Schattenblick → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT


BERICHT/092: Messe links - das japanische Gesicht der Studentenrevolte ... (SB)


Wir sind stolz darauf, diese historische Mission durchzuführen. Wir danken unseren japanischen Genossen aufrichtigst, uns mit dieser historischen Mission beauftragt zu haben. Wir werden durchhalten bis zum Ende, welches die historische Mission für uns vorsieht. Japanische Genossen, proletarische Genossen, befreit alle politischen Gefangenen! Führt die Anfangsphase des bewaffneten Aufstandes durch! Anfangsphase des bewaffneten Aufstands, globale Revolution, globaler revolutionärer Krieg! Banzai!
Aus der Abflugsdeklaration der ersten Flugzeugentführung der japanischen Rote Armee Fraktion


Wenn von "Rote Armee Fraktion" die Rede ist, denkt die deutsche Leserschaft im Jahr 2018 eher nicht an Japan. Daß dort Ende der 60er/Anfang der 70er Jahre nicht nur eine, sondern sogar drei auseinander hervorgehende Rote Armeen gegründet wurden und von sich reden machten, dürfte heute nur wenigen bekannt sein. Seinerzeit war das anders, wobei man rückblickend einräumen muß, daß schon der damalige Internationalismus bezüglich anderen Weltregionen erheblich bewanderter und mithin kenntnisreicher war. Um so interessanter ist ein im Frühjahr erschienenes Buch, das sich diesem Thema widmet.

Die Auseinandersetzung mit dieser historischen Phase der radikalen japanischen Linken, deren beeindruckende Stärke an einem Vorfall brach, der aufs engste mit der RAF zusammenhängt, ist zweifellos aufschlußreich und anregend. Eine Warnung sei allerdings vorausgeschickt: Wie die Geschichte des bewaffneten Kampfs in Deutschland lehrt, sollte man Vorsicht im Umgang mit angeblich historischen Wahrheiten und vermeintlich unumstößlichen Tatsachen walten lassen. Nirgendwo sonst scheint das Ringen um finale Deutungsmacht so vehement sein Werk zu verrichten, zu versiegeln, was aufgebrochen war, und den Mantel des Vergessens fast lückenos zu breiten.


Beim Vortrag mit Laptop am Tisch - Foto: © 2018 by Schattenblick

Gregor Wakounig
Foto: © 2018 by Schattenblick


Die japanische Rote Armee Fraktion

Im Rahmen der 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg stellte der Wiener Japanologe Gregor Wakounig das Buch "Die japanische Rote Armee Fraktion" [1] von William Andrews vor, an dessen Entstehung er beteiligt war und für das er das Vorwort geschrieben hat. Der britische Autor William Andrews lebt seit Jahren in Tokio, wo er vor allem zur Geschichte und Gegenwart der radikalen Linken in Japan wie auch zur freien japanischen Theaterszene forscht. International bekannt geworden ist er durch sein Buch "Dissenting Japan: A History of Japanese Radicalism and Counterculture from 1945 to Fukushima". Er führt einen Blog, der regelmäßig aktualisiert wird und in englischer Sprache Einblick in ein Thema gibt, das auf der aktivistischen Landkarte im Westen bisher ein großer weißer Fleck war, wie der Referent zu Recht anmerkte.

Im deutschsprachigen Raum findet sich relativ wenig Literatur zur japanischen Linken, dem Buch liegen hauptsächlich japanische Quellen zugrunde. Wie Wakounig ankündigte, dürfe man keinen Jubelbericht über die Rote Armee Fraktion erwarten. Vielmehr handle es sich um eine kritisches Darstellung, da die Geschichte der RAF in Japan eine sehr problematische für die Linke sei. Er stellte das Buch in ausgewählten Teilen vor und ergänzte dies um eigene Forschungen zu aktuellen Entwicklungen in der radikalen Linken Japans.


