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BERICHT/071: Richtige Literatur im Falschen - Besinnung auf den Klassenkampf ... (SB)


Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf (...) findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen. Aber der Kampf von Klasse gegen Klasse ist ein politischer Kampf.
Karl Marx: Das Elend der Philosophie [1]


Die Klassengesellschaft wurde mit der im Grundgesetz verankerten Eigentumsordnung auch für die Bundesrepublik gleichsam axiomatisch vorausgesetzt, im Zuge des KPD-Verbots mit harten Bandagen durchgeboxt und mittels der Notstandsgesetze durch die Option des Ausnahmezustands präventiv abgesichert. Als wachsende Prosperität die befristete Etablierung des Wohlfahrtsstaats gestattete, konterte die postulierte Sozialpartnerschaft das Beharren auf einer fundamentalen gesellschaftlichen Widerspruchslage erfolgreich aus. Einsetzende Krisen des Kapitals erzwangen eine rabiate Verwertungsoffensive samt der ideologischen Versiegelung der herrschenden Verhältnisse, die in Gestalt des Neoliberalismus für alternativlos erklärt wurden. Nachdem der real existierende Sozialismus in die Knie gezwungen und postum als eine zum Scheitern verdammte historische Fehlentwicklung diskreditiert worden war, erübrigte sich die Alimentierung der hiesigen Lebensverhältnisse, so daß der Demontage des Sozialstaats nichts mehr im Wege stand. Der massive Ausbau des Niedriglohnsektors, das Hartz-IV-Regime und die Ökonomisierung des Gesundheitswesens schufen Bedingungen, die mehr denn je in der Geschichte der Bundesrepublik von der Existenz einer Klassengesellschaft zeugen, auch wenn deren Leugnung unterdessen den Charakter hegemonialer Ausschließlichkeit angenommen hat.

Der Klassenkampf von oben war so erfolgreich, daß er jenen von unten fast zur Bedeutungslosigkeit degradiert hat. Das heißt jedoch nicht, daß damit die Klassen verschwunden wären, wenngleich sich ihre Zusammensetzung gravierend verändert hat und einer Neubestimmung bedarf. Die Ausbeutung der Arbeitskraft ist nicht geringer, die repressive Zurichtung schärfer, die Spaltung, Fragmentierung und Entwurzelung der Lohnabhängigen und Ausgegrenzten hängt wie ein Damoklesschwert über dem Nacken zahlloser Menschen. In den fetten Jahren mit der Illusion umgarnt, daß dieser Wohlstand nie enden werde, und durch eine beispiellose Kodifizierung und Verrechtlichung ritualisierter Aushandlungsprozeduren des Kämpfens entwöhnt, komplettiert die Beteiligung an diesem System den Druck von außen um den eigenhändig enger geschnallten Gürtel in mageren Zeiten.

Was will uns Marx mit den eingangs zitierten Worten sagen? Zum einen, daß die Klassen ein Resultat der ökonomischen Verhältnisse sind und die Herrschaft des Kapitals die so hervorgebrachte Arbeiterschaft einer gemeinsamen Situation unterwirft, ob dies die Betroffenen wollen und realisieren oder nicht. Daraus folgt zum anderen keineswegs ein zwangsläufiges Erfassen dieser Lage samt einer gewissermaßen automatischen Erhebung mit dem Ziel, diese Verhältnisse umzuwälzen. Im Kampf findet diese Masse zusammen und konstituiert sich als Klasse für sich, schreibt Marx, was einen Sektor der marxistischen Theoriebildung zu der Auffassung geführt hat, daß erst die geführten Kämpfe den Klassenbegriff auf handlungsrelevante Weise ins Leben rufen.

Das mag befremdlich anmuten, bricht diese Denkweise doch mit der vertrauten Ordnungsvorstellung ontologischer Bestimmungen, die sich dem anzupassen versucht, was vorgegeben erscheint. Die bloße Reflexion der Verhältnisse bleibt indessen denselben verhaftet und fällt hinter die elfte Feuerbachthese zurück, selbst wenn sie sich in eine linke Terminologie kleidet. Wo aber der Mensch allen Ernstes antritt, die Welt zu verändern, bleibt kein Stein auf dem andern, was folglich auch für vermeintliche Trittsteine gilt, die ein Curriculum des Klassenkampfs vorgaukeln, dessen fleißige Absolvierung mit der Graduierung zum Sozialismus belohnt wird.


