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BERICHT/065: 21. Linke Literaturmesse - Elitentausch ... (SB)


Der Aufstieg Erdogans und der AKP - Anatomie einer
Machtergreifung

Totalitäres Zwischenregime des Ausnahmezustands


Die Machtergreifung Recep Tayyip Erdogans und der AKP hat in der Türkei eine Welle ungezügelter Repression gegen jegliche Opposition entfesselt. Um die ohnehin akut gefährdete Sicherheit jener Menschen nicht zusätzlich aufs Spiel zu setzen, die ihre Stimme gegen das Regime erheben, ist ein besonnener und dem permanenten Ausnahmezustand adäquater Umgang mit personenbezogenen Publikationen geboten. Dieser Erwägung eingedenk, verzichtet der vorliegende Bericht, in den Vortrag und Interview eingearbeitet sind, auf Namensnennung und Bildmaterial.

Wie ist es Erdogan und der AKP gelungen, an die Macht zu kommen und diese Position auszubauen? Diese im Rahmen einer substantiellen Analyse und Einschätzung der aktuellen Verhältnisse in der Türkei essentielle Frage soll im folgenden insbesondere hinsichtlich ihrer wesentlichen innenpolitischen Aspekte entwickelt werden. Der türkische Staat hat seit seiner Gründung ein spezifisches Gesellschaftsprofil formuliert und etabliert: türkisch, muslimisch, streng säkular und männlich dominiert. Der Einfluß mächtiger Gruppierungen des kemalistischen Establishments und dessen Bürokratisierung erwiesen sich in den 90er Jahren zunehmend als Hemmschuh einer Modernisierung und neoliberalen Durchdringung der Gesellschaft. Demgegenüber stellte die aufstrebende AKP Wandel, Demokratisierung, eine Stärkung der Rechte von Minderheiten sowie eine zivile Verfassung in Aussicht, die mit der kemalistischen Tradition ausräumt und der sozialen Realität entspricht. Sie wurde daher im Westen durchaus positiv wahrgenommen, selbst eine spätere Aufnahme in die EU schien nicht ausgeschlossen.

Am Aufstieg der AKP waren neben ihrer traditionellen Hausmacht in Gestalt des konservativ sunnitischen Milieus und des sogenannten anatolischen Kapitals nicht zuletzt Frauen, Kurden und weitere Minderheiten maßgeblich beteiligt. Das mag aus heutiger Sicht so aberwitzig erscheinen, als hätten sich diese tendenziell emanzipatorischen Interessen gewissermaßen ihr eigenes Grab geschaufelt. Dennoch bleibt festzuhalten, daß die Wahlsiege der AKP ohne die Stimmen zumindest der konservativen Kurdinnen und Kurden in den Städten der Westtürkei nicht oder nur wesentlich langsamer möglich gewesen wären. Die AKP gedachte die kurdische Frage allein durch Anerkennung individueller Rechte zu lösen, nicht jedoch der kollektiven Rechte im Sinne einer Autonomie. Für das städtische, mittelständische kurdische Milieu war die Anerkennung kultureller Rechte Grund genug, die AKP zumindest befristet zu unterstützen.

Nicht minder erstaunlich mutet im Rückblick der Umstand an, daß auch viele Frauen beträchtliche Hoffnungen in die AKP setzten. Für die türkische Frauenbewegung war der Kampf gegen das Kopftuchverbot von zentraler Bedeutung. Dieser Aufbruch wurde von den Islamisten forciert, aber letztlich auch okkupiert und schließlich gegen die Frauen gekehrt. Ähnlich verhielt es sich mit der verbesserten Anerkennung häuslichen Arbeit samt finanziellen Zuwendungen, die von der Frauenbewegung als moderater Fortschritt gutgeheißen wurden. Im Endeffekt setzte die AKP jedoch auf diesem Wege ihre reaktionäre Auffassung der Geschlechterrollen um.