Militanz massenhafter politischer Auseinandersetzungen

Schon in Wakounigs einführenden Erläuterungen zeichnete sich die außergewöhnliche Militanz und breite Verankerung sozialer und politischer Kämpfe in der japanischen Nachkriegszeit ab. Der Linken bot sich in den 50er Jahren erstmals die Möglichkeit, sich legal zu organisieren, und 1960 kam es zu den ersten gemeinsamen Massenprotesten von Gewerkschaften und linken studentischen wie auch anderen zivilgesellschaftlichen bis hin zu religiösen Gruppen. Der Protest richtete sich gegen den Sicherheitsvertrag zwischen Japan und den USA. In Tokio gingen an einem Tag 330.000 Menschen auf die Straße, das Parlament wurde gestürmt, es gab Tote sowohl auf seiten der Polizei als auch der Demonstrierenden. Die Auseindersetzung wurde militant geführt, Revolution lag in der Luft. In den folgenden Jahren radikalisierte sich die Studentenbewegung noch mehr, ab 1969 fanden massivste Kämpfe an den Universitäten statt. Helm, Schlagstock, Mundschutz und Molotow-Cocktail gehörten zur Standardausrüstung auf den Demonstrationen. Man wollte sich gegen die rasch wachsende Repression der Polizei verteidigen, zugleich aber das kapitalistische System offensiv angreifen. Es kam zu weiteren Toten.

Die Studentenbewegung zersplitterte in sehr viele Kleingruppen teilweise obskurer Art, ideologisch war die ganze Bandbreite vom Anarchismus bis zum Stalinismus vertreten. Die meisten bedeutenden Gruppen sahen sich de facto im revolutionären Krieg, sie waren straff militärisch organisiert, hielten teils auch Revolutionsgerichte ab, waren machistisch und sexistisch. Es wurden rund 150 selbstverwaltete Studentenheime erkämpft, die bis heute als Zentren der radikalen Linken gelten. Die Universität von Tokio, damals die absolute Eliteuniversität des Landes, wurde besetzt, bis es zu einer gewaltsamen Räumung kam - einem der wichtigsten Ereignisse in der kollektiven Identität der radikalen Linken. Zehntausende waren in studentischen Gruppen organisiert, auch die Gewerkschaften waren stark und standen relativ weit links, der Einfluß der Kommunistischen Partei war bedeutsam, so der Referent.


Drei Phasen des bewaffneten Kampfes

In Japan gab es nacheinander drei Rote Armeen: Die Rote Armee Fraktion, die Vereinigte Rote Armee und die Japanische Rote Armee. 1969 wurde die Rote Armee Fraktion von Takaya Shiomi gegründet, die Gruppe agierte öffentlich, ihre Versammlungen waren frei zugänglich, natürlich überwacht von der Polizei. Es kam sehr schnell zu Repressionon wie Hausdurchsuchungen. Die RAF griff häufig Polizeistationen mit Molotow-Cocktails oder selbstgebauten primitiven Bomben an. Sie versuchte, im Elendsviertel Kamagasaki von Osaka, das seit Jahrzehnten immer wieder Schauplatz von gewaltätigen Riots der Obdachlosen gewesen war, einen weiteren Aufstand anzuzetteln, was jedoch scheiterte. Ende 1969 kam es zu einer weiteren Repressionswelle. Damals zählte die RAF bereits einige hundert Mitglieder, 10.000 Molotow-Cocktails wurden gefunden. Es kam zu einem Rückzug verschiedener Zellen der RAF aufs Land. Sie gingen in Berghütten und trainierten dort militärisch mit dem Ziel, die Kader nach Kuba oder Nordvietnam zu schicken, wo sie eine revolutionäre Ausbildung erhalten und damit nach Japan zurückkehren sollten.