Literatur in der neuen Klassengesellschaft

Das Symposium "Richtige Literatur im Falschen" war vom 7. - 9. Juni 2018 in der Dortmunder Zeche Zollern zu Gast, die dem Westfälischen Landesmuseum für Industriekultur untersteht. Auf Einladung des Fritz-Hüser-Instituts für Literatur und Kultur der Arbeitswelt trafen die Autorinnen und Autoren der Kerngruppe mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zusammen, um zum Thema "Literatur in der neuen Klassengesellschaft" zu diskutieren. [2] Nachdem im April 2015 im Brechthaus Berlin die Tagung "Richtige Literatur im Falschen? Schriftsteller - Kapitalismus - Kritik" erfolgreich realisiert worden war, führte das große Interesse an einer Fortsetzung des Arbeitszusammenhangs zu dem Beschluß, das Symposium mit einer Kerngruppe und themenbezogenen Gästen zu verstetigen. Nach Tagungen im Berliner Brechthaus 2016 und im Forum Stadtpark in Graz 2017 fiel die Wahl in diesem Jahr auf Dortmund und die Zeche Zollern, einen symbolträchtigen Ort tiefgreifender Veränderungen der Arbeitswelt.

In Fortsetzung der drei vorangegangenen Symposien ging es nun darum, die bisherigen Debatten zu "Realismus" und "Zukunft" zusammenzuführen. Dazu wurden die konkreten sozialen Verhältnisse in der heutigen ausdifferenzierten Klassengesellschaft genauer in den Blick genommen, um welthaltiges Schreiben in der Gegenwart zu ermöglichen wie auch die in diesen widersprüchlichen Verhältnissen schlummernden Zukunftspotentiale zu identifizieren. So wurde diskutiert, auf welche Weise schreibende Menschen die neue Klassengesellschaft zwischen Stammbelegschaften im Exportsektor, prekär Beschäftigten, abgehängten Armen und oberen Zehntausend adäquat erfassen und exemplarisch die Chancen eines neuen Realismus ausloten können.

Als Referent des Abendvortrags zum Thema "Gibt es heute noch soziale Klassen?", der als Keynote das Symposium thematisch eröffnete, brachte Dr. Hans-Jürgen Urban seine Expertise als Gewerkschafter und Sozialwissenschaftler ein. Er ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, zuständig für Fragen der Sozialpolitik, des Arbeitsschutzes sowie der beruflichen Bildung, wie auch Privatdozent an der Universität Jena im Fachbereich Soziologie.


Im Vortrag am Stehpult - Foto: © 2018 by Schattenblick

Hans-Jürgen Urban
Foto: © 2018 by Schattenblick


Die Hegemonie des Neoliberalismus brechen

Wie Hans-Jürgen Urban einräumte, wandere sein Beitrag durch die Soziologie und die Gewerkschaftspolitik, während er die Literatur nur am Rande streife, weil er von ihr die geringste Ahnung habe. Um dem Kontext von Literaturdebatten Rechnung zu tragen, gehe er von seinen subjektiven Erfahrungen und Assoziationen aus. Er folge dabei der einfachen These, daß es der engagierten Klassenliteratur, die er im Laufe seiner politischen Biographie kennengelernt habe, genauso geht wie der Klasse selbst: Sie sind nicht verschwunden, aber fast unkenntlich geworden. Trotz alledem schließe er nicht aus, daß Klassenliteratur eine neue wichtige Funktion erlangen könne, solidarisches, klassenorientiertes politisches Handeln wieder stärker in Gang zu setzen, als wir das gegenwärtig erleben.