Der AKP wird insbesondere zugute gehalten, sie habe die ökonomische Basis vieler Menschen verbessert. Diese Erfolgsgeschichte läßt sich jedoch nicht belegen, statistische Zahlen sprechen sogar dagegen. Dennoch glauben viele Leute, sie hätten tatsächlich von dieser Regierung profitiert. Dieser an einen Mythos grenzende Glauben, der nicht von ungefähr an die finstersten Kapitel der deutschen Geschichte erinnert, hält der AKP ein Wirtschaftswachstum in Folge der neoliberalen Öffnung des Landes zugute, das erstens die Lebensverhältnisse der Bevölkerungsmehrheit kaum verbesserte und zweitens binnen weniger Jahre dramatisch einbrach. Die nicht nur in der Türkei gehegte Hoffnung, das eigene Land werde inmitten der globalen Verwertungskrise des Kapitals als Insel der Stabilität immun bleiben und sogar profitieren, erfüllte sich nicht.

Der Propaganda, Wachstum sei gleichbedeutend mit dem Wohlergehen aller Menschen, fügte Erdogan in paternalistischem Gestus diverse Großprojekte hinzu, die der Auffassung Vorschub leisteten, er habe der Bevölkerung dies und jenes geschenkt. Hinter der Formulierung, die Regierung investiere vorausschauend in die Infrastruktur, verbarg sich auch in der Türkei eine kurzfristige Alimentierung der Bauindustrie. Daß eine weitere Brücke über den Bosporus oder eine Tunnelröhre darunter, der größte Flughafen Europas oder riesige Staudämme etwas mit einer verbesserten Infrastruktur für die breite Bevölkerung zu tun hätten, sollte heutzutage niemand mehr unwidersprochen behaupten dürfen.

In welchem Maße es Erdogan und der AKP gelang, ihren Einfluß in der Gesellschaft auszubauen, zeigt der Zuwachs an Stimmen bei den Wahlen. Seit 2002 regiert die AKP durchgängig, zumeist mit großer Mehrheit und bei wachsenden Stimmenanteilen. Auch die direkte Präsidentenwahl 2007 und die Volkswahl 2014 konnte sie als Erfolge verbuchen. Nur bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 schaffte es die AKP trotz ihrer 41 Prozent nicht, allein die Regierung zu stellen. Das hing bekanntlich mit dem Erfolg der HDP zusammen, der es gelungen war, die 10-Prozent-Hürde recht deutlich zu übertreffen.

Spätestens beim Referendum über die Teiländerung der Verfassung im September 2010 zeichnete sich eindeutig ab, wohin der Kurs der Regierungspartei wies. Hauptziel war dabei eine veränderte Zusammensetzung zweier entscheidender Justizorgane, nämlich des Verfassungsgerichtshofs und des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte. Die AKP zielte darauf ab, sich der Kontrolle durch eine von ihr unabhängige Justiz zu entledigen. Als schließlich die landesweiten Proteste nach der Besetzung des Gezi-Parks im Jahr 2013 in Westeuropa als Fortsetzung des "arabischen Frühlings" gefeiert, von der türkischen Regierung jedoch mit massiver Repression niedergeschlagen wurden, verschob sich die westliche Außensicht der Verhältnisse in der Türkei. Zumindest nahm man diese nun eher als mehrheitsorientierten Populismus wahr, der durch das geplante Präsidialsystem noch verfestigt werden sollte. Erdogan hatte sich niemals dauerhaft für Minderheiten eingesetzt, sondern sie allenfalls als Manövriermasse benutzt, um sich von Mehrheiten vorantragen zu lassen, die er als Volkes Wille auslegen konnte, dessen Umsetzung in seinen Händen am besten aufgehoben sei.


Autokratische Umwandlung von Staat und Gesellschaft

Auf welche Weise hat es die AKP bewerkstelligt, traditionelle Eliten des Landes in Teilen durch andere zu ersetzen, ohne die Herrschaft als solche und die gesellschaftlichen Verhältnisse von Grund auf zu erschüttern? In den letzten zehn Jahren zeichnet sich eine deutliche Transformation des Staates und der Gesellschaft von einem säkularistischen, bürokratischen und militärischen Staat hin zu einem autoritären, konsumorientierten, neoliberalen Unternehmerstaat ab. Die aktuelle Form des Regierens ist jedoch nicht mehr neoliberal, sondern gleicht einer Usurpation des Eigentums.

Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, wie es zum Bruch zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung kam. Beide streben eine islamistische Durchdringung an, doch wollte Gülen durch beharrliche Missionierung und Ausbildung von unten her eine neue Gesellschaft in der Türkei und im Nahen Osten aufbauen. Mit dieser langfristigen Strategie korrespondierte ursprünglich das Modell aller islamistischen Strömungen. Die AKP strebte jedoch zunehmend eine Transformation von oben an, so daß eine Idee die andere fast zwangsläufig eliminieren mußte. Nach dem Putschversuch eignete sich die Regierung binnen kürzester Fristen das gesamte Eigentum der Gülen-Bewegung an, das diese in 40 Jahren an Unternehmen, Geldern und Prestige aufgebaut hatte. Nun ist der Staat der größte Unternehmer und schafft sich durch den Wiederverkauf von Firmen und Liegenschaften eine ihm gewogene Klientel, die ihren Aufstieg der AKP verdankt.

Über diese Umschichtung der Kapitalfraktionen hinaus wird eine Usurpation der politischen Rechte und Repräsentation, der Meinungsfreiheit und Sprache, des Gedächtnisses und der öffentlichen Räume durchgesetzt. Nach dem Militärputsch bediente sich die Regierung einer disziplinierenden Doktrin, die man nicht mehr als neoliberal bezeichnen kann. Sie hat die Justiz in ihrem Sinne politisiert, das Parlament de facto außer Kraft gesetzt und die Öffentlichkeit kolonisiert. Erzeugt wurde ein neuer islamistischer, nationalistischer Körper, der zur Mobilisierung bereit ist. Die alte bürgerliche Klasse wurde diszipliniert, eine neue durch staatliche Zuschüsse und Ausschreibungen geschaffen. Staatliche Gouverneure agieren als Parteimitglieder der AKP, die Universitäten stehen unter Kontrolle des Regimes. Die AKP-Regierung hat in den letzten zehn Jahren etwa hundert neue Universitäten aufgebaut, die wie Besserungsanstalten für Mitarbeiter und Studierende agieren. Es gibt keine Instanz mehr, die sich der Regierung widersetzen kann.

Die AKP-Regierung hat sich seit dem Putsch mit rechtsradikalen Nationalisten verbündet, ihren Krieg in den kurdischen Gebieten verschärft und die gesamte Opposition mit einer Welle von Verhaftungen überzogen. Der türkische Staat hat sich von einem bürokratischen in ein reaktionäres Gebilde verwandelt, das einen neuen Gesellschaftstypus hervorgebracht hat. Teile der islamistischen Fraktionen wurden abgestoßen, statt dessen Bündnisse mit Intellektuellen und Journalisten aus nationalistischen Kreisen geschlossen, die neue Kader und Berater der AKP geworden sind. Diese Transformation ist noch nicht abgeschlossen. Man könnte von einem totalitären Zwischenregime sprechen, das sich alte bürokratische Institutionen einverleibt, aber seine neuen eigenständigen Institutionen und Gesetze noch nicht vollkommen etabliert hat. Es herrscht ein Ausnahmezustand, der Parlament, Justiz und Medien außer Kraft gesetzt hat.


Zwei neue Identitäten der kurdischen Bewegung

Die Nachkommen der Kurdinnen und Kurden, die sich in den 90er Jahren durch Zwangsmigration in den Armenbezirken der Großstädte niedergelassen haben, verfolgen eine Politik der Straße. Diese Jugendlichen opponieren gegen die Staatsgewalt, indem sie eine Selbstverwaltung aufzubauen versuchen. Sie wollen weder den Verlusten der Vergangenheit nachtrauern, noch ihre Hoffnungen in eine ferne Zukunft der Demokratisierung verschieben. Sie distanzieren sich von der Opferrolle und lassen sich nicht von der staatlichen Politik des Wartens gefangennehmen. Diese jugendlichen Gruppen wurden 2015 neutralisiert, als der türkische Staat die Selbstverteidigung in den kurdischen Städten niederschlug. Viele wurden getötet, andere gingen in die Berge zur PKK.