Die RAF wurde innerhalb der Linken zwiespältig gesehen, einige hielten sie für Schaumschläger, die sich sehr weit aus dem Fenster lehnten. 1970 kam es zu einer Flugzeugentführung, bei der eine Maschine auf dem Inlandsflug gekapert wurde. Dem Piloten wurde befohlen, nach Nordkorea zu fliegen, doch war das Ziel letztendlich Kuba, wo man die Revolution unterstützen wollte. Den in Südkorea stationierten US-Besatzern gelang es jedoch, die Maschine ohne Kenntnis der japanischen Regierung in Seoul landen zu lassen. Dort wurde ein nordkoreanischer Flughafen imitiert, was anfangs sogar funktionierte. Bald entdeckten die Aktivisten jedoch im Hintergrund amerikanische Flugzeuge, worauf es zu einer tagelangen Pattsituation kam. Schließlich bot sich der japanische Vizetransportminister zum Austausch mit den 123 Geiseln in der Maschine an. Das Flugzeug flog dann nach Pjöngjang, aber die Aktivisten gelangten niemals nach Kuba. Bis heute gibt es unweit der Hauptstadt ein sogenanntes japanisches revolutionäres Dorf, in dem einige Überlebende der Entführung festgehalten werden. Damals waren sie einerseits ein Propagandamittel Nordkoreas, später wurden sie dazu gezwungen, Japaner zu entführen. Einige starben beim Versuch, aus Nordkorea zu fliehen. Dann und wann gibt es Kontakte mit den Überlebenden, vor kurzem haben sie eine Petition an das japanische Parlament geschickt, man möge sie nach Hause holen. Dort erwartet sie eine lange Haftstrafe. Takaya Shiomi war nicht an der Entführung beteiligt, weil er zu der Zeit schon im Gefängnis saß, aus dem er vor einigen Jahren als alter Mann entlassen wurde. Er hat 2015 noch in Tokio bei Bezirkswahlen kandidiert, wo er einige wenige Stimmen bekam, und ist 2017 gestorben.

Die Entführung war damals eine Mediensensation war und brachte der kleinen Gruppe wenige Monate nach ihrer offiziellen Gründung Schlagzeilen in der ganzen Welt. Das Ereignis entzündete auch Debatten unter den anderen Fraktionen der Linken über ihre Bedeutung und Effektivität. Einige äußerten Anerkennung, andere verurteilten die Aktion als reines Spektakel. Neben der Entblößung der Schwäche der japanischen Regierung und ihrer Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zeichnet sich die Aktion vor allem durch dramatische und teils bizarre Aspekte aus. Die Passagiere wurden gut behandelt, die Waffen waren Attrappen, und die Flugzeugentführer hatten sich in Nordkorea nicht einmal angekündigt. Der Pilot erhielt zur Navigation nach Pjöngjang lediglich eine Karte, die aus einem alten Schulbuch stammte. Einige der Entführer hatten keine Ahnung, wie eine Flugreise vor sich geht, und verpaßten schlicht den Abflug. Sie mußten die Operation abbrechen und mit dem Nachtzug zurück nach Tokio fahren, da nicht genug Geld für den Rückflug vorhanden war.

