auf dem Eis." (47) Die Fragen des Erzählers münden direkt in das Geschehen, das zum historisch Überlieferten gehört. Dabei sprechen die Bilder für sich. Es sind Bild-Notationen gegen das Vergessen, "auf das noch frische Papier seiner Erinnerungen, das schon fleckig zu werden begann" (41).

16. August 2021


Clemens Meyer:
Nacht im Bioskop
Eine Erzählung aus dem
Großen Krieg mit Bildern
aus einem Frieden
Leipzig: Faber & Faber 2020
18 EUR
96 Seiten
ISBN 978-3-86730-184-8


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 166 vom 21. August 2021


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