Sei man weder als Produzent noch systematisch als Konsument ein Experte von Literatur, liege der Griff nach den Theoretikern nahe. Er habe es aber dann doch nicht geschaffft, noch einmal bei Walter Benjamin, Georg Lukács und Antonio Gramsci oder zur Literatur der Arbeitswelt bei der Gruppe 61 oder dem Bitterfelder Weg nachzuschlagen. Immerhin sei es ihm wenigstens gelungen, in die Reportagen von Günter Wallraff und bei Max von der Grün reinzuschauen, doch lasse sich all das gegenwärtig nicht eins zu eins übertragen. Deshalb habe er Zuflucht bei dem marxistisch orientierten Literaturtheoretiker Terry Eagleton gesucht, der ihm den plausiblen Gedanken mitgegeben habe: Suche nicht nach der Definition von Literatur, es gibt sie nicht. Literatur ist das, was als solche definiert wird, sie ist das, was unter Auseinandersetzungen in der Gesellschaft als Konstrukt akzeptiert wird. Der Kanon von angeblicher Nationalkultur ist nichts anderes als eine Verständigung derjenigen, die Verständigungsmacht haben, dies zu definieren. Und als eine seiner Schlußfolgerungen: Wir haben also entdeckt, daß Literatur nicht in dem Sinne existiert, wie das zum Beispiel Insekten tun, und daß die Werturteile, die sie konstituieren, historisch veränderlich und selbst eng mit den gesellschaftlichen Ideologien verbunden sind. Sie verweisen uns letzten Endes nicht auf einen privaten Geschmack, sondern auf die Grundannahmen, mit denen bestimmte soziale Gruppen Macht über andere ausüben.

Beim Symposium solle es um eine Literatur gehen, die eine Hilfe bei der Formierung progressiver Akteure sein könnte, die sich aus dieser völlig zerklüfteten ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Landschaft zusammenfügen und das angehen, was wir die Hegemonie des Neoliberalismus nennen. Denke man in diese Richtung, gelange man zu der Frage, was diese sozialen Klassen eigentlich ausmacht.


Plädoyer für ein Beharren auf den Klassenbegriff

Zur Begriffsbestimmung schlug Urban die traditionalistische Auffassung vor, Klassen als soziale Großgruppen von Individuen zu sehen, die gemeinsame Lebensverhältnisse teilen, während Strukturelemente herrschen, die ihr Leben bestimmen: Eigentumsverhältnisse, die ihnen den direkten Zugang zu den Mitteln verwehren, die sie zur Reproduktion ihres Lebens brauchen. Machtverhältnisse, in denen angesichts der eigenen Unterlegenheit nur durch kollektive Organisationen eigene Interessen vertreten werden können. Verteilungsverhältnisse, unter denen diejenigen, die Produktionsmittel besitzen und sich daraus, gerechtfertigt durch die Rechtsordnung, die Produkte der Arbeit, die aus den Produktionsmitteln und der lebendigen Arbeit entstehen, aneignen können. Und es geht um Abhängigkeitsverhältnisse im sozialen Sinn, aber eben nicht nur.

Diese gemeinsame Lage, so eine an den Marxschen Vorstellungen orientierte Sichtweise, schafft eine objektive Gemeinsamkeit, aber keine kollektiv handelnde Klasse. Die Formierung von Klassen ist ein ökonomischer, vor allem aber auch ein sozialer, politischer und kultureller Prozeß. Er widerspreche jedoch der Auffassung, daß diese Klassen nur dann existieren, wenn sie kollektiv revolutionär handeln. Klassenhandeln müsse keineswegs immer revolutionär sein - weder das Individuum noch das Kollektiv handele stets systemverändernd, das sei und bleibe eher die Ausnahme: Klassenhandeln kann konkurrenzorientiert sein, es kann sozialpartnerschaftlich sein, es kann eher machtorientiert sein und natürlich kann es auch revolutionär transformativ sein, so der Referent.