Aus heutiger Sicht etwas theatralisch wirkt eine sogenannte Abflugsdeklaration, die sich an die Genossen, die japanischen Massen und ans gesamte revolutionäre Weltproletariat richtet. Fehlschläge während der Anfangsphase des bewaffneten Aufstands 1969, beim Mai 1968 in Paris und der Kulturrevolution in China werden eingeräumt, doch bekräftigt die Deklaration das Vertrauen in die Weltpartei und die globale Rote Armee, mit deren Hilfe die Welt erobert und vereint würde. Der Marxismus-Leninismus werde die Grenzen überschreiten und die Völker der Welt verbinden. Aber man könne den bewaffneten Kampf nicht zu den Massen bringen, ohne zuerst die Partei darauf vorzubreiten. Alles würde damit anfangen, die Partei zu bewaffnen, und die Entführung sei ein Teil dieser Bewaffnung. Dann behauptete die Deklaration fälschlicherweise, daß die RAF mit der Weathermen-Fraktion des SDS in den USA verbündet sei und Aktivisten in den amerikanischen Organisationen permanent stationiert habe. Von Asien bis zu den Vereinigten Staaten, von Südamerika über Europa zum Nahen Osten, überallhin habe die RAF ihre Aktivisten ausgesandt. Sie werde die gefangenen Mitglieder befreien und nach Japan zurückkehren, um die Anfangsphase des bewaffneten Aufstands mit den neuen, im Ausland erlernten militärischen Fähigkeiten durchzuführen. Die Deklaration schloß mit den eingangs zitierten Worten. und zur Bekräftigung folgte am Ende noch der Bezug auf eine Mangafigur, die damals unter Linken sehr beliebt war, einen Underdog, der sich gegen alle Widrigkeiten hochkämpft. Dies zeige die Popkulturalisierung der damaligen Bewegung, so der Referent.


Buchcover 'Die japanische Rote Armee Fraktion' - Foto: 2018 by Schattenblick

Foto: 2018 by Schattenblick


Gewalt nach außen und innen

1971 wurde größtenteils von anarchistischen Schwarzhelmen eine Serie von Bombenanschlägen auf Polizeistationen und US-Einrichtungen verübt. Massenhafter Protest richtete sich gegen die Errichtung des Flughafens Narito in der Nähe von Tokio. Die Kämpfe eskalierten, drei Polizisten wurden getötet, bei Sprengstoffanschlägen kam es zum Tod von Unbeteiligten, was zu einer Verschärfung der Repression führte. Die RAF beschränkte sich weitgehend auf Banküberfälle und Raubüberfälle auf Waffenläden. Dann kam es zum Zusammenschluß mit einer anderen Gruppe zur Vereinigten Roten Armee, die wiederum offen auftrat.

Die allermeisten Gruppierungen in dieser Phase der Studentenbewegung waren trotz vordergründig nichthierarchischer Strukturen ausgesprochen sexistisch. Frauen wurde gesagt, sie sollten bei Demonstrationen im Hintergrund bleiben, erste Hilfe leisten oder verhaftete Aktivisten betreuen. Dem entsprach eine Arbeitsteilung, die ihnen das Kochen und den Abwasch zuwies. Frauen sollten allenfalls Führerinnen à la Rosa Luxemburg sein, ansonsten aber attraktive Mitläuferinnen, die in praktischen oder leiblichen Dingen aushalfen. Vergewaltigung und Mißbrauch fanden statt, wie auch arrangierte Ehen, die von der Führung im Interesse der Gruppe eingefordert wurden. Vergewaltigungen wurden vertuscht, sexuelle Gewalt wurde auch bei den Macht- und Richtungskämpfen zwischen den Gruppen eingesetzt. Als Studenten der revolutionären marxistischen Fraktion Kakumaru-ha einmal ihre Rivalen von der zentralen Kernfraktion in der Chiba-Universität verprügelten, wurde das mit Vergewaltigungen abgeschlossen, um die weiblichen Studierenden dieser Fraktion davon abzuhalten, weiterhin aktiv zu werden. Diese innere Gewalt eskalierte derart, daß im Laufe der Jahre 113 Tote bei internen Grabenkämpfen zu beklagen waren, was die Zahl der Opfer durch Polizeigewalt weit übertraf.