Zudem hat sich ein ziviler, legaler Arm der kurdischen Bewegung herausgebildet und ausgebreitet. Die HDP machte eine Politik nicht nur für die Kurden, sondern für alle ausgeschlossenen Identitäten auch im Westen der Türkei, um gemeinsam eine neue Politik durchzusetzen und eine andere Lebensweise zu etablieren. Dieser Ansatz schlägt vor, den Staat durch Dezentralisierung zu demokratisieren, während der unternehmerische, repressive Staat auf Zentralisierung jeglicher Macht setzt. Die frühere Generation kurdischer Politik in den 90er Jahren ging davon aus, daß man die Türken im Westteil des Landes durch Aufklärung über die Leiden der Kurden zu dem Entschluß bewegen könne, daß dies nicht ihr Krieg ist. Die neue Generation entwirft mit der demokratischen Autonomie eine alternative pluralistische Vorstellung und ruft alle auf, sich diesem Zukunftsprojekt anzuschließen. Dadurch hat die HDP nicht nur im Osten, sondern auch im Westen des Landes ihre Stimmen verdoppelt, wie auch die Kurdinnen und Kurden in Syrien eine beispielgebende Politik vertreten. Dieser Vorstoß, die AKP zu bremsen und ihr den Alleinvertretungsanspruch auf die Gestaltung der Zukunft abzusprechen, gefährdete den Machtausbau der AKP und ist eine wesentlichen Ursache dieses Krieges, der die Kurden vernichten, vertreiben und ihre Identität auslöschen soll.


Eigentumsfrage kann auf Demokratie verzichten

Der Traum des Jahres 2000, die Türkei sei auf dem Weg in eine liberale und offene Gesellschaft mit wachsendem Lebensstandard auch der armen Bevölkerungsteile ist zu einem Alptraum geworden. Die Hoffnung auf Demokratisierung, Prosperität und Anerkennung der Minderheiten wurde von den vermeintlich gemäßigten Modellislamisten zerschlagen, sobald diese die Macht erlangt hatten. Der repressive und bellizistische Kurs der AKP-Regierung wird nicht vor ihrem Sturz enden, so daß mit einem eskalierenden Krieg im eigenen Land wie auch in Syrien und im Irak zu rechnen ist.

Diese verheerende Entwicklung ist weit über den Dunstkreis des AKP-Regimes hinaus von unabweislichem Belang: Eigentum ist im kapitalistischen System sakrosankt. Eigentum wird in der Türkei auf die beschriebene Weise usurpiert und familisiert. Sollte diese Umschichtung längerfristig von Erfolg gekrönt sein, wäre es ein Musterbeispiel dafür, daß auch der moderne Kapitalismus auf liberale Demokratie verzichten kann.

Türkische und kurdische "Akademiker für den Frieden" haben einen Aufruf gegen diesen Krieg unterschrieben. Viele von ihnen wurden zu Opfern des Regimes, Hunderte verloren ihren Job, einige gingen nach Europa ins Exil. Sie alle bedürfen der Solidarität. Es geht um den Kampf für einen freiheitlichen Gesellschaftsentwurf wie in Rojava, einen Kampf der Menschlichkeit gegen die Barbarei, gegen ein repressives Regime der AKP und der rechtsradikalen Kräfte. Dieser Kampf beschränkt sich nicht auf die Kurden oder die türkische Opposition. Solidarität im internationalistischen Sinn gründet auf der Positionierung, daß es sich keineswegs um eine Hilfeleistung in entlegener Bedrängnis, sondern um denselben Kampf gegen einen gemeinsamen Feind handelt, der auch und gerade im eigenen Land steht.


Berichte und Interviews zur 21. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter
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BERICHT/059: 21. Linke Literaturmesse - und nicht vergessen ... (1) (SB)
BERICHT/060: 21. Linke Literaturmesse - und nicht vergessen ... (2) (SB)
BERICHT/061: 21. Linke Literaturmesse - und was wirklich geschah ... (SB)
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21. Dezember 2016


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