Einer seiner wichtigsten akademischen Lehrer, Frank Deppe, habe in dem Buch "Einheit und Spaltung der Arbeiterklasse" plausibel belegt, warum nicht die Einheit, sondern die Spaltung der Klasse der Normalzustand ist: Die Individuen befinden sich zwar strukturell in einer gemeinsamen Lebenslage, doch ist ihre konkrete Lebenswelt durch zahlreiche Unterschiede wie soziale Segmentierung, Pluralismus im ethnischen Sinne, nicht auf Ökonomie reduzierbare Dominanz- und Machtverhältnisse geprägt, so daß kollektives Handeln immer nur das Resultat intensiver Diskursprozesse und vor allem der kollektiven Auswertung von Kampferfahrungen sein könne. In den letzten Jahrzehnten sei das systemstabilisierende Verhalten erfolgreich gewesen, das revolutionäre hingegen in die Defensive geraten. In der Phase des fordistischen Wohlfahrtstaats ließ sich Klassenhandeln mit kollektiven Erfolgen realisieren, ohne jedoch die Grundstrukturen der Verhältnisse zu transformieren. Daß unter kapitalistischen Bedingungen ein historisch einmaliges Niveau an materiellem Wohlstand erkämpft werden konnte, nährte lange Zeit die Illusion, daß diese Gesellschaft nicht mehr transformationsbedürftig sei. Ohne die Segmentierungen und Diskriminierungen auch im Wohlfahrtsstaat zu vernachlässigen, habe es sich doch um eine zivilisatorische Errungenschaft gehandelt, die ihren Wert erst zu dem Zeitpunkt wirklich zu erkennen gab, als sie abgebaut wurde.

Die Krise des Fordismus und des wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus hat die Gesellschaft in all ihren Ebenen erschüttert und sowohl die Arbeitswelt als auch die Reproduktion massiv verändert. Die Zerklüftung der sozialen Klasse führt dazu, daß diese kaum noch kollektiver Handlungen fähig ist. Klaus Dörre spricht von einer demobilisierten Klassengesellschaft, die nach strukturellen Gesichtspunkten immer noch eine Klassengesellschaft ist, aber nicht als solche handelt. Warum ist das so? Die Segmentierung der objektiven Lebenssituation führt zu tief gespaltenen Lebenserfahrungen. Inzwischen sind viele Menschen gar nicht mehr in der Lage, ihre eigene soziale Lage zu erkennen, sie mit Herrschaftsverhältnissen in Verbindung zu bringen und Transformationsmöglichkeiten in die Hand zu bekommen, so Urban. Antonio Gramsci prägte den Begriff des "Alltagsverstands" als das, was sich ohne große theoretische Reflexionen in allgemeinen Erfahrungen niederschlägt, die man aus der Lebenssituation ableiten kann. An diesem Stoff der Erfahrungen könne gearbeitet werden in Prozessen der Diskussion, der Selbsterfahrung und des Lernens, aber auch des Inputs von außen durch eine gewerkschaftliche Organisation, durch Intellektuelle, Kunst und Literatur. Wenngleich sich das rohe Material der Emotionen nicht von allein zu gesellschaftskritischem Bewußtsein zusammenfüge, könne es doch durch diese Impulse in ein soziales Handeln verwandelt werden, das die Strukturen verändert, unter denen die Menschen objektiv leiden.


Schwund der Arbeiterbewegung

Urban regte dazu an, die Debatte um die Thesen Didier Eribons aufzugreifen und zu nutzen. Er zitierte dessen wohl am häufigsten rezipierte Aussage: "Was aus der politischen Diskussion und den kritischen Diskursen verschwand, war nicht nur die Arbeiterbewegung mit ihren Kämpfen und Traditionen, es waren die Arbeiter selbst, ihre Kultur, ihre spezifischen Lebensbedingungen, ihre Hoffnungen, ihre Wünsche." Und damit auch ihre Literatur und ihre Art und Weise, sich kulturell ihrer eigenen Lebenssituation zu vergewissern. Eribon spreche die Entproletarisierung durch den Neoliberalismus der sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien unter der New-Labour-Strategie an, wenn er von der kulturellen Abwertung berichte. Niemand habe diesen sozial ausgegrenzten Menschen beigestanden, das zu verstehen und eben nicht in xenophobe und andere reaktionäre Deutungsmuster abzugleiten. Es fehlte ein den Alltagsverstand strukturierender Faktor, nicht im Sinne einer Avantgarde, die interveniert und das Richtige präsentiert, aber durchaus im Sinne von Impulsen, die dazu Anlaß geben, sich Gedanken über die eigene Situation zu machen. Dieser neoliberale Weg ist bis heute vorangeschritten, und es ist eine große Tragödie der Linken insgesamt, daß gerade diejenigen, die massenwirksam in die Milieus der abhängig Arbeitenden hineinwirken könnten, heute schlicht und einfach ausfallen, so der Referent.