1971 zog sich die Vereinigte Rote Armee Fraktion in der Provinz Nagano, einer der ländlichsten und am dünnsten besiedelten Regionen des Landes, in das abgelegene Bergdorf Asama zurück. Anwohner verständigten schließlich die Behörden, worauf 1972 insgesamt 3000 Polizisten anrückten und eine schwer einnehmbare Berghütte belagerten, in der sich die Aktivisten mit einer Geisel verschanzt hatten. Die einwöchige Belagerung entwickelte sich zum prägendsten Ereignis für die japanische Nachkriegslinke. Die Medien berichteten live wie bei einer Seifenoper und diskutierten die Chancen der Eingeschlossenen, die namentlich bekannt waren. Diese wurden in der Bevölkerung weithin als Underdogs gesehen und angefeuert. Schließlich riß die Polizei mit schwerem Gerät die Vorderfront auf und stürmte die Berghütte, doch zog sich der Kampf von Stockwerk zu Stockwerk noch mehrere Stunden hin. Bei dem Schußwechsel wurden zwei Polizisten getötet, die Aktivisten schließlich gefangengenommen, die Geisel hatte unverletzt überlebt.


Am Wendepunkt - Niedergang der radikalen Linken

Nach der Erstürmung wurden die Leichen von einem Dutzend Menschen gefunden, die offenbar vor Revolutionsgerichten verurteilt und grausam hingerichtet worden waren. Einige der Opfer waren erst 16 Jahre alt, auch schwangere Frauen waren getötet worden. Die Mainstreammedien fielen über die gesamte Linke her und zeichneten von ihr das Bild eines blutrünstigen Kults. Für den linken Aktivismus war dieser Vorfall ein regelrechtes Trauma, Fassungslosigkeit und das Gefühl, verraten worden zu sein, machten die Runde. Dabei unterschied sich der Hintergrund der meisten Aktivisten der RAF nicht wesentlich von dem ihrer Altersgenossen, doch ihre ultimativen Entscheidungen waren erschütternd. Eben noch als Helden verehrt, die bis zuletzt gegen eine Übermacht gekämpft hatten, nahmen sie in einer jähen Wende monströse Züge an, da es keine Rechtertigung für die Lynchmorde gab.

Dies führte dazu, daß sich viele Leute von der damals etwa 10.000 Menschen zählenden radikalen Linken abwendeten. Das einschneidende Ereignis zog den zivilgesellschaftlichen Aktivismus schwer in Mitleidenschaft und führte zu einem Niedergang der japanischen Linken. Viele zogen sich ins Private oder in kulturelle Aktivitäten zurück, die Zeit der großen, militanten Demonstrationen war vorbei. Es kam zu einer Subkulturalisierung der Linken, und in den 80er Jahren hatten anarchistische Konzepte beträchtlichen Zulauf, die antiautoritär waren und sich klar von straff militärischen Entwürfen unterschieden. In der Forschung spricht man von einer Phase der Unsichtbarkeit der japanischen Linken bis etwa 2010. Es gab einen Wandel vom kämpfenden zum karitativen Aktivismus, viele ehemaligen Straßenkämpfer fanden sich Jahre später in Suppenküchen und anderen Initiativen ein.

Die Geschichte der Japanischen Roten Armee, die zumindest in der Vergangenheit hierzulande sehr viel besser als die beiden vorangegangenen Organisationen bekannt war, streifte der Referent nur kurz. Diese Phase des bewaffneten Kampfs trat in Japan selbst kaum in Erscheinung, sondern agierte international. Im Fokus der Weltöffentlichkeit stand die Zusammenarbeit mit der Volksfront für die Befreiung Palästinas (PFLP) und die Beteiligung an Flugzeugentführungen oder dem Anschlag auf dem israelischen Flughafen Lod im Jahr 1972.


Aktuelle Situation der autonomen Linken

Fukushima markiert einen Wendepunkt, an dem die Linke aus einer karitativen wieder eine kämpfende wurde. Am 11. März 2011 kam es zur Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Kernschmelze im Akw. Es waren Tausende Tote zu beklagen, das Land befand sich in einem Schockzustand. In einem links geprägten Stadtteil Tokios wurde eine erste Anti-Akw-Demonstration durchgeführt. Organisiert wurde sie von einer kleinen anarchistischen Gruppe, statt der erwarteten 200 kamen 15.000 Leute. Die Bewegung breitete sich rasant auf ganz Japan aus, und zum ersten Mal seit Jahrzehnten kam es wieder zu Massendemonstrationen. Die größte versammelte 150.000 Menschen vor dem Parlament in Tokio. Es kam zu Brüchen in der Konsumgesellschaft, die Leute diskutierten wieder, so Wakounig.

Nicht lange darauf kam es zu einer Bewegung für den Erhalt des Artikels 9 der Verfassung, der zu Pazifismus verpflichtet und die Wiederbewaffnung nach dem Krieg verboten hatte. Wenngleich er de facto längst untergraben wurde, da Japan schon lange wieder eine Armee hat, ist er doch von symbolischer Bedeutung. Die derzeitige Regierung unter dem rechtsextremen Shinzo Abe propagiert offen die Abschaffung des Artikels 9, weil sie abermals Kriege führen möchte. In diesem Zusammenhang machte erstmals wieder eine studentische Bewegung von sich reden, wobei sich allerdings angesichts des Stigmas selbst dezidiert linke Gruppierungen nicht als solche bezeichnen, sondern auf eine freiheitliche Demokratie beziehen. In der linken Bewegung werden soziale Fragen aufgeworfen, aber keine explizit klassenkämpferischen Parolen ausgegeben oder Diskurse geführt. Natürlich gibt es kleine Gruppen, die das trotz allem machen, doch liegt das weit unter der öffentlichen Wahrnehmungsschwelle. Die breitere Bewegung ist poppig, professionell und spricht massenwirksame Themen an. Sie führt zwar keinen linksradikalen, aber doch wieder einen linken Diskurs, wie es ihn in Japan lange Zeit nicht mehr gegeben hatte, so der Referent.

2020 werden Olympische Spiele in Tokio abgehalten, gegen die sich eine Bewegung formiert. Seit geraumer Zeit hat eine Welle von Gentrifizierungsmaßnahmen eingesetzt, es werden viele Parks, die seit Jahrzehnten von Obdachlosen besetzt sind, teils gewalttätig geräumt. Die Bewegung gegen die Olympischen Spiele war zunächst sehr klein, zumal die KP, eine 10-Prozent-Partei, lange gebraucht hat, um sich gegen die nationalistische Rhetorik der Olympiade, die das Land angeblich vereint und für die alle mit anpacken, zu stellen. Die KP verfügt traditionell über örtliche Strukturen und ist sehr gut verankert. Sie hat ihre Büros auch in Kleinstädten und Ortschaften und eine, allerdings relativ alte, Stammwählerschaft. Viele wählen sie auch, weil sie in den Gewerkschaften noch immer präsent ist und als Interessenvertretung gilt. Die Erringung des Kommunismus durch eine Revolution ist nicht mehr Teil des Parteiprogramms, de facto handelt es sich um eine sozialdemokratische Partei.

Was Hausbesetzungen betrifft, sind diese in Japan sehr selten und werden mit hohen Gefängnisstrafen geahndet. In den Studentenheimen gab es seit Ende der 60er Jahre Räume für Workshops, Konzerte und eben auch billigen Wohnraum. Der Niedergang der Linken führte jedoch auch zu einem Niedergang der selbstverwalteten Studentenheime, die größte Räumungswelle erfolgte in den 90er Jahren. Derzeit wird um eines der letzten dieser Heime in Kyoto gekämpft. Die Polizei geht mit Hausdurchsuchungen dagegen vor, und kürzlich wurde der Vertrag gekündigt, worauf es erstmals seit Jahrzehnten wieder zu einer Hausbesetzung kam.