Der Abschied von der Arbeiterbewegung und den Klassenfragen lasse sich auch in der akademischen Debatte als eine Hinwendung zu poststrukturalistischen Diskursen identifizieren. Bereits in der Traditionslinie der Marburger Abendroth-Schule und der Kritischen Theorie habe sich diese Abkehr angebahnt. Wohl kritisiert Habermas in seiner "Theorie des kommunikativen Wandels" den Wohlfahrtsstaat als eine Kolonialisierung der Lebenswelten, weil er über die Interventionslinien Recht und Geld nicht die Lebensbedingungen wirklich verbessert, sondern Bürokratisierung und Ökonomisierung hervorgerufen hat. Daraus entwickelte sich jedoch die Vorstellung, daß die Klassenauseinandersetzung durch eine wohlfahrtsstaatliche Regulierung suspendiert sei und sich progressive Politik eben anderen Sphären zuwenden müsse, in denen Macht und Herrschaft ausgeübt wird. Diese Wende habe das Blickfeld derjenigen geöffnet, die aus einer eher politökonomischen Tradition kamen, und die Diskussion um Themen der Diskriminierung von Menschen etwa aufgrund sexueller Orientierung erweitert. Das Problem sei jedoch nicht das Hinzunehmen dieser Dimensionen in linke Politikvorstellungen, sondern die Loslösung von der sozialen und von der Klassenfrage gewesen. Urban flocht zur Veranschaulichung eine Anekdote ein, die von einer Bezirkskonferenz der IG Metall handelte. Auf den an sich brillanten Vortrag einer Wissenschaftlerin über Dinge, die in linke emanzipatorische Politik hineingehörten, erwiderte ein Betriebsrat, der keineswegs ein Rechtspopulist und Reaktionär ist: "Ich habe nichts verstanden und glaube, ihr versteht uns auch nicht." Dies unterstreiche eine wechselseitige Entfremdung, die es zu berücksichtigen gelte.

Heute kehre die Klassendynamik in unerwarteter Weise zurück, denn ein wesentlicher Impuls, wieder über Klassen reden zu dürfen, sei die Diskussion über die Formierung einer neuen herrschenden Klasse von oben. Vor Jahren hat Ralf Dahrendorf von der globalen Klasse gesprochen, die sich im modernen Kapitalismus herausbildet. Paul Windolf thematisierte die Dienstklasse des Finanzmarktkapitalismus. Andreas Reckwitz sieht eine kosmopolitische Klasse als einen Teil der aufsteigenden Mittelschicht. Mit Warren Buffett verkündet einer der reichsten Männer der Welt in aller Offenheit, daß Klassenkampf herrsche, und es seine Klasse sei, die ihn begonnen habe und gewinnen werde. Wird diese Klassenpolitik von oben durch eine Klassenpolitik von unten beantwortet? Diese Frage müsse man leider erst einmal mit einem Nein beantworten, so der Referent.


Fünf Bewährungsproben linker Politik

Was müßte geschehen, um diese Situation zu überwinden und die Konfrontation von unten wieder aufzunehmen? Urban bedient sich in diesem Zusammenhang des Begriffes "Bewährungsproben", den Luc Boltanski und Ôve Chiapello in ihrem Buch "Neuer Geist des Kapitalismus" in einem etwas anderen Kontext entwickelt haben. Er benennt fünf Bewährungsproben linker Politik, die es zu meistern gilt. Zum ersten müsse eine adäquate Antwort auf den sozialstrukturellen Wandel und den damit einhergehenden kulturellen Wandel unter denjenigen gefunden werden, die unter den heutigen Bedingungen jeglicher Formen abhängiger Arbeit leben. Wer einen Arbeitskampf in der Stahlindustrie organisiert hat und bei den Arbeitskämpfen der Kita-Kolleginnen präsent war, weiß, daß das unterschiedliche Welten sind. Wer mit den Clickworkern in der neuen Internetplattformökonomie über ihren Status und mögliche Streiks in ihrem Arbeitsfeld spricht, steht wiederum vor ganz anderen Herausforderungen. Dies alles systematisch zu erforschen, muß Gegenstand der weiteren Arbeit sein, weil andernfalls kein gemeinsames Handeln entstehen kann.

Die zweite Bewährungsprobe besteht darin, die Spaltung in Klassenfragen und andere Formen der Diskriminierung zu überwinden. Nicht farbig, schwul, lesbisch, bi- oder transsexuell zu sein, sei das Problem, sondern die Verbindung mit der Klassenfrage. Es könne sogar der Marketingerfolg eines schwulen Politikers sein, als Repräsentant einer kulturell modernen Gesellschaft aufzutreten. In den Niederungen des Prekariats sehe das ganz anders aus. Im Musikgeschäft lasse es sich in bare Münze verwandeln, ein angeblich kulturell authentischer Repräsentant der People of Color zu sein. Ganz anders verhalte es sich in den Gefängnissen der USA. Dies sei einer der wesentlichen Punkte in der akademischen Debatte, die längst auf politische Diskussionen und Auseinandersetzungen übergreife.

Drittens müsse als weitere zentrale Leerstelle der traditionellen Klassenpolitik das Thema der Ökologie unbedingt gefüllt werden. Wenngleich er die Gewerkschaften inzwischen auf einem guten Weg sehe, täten sie sich immer noch schwer damit, von drei Kreisläufen der Reproduktion auszugehen, die notwendigerweise auf der gewerkschaftlichen Agenda Platz finden müssen: Reproduktion der Arbeitskraft, Reproduktion der Natur und Reproduktion der Gesellschaft. Man denke nur an die fossilistische Komponente der industriellen Wertschöpfung in Gestalt der Automobilindustrie und Stahlindustrie wie auch die Schwierigkeiten eines sozialökologischen Transformationsprozesses, wenn die Interessen aus diesen drei Reproduktionssphären aufeinandertreffen. Die dabei auftretenden Zielkonflikte in den Griff zu bekommen, sei eine enorm schwierige Aufgabe, da die Forderungen der Natur nicht gegen die sozialen Reproduktionsinteressen der Menschen ausgespielt werden dürften. Noch beiße man sich die Zähne an der Frage aus, welche Wachstumsvorstellung zugrunde liegen sollte. Seines Erachtens sei nicht der Rückfall in eine keynesianische Wachstumsvorstellung die Lösung, aber ebensowenig eine Degrowth- oder Postwachstumsgesellschaft, die ganz ohne Wachstumsprozesse auskommen möchte. Vielmehr müsse man sich der Frage stellen, was wachsen und was nicht wachsen soll.

Die vierte Bewährungsprobe betrifft den Umstand, daß die ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Strukturen längst weit über die Nationalstaaten und Europa hinausreichen. Regulierungen, mit denen man der globalen Kapitalakkumulation Grenzen setzen will, müssen zwangsläufig transnational sein, wobei niemand wisse, wie das zu bewerkstelligen ist. Es gelte, ansatzweise taugliche Vorstellungen auf nationalstaatlicher und europäischer Ebene weiterzuentwickeln, wobei insbesondere die ungleiche Verteilung von Gewinnen und Verlusten auch zwischen den Menschen in den verschieden Weltregionen zu berücksichtigen sei. Auch hätten sich alle bislang praktizierten Formen von Bewegungen irgendwann totgelaufen, gescheitert an den Macht- und Strukturfragen des globalen Kapitalismus.

Zum fünften müssen die Gewerkschaften deutlich größere Organisationsmacht entfalten, um überhaupt wieder so etwas wie der Treiber einer stärker klassenorientierten Politik zu werden. In allen entwickelten kapitalistischen Ländern ist eine eklatante Schwächung der organisierten Arbeit und ihrer institutionellen Errungenschaften zu verzeichnen. Das führt dazu, daß die Gewerkschaften insbesondere in Deutschland der Mitgliederfrage höchste Priorität einräumen. Das sei aus ihrer Perspektive auch nicht falsch, doch könne man schon neidisch werden, wenn man verfolge, wie sich die Gewerkschaften in vielen südeuropäischen Ländern auf eine bewundernswerte Weise und in einer anderen kulturellen Tradition über politische Streiks und Generalstreiks der katastrophalen Austeritätspolitik zu erwehren suchen. Wiederum verweise der Umstand, daß viele dieser Gewerkschaftsbewegungen in der Substanz dergestalt geschwächt sind, daß sie auf der Straße demonstrieren müssen, weil sie in den Betrieben nicht mehr präsent sind, auf ein strukturell defensives Element. Deswegen sei an dieser Stelle Organisationslernen im eigentlichen Sinne gefragt. Die deutschen Gewerkschaften könnten mit ihrer Fokussierung auf die Mitgliederfrage, die gewollt oder ungewollt mit einer erheblichen Entpolitisierung und einem Rückzug aus gesellschaftspolitischen und internationalpolitischen Zusammenhängen einhergegangen ist, einen gehörigen Schluck aus der Pulle der politischen Mobilisierung gebrauchen, wie man sie in Südeuropa und anderen Weltregionen erlebe. Vor allem aber gelte es, Ideen zu entwickeln, wie Gewerkschaften in jene Bereiche gelangen, in denen sie präsent sein müssen, nämlich in die Betriebe. Wenn sie an dem Ort, wo die Kapitalverwertung stattfindet, wo der Ursprung des sozialen Klassengegensatzes angesiedelt ist, nicht präsent sind, werden sie früher oder später die Eigenschaft einer Gewerkschaften verlieren. Dann können sie zu einer NGO werden, was nichts Ehrenrühriges, aber auch nicht die Antwort ist. Um diese Kombination aus der Reorganisation des politischen Mandats und der Festigung von Organisationsmacht in Angriff zu nehmen, sollte man nicht zuletzt in Erwägung ziehen, Berichte von Kämpfen an der Basis auf Gewerkschaftskongressen nicht länger als Störfaktoren zu betrachten, so der Referent.


Was hat das mit Literatur zu tun?

Was könnte das alles mit Literatur zu tun haben? Er wisse es auch nicht, bemühte sich Urban fragend um einen abschließenden Brückenschlag zum Kontext des Symposiums. Indessen erinnere er sich daran, wie er seinerzeit unter anderem Literatur studiert und sich zwei Semester lang an Georg Büchner festgebissen habe. Dieser habe dem literarischen Idealismus abgeschworen und einem Sozialrealismus vehement das Wort geredet, was ihn damals sehr begeistert habe. "Meine Meinung ist die", schrieb Büchner 1835 an seinen Freund Karl Gutzkow, "wenn in dieser Welt etwas helfen soll, so ist es Gewalt. Wir wissen, was wir von unseren Fürsten zu erwarten haben. Alles, was sie bewilligen, wurde ihnen durch das Notwendige abgezogen. Und selbst das Bewilligte wurde uns hingeworfen wie eine erbettelte Gnade und ein elendes Kinderspielzeug, um dem ewigen Maulaffen Volk seine viel zu eng gewickelte Babyschnur vergessen zu machen." Etwas weiter sagt er: "Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzig revolutionäre Element in dieser Welt." In Arbeitskreisen junger Gewerkschafter habe man Büchners Briefe, Émile Zolas "Germinal" oder Willi Bredel gelesen, und solche Literatur als enormen Impuls der Politisierung erlebt.

Eines der letzten literarischen Dokumente, die in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit in diesem Sinne politisierend gewirkt haben, sei Günter Wallraffs "Ganz unten" gewesen. Es schildert auf der einen Seite in traditioneller Arbeiterklassenliteratur die Diskriminierung des Türken Ali in der Arbeitswelt von seiten des Kapitals wie auch der Kollegen, verbindet aber diese Geschichte nicht nur mit dem Klassenstatus Alis, sondern auch mit seiner Nationalität und kulturellen Fremdheit in dieser Welt. Da fiele einem nicht zuletzt Franz Josef Degenhardt mit seinen Romanen, aber auch seinen Liedern ein, die nicht nur aus Perspektive der Arbeiterklasse, sondern auch aus Perspektive all derjenigen erzählen, die man dabeihaben will. Auf jeden Fall dürfe man auch identitätsfremde Perspektiven wählen, denn was wäre die kritische Literatur ohne diejenigen, die sich in die Perspektive der anderen hineinversetzt und die Wirklichkeit rekonstruiert oder persifliert haben. Er halte das für unverzichtbar, so der Referent.

Nach seiner Erfahrung aus den Jugendseminaren in den letzten Jahren werde die Literatur als Belletristik zu einem Teil durch den Film abgelöst. Er könne insbesondere auf zwei Filme verweisen: Zum einen "Pride", die wunderbare Komödie, in der eine Gruppe lesbischer und schwuler Menschen die streikenden Bergarbeiter in den 80er Jahren unterstützt und die auf grandiose Weise die kulturellen Konflikte schildert, die dann positiv in eine gemeinsame Aktion gewendet werden. Zum anderen "Ich, Daniel Blake" von Ken Loach, eine filmische Erzählung über Diskriminierung im New Labour Welfare State, von dem nicht mehr viel Wohlfahrt übrig ist. In diese Richtung könnte man nachdenken, wenn es darum geht, die Ansätze einer Klassenanalyse und Überlegungen einer kulturellen, literarischen, filmischen Produktion miteinander zu verbinden. Urban schloß seinen Vortrag mit einem Zitat von Nancy Fraser: "Ein progressiver politischer Block müßte versuchen, die gemeinsamen Wurzeln von Klassen- und Statusdiskriminierung im finanzialisierten Kapitalismus herauszustellen. Denn erst, wenn man dieses System als eine einzige integrierte gesellschaftliche Totalität begreift, kann es gelingen, das Leiden und die Benachteiligung von Frauen, Emigrantinnen, People of Color sowie den Angehörigen sexueller Minderheiten mit den Erfahrungen derjenigen Teile der weißen Arbeiterklasse, die sich noch nicht endgültig dem Lager des rechten Populismus zugeordnet haben, in Verbindung zu setzen und diese verschiedenen Gruppen in einen Austausch zu bringen." [3] Er glaube, daß Literatur, Film und andere Formen kultureller Produktion als Medium des Austauschs wirken können, nicht als traditionelle Klassenliteratur im Sinne einer Avantgarde, wohl aber als Brücken über die zerklüfteten Verhältnisse, indem wechselseitig Lebenswelten und Erfahrungen geschildert werden, und als Medium, Prozesse anzuleiten, die dann dieses Material systematisch aufarbeiten. Und daß dies nicht allein über Kunst laufen kann, sondern auch einer gehörigen Portion theoretischer Kapitalismuskritik bedarf, müsse darunter ja nicht leiden.


Historisches Gebäude verklinkert - Foto: © 2018 by Schattenblick

Veranstaltungsort in der Zeche Zollern in Dortmund
Foto: © 2018 by Schattenblick


Fußnoten:


[1] Karl Marx: Das Elend der Philosophie, 1847. In: MEW, Band 4, S. 180 f.

[2] www.dortmund.de/de/leben_in_dortmund/bildungwissenschaft/fritz_hueser_institut/nachrichten_46/detailseiten_75.jsp?n

[3] www.zeitschrift-luxemburg.de/hegemonie-in-der-krise-weshalb-trump-das-machtvakuum-nicht-fuellt-und-was-das-fuer-gegenhegemoniale-projekte-bedeuten-koennte/


12. Juni 2018


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