Gregor Wakounig beim Vortrag - Foto: © 2018 by Schattenblick

Seit Fukushima wieder eine kämpfende Linke
Foto: © 2018 by Schattenblick


Rechter Vormarsch - Japan hat ein Extremismusproblem

Abschließend ging Wakounig auf sein wichtigstes Forschungsgebiet, nämlich Antifa in Japan ein. Nach seinen Worten hat das Land ein Extremismusproblem, die Regierungsmannschaft ist Teil eines rechtsextremen Think Tanks, dessen erklärtes Ziel es ist, Japan wieder in den Zustand vor 1945 zu bringen. Die LDP ist seit den 50er Jahren mit einer kurzen Unterbrechung von drei Jahren durchgängig an der Macht. Sie hat zwar verschiedene Flügel, doch derzeit stellt ihre rechteste Strömung die politische Führung des Landes. Shinzo Abe ist der Enkel eines Politikers, der im Tenno-Faschismus einer der führenden Köpfe und danach verurteilter Kriegsverbrecher war. Ihn bezeichnet der Regierungschef als sein politisches Vorbild.

Es gibt eine Vielzahl rechtsextremer Kleingruppen, die teils militaristisch in Phantasieuniformen auftreten. In den letzten Jahren hat die Zaitokukai (Gruppe gegen die Privilegien der koreanischen Minderheit) an Einfluß gewonnen. Ihre Aktivitäten reichen von militanten Parolen gegen Koreaner bis hin zu Schüssen auf deren Zentren. Binnen drei Jahren wurden in Japan mehr als tausend rechtsextreme Demonstrationen gezählt. Gegen diesen Vormarsch formiert sich seit 2009 eine autonome Antifa-Bewegung, die von Anfang an praktisch veranlagt war. Sie blockierte Straßen oder wurde mittels einer "Rassistenvermöbelungstruppe" aktiv, als die Rechten 2012 in Tokio koreanische Geschäfte angriffen. Inzwischen nennt sich die Gruppierung Counter Rassist Action Collective und hat landesweit Ortsgruppen. Ihr Aktionsrepertoire reicht von zivilem Ungehorsam bis zu direkten Aktionen, die dank der Antifa nach Jahrzehnten wieder Teil der Protestkultur geworden sind. Militanz ist für sie kein Selbstzweck, und wenn ihre Demonstrationen auch noch recht klein sind, versuchen sie doch, Zeichen zu setzen und mehr Menschen zu mobilisieren.


Fußnote:


[1] William Andrews: Die japanische Rote Armee Fraktion, bahoe books Wien 2018, 154 Seiten, 15,00 Euro, ISBN 978-3-903022-77-5


Berichte und Interviews zur 23. Linken Literaturmesse in Nürnberg im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → DIE BRILLE → REPORT:

BERICHT/087: Messe links - sich richtig stellen und richtigstellen ... (SB)
BERICHT/088: Messe links - Glut in der Asche ... (SB)
BERICHT/089: Messe links - G20, die Straße rebelliert ... (SB)
BERICHT/090: Messe links - die langen Arme der Türkei ... (SB)
BERICHT/091: Messe links - gewaltfrei fing es an ... (SB)
INTERVIEW/105: Messe links - Irrtum ausgeschlossen ...    Nick Brauns im Gespräch (SB)
INTERVIEW/106: Messe links - Protestparteienwahl entlädt soziale Qual ...    Werner Seppmann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/107: Messe links - die Revolution jagt die Geschichte ...    Kurt Baumann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/108: Messe links - von oben verworfen ...    Achim Szepanski im Gespräch (SB)
INTERVIEW/109: Messe links - Gleichberechtigung noch auf dem Weg ...    Ingrid Artus im Gespräch (SB)
INTERVIEW/110: Messe links - der Preis für die Stimme ...    Martin Balluch im Gespräch (SB)
INTERVIEW/111: Messe links - vorverurteilt ...    Inigo Schmitt-Reinholtz im Gespräch (SB)
INTERVIEW/112: Messe links - ökosozialistische Vision ...    Bruno Kern im Gespräch (SB)
INTERVIEW/113: Messe links - Dialektik der Führung ...    Lou Marin im Gespräch (SB)


8. Dezember 2018


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang