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ITALIEN/242: Die Linke muss zuerst die Gesellschaft zurückerobern, nicht allein die Regierung (spw)


spw - Ausgabe 4/2018 - Heft 227
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Meinung
Die Linke muss zuerst die Gesellschaft zurückerobern, nicht allein die Regierung

von Luciana Castellina


Für viele, zumindest für alle, die sich an das "jüngste" vergangene Jahrhundert erinnern, muss die Niederlage der italienischen Linken bei den Wahlen vom 4. März überraschend gewesen sein. Denn Italien konnte über viele Jahrzehnte mit Linkssein gleichgesetzt werden: Hier hat die stärkste (und beste) westliche kommunistische Partei gewirkt - mit fast zwei Millionen Mitgliedern und einem Stimmenanteil um die 30 Prozent. Und auch wenn die Partei nie an der Regierung war, hat sie dennoch dank ihres Engagements und ihrer Hegemonie aus der Opposition heraus zum Besten beigetragen, was in Italien je auf demokratischer und sozialer Ebene erreicht wurde.

Nach dem legendären 1968 - das hier bei uns mindestens zehn Jahre angedauert und zudem eine neuere Linke hervorgebracht hat - pilgerten tausende junge Leute aus ganz Europa hierher, um den "Fall Italien" aus der Nähe zu betrachten. Dies ging so weit, dass unsere Sprache als "das Englisch der Bewegung" definiert wurde. Viele haben tatsächlich Italienisch gelernt, um an unseren außerordentlichen Studenten- und Arbeiterversammlungen teilnehmen zu können.

Was ist also mit dieser ruhmreichen Linken geschehen? Wie ist es möglich, dass die wichtigste Partei der Linken, die Demokratische Partei (Partito Democratico, PD), auf nicht einmal 20 Prozent zusammengeschrumpft ist (und dass die Verluste gerade in den Regionen, die schon immer "rote Regionen" waren, so dramatisch ausgefallen sind: minus 32 Prozent in der Emilia-Romagna, minus 26 Prozent in den Marken, minus 25 Prozent in Umbrien, minus 24 Prozent in der Toskana)? Wie ist es möglich, dass die Italiener eine Regierung gewählt haben, die von den Überzeugungen eines Salvini dominiert ist, eines Rassisten, der aus Visegrad zu kommen scheint?

Ich glaube dennoch, dass es falsch wäre, das, was in unserem Land geschehen ist, als ein rein italienisches Phänomen zu betrachten. Unter Berücksichtigung der Unterschiede, die man notwendigerweise anerkennen muss, glaube ich doch, dass es einen gemeinsamen Grund für den Niedergang der Parteien gibt, die im Schoße der Arbeiterbewegung entstanden sind. Und genau davon möchte ich zuerst sprechen, bevor ich darauf zurückkomme, was genau in Italien geschehen ist.

Die Krise der Linken ist kein unerwarteter Zufall, sie ist Ergebnis eines nunmehr zehnjährigen Prozesses, der zu einer tiefgründigen Erosion nicht nur der Linken, sondern der Demokratie geführt hat. Am Anfang steht überall der Verlust dessen, was die Linke von jeher legitimiert hat. Ihre Fähigkeit, die sozialen Interessen (und folglich auch die Werte) der Arbeiterklasse und der mit ihr verbundenen sozialen Schichten politisch zu vertreten. Heute existiert diese Arbeiterklasse, der vom Marxismus die Hauptrolle während der Aufhebung(1) zugesprochen worden war, nicht mehr. Sie wurde aufgelöst, zum Teil durch die Entstehung neuer Technologie, vor allem aber aufgrund einer entschlossenen Willenskraft, diese zu zerstören.

Die einst bedeutende verarbeitende Industrie beschäftigt heute in Europa nicht mal mehr 8 Prozent der Arbeitskräfte (nur in Deutschland sind es noch 19 Prozent), während eine "Suppe" an prekärer und zersplitterter Arbeit um sich greift. In den wenigen verbleibenden großen Unternehmen gibt es für die Belegschaft keine einheitlichen Verträge, obwohl die Arbeitnehmer Seite an Seite die gleichen Aufgaben ausführen. Die Arbeitnehmer haben ihre Arbeitsverträge bei Zeitarbeitsfirmen und nicht beim Unternehmen, für das sie arbeiten, direkt. Die Arbeit wird heutzutage ausgelagert (outsourcing), wodurch die Arbeitnehmer gegeneinander aufgebracht werden. Und dann gibt es noch die Scheinselbstständigen, die Riders, die Uber, die Foodora, alle abhängig von anonymen Plattformen, in denen die Entscheidungen von Algorithmen getroffen werden.

Es gibt zudem einen kulturellen Grund, der die Repräsentation dieser zersplitterten Arbeit noch schwieriger macht: Die jungen Leute wurden davon überzeugt, sich frei und unabhängig von ihren Eltern fühlen zu können, denn sie sind nicht mehr dazu gezwungen, ein Leben am Fließband und unter einem Vorgesetzten zu verbringen. Tatsächlich sind sie aber nur Arbeitnehmer ohne Vertrag, und folglich ohne soziale Rechte (wir nennen dieses Phänomen "Uberisierung").

Diese uneinheitlichen Arbeitskräfte zu mobilisieren ist schwierig, auch weil sie geografisch verstreut sind und unter dem Druck des Outsourcing stehen. Wir haben es somit mit einer Mehrheit an "unterdrückten" Arbeitern zu tun, die nicht mehr schwerpunktmäßig im industriellen Sektor beschäftigt sind. Man könnte sie als Arbeitskräfte bezeichnen, die an der Basis arbeiten, und damit beschäftigt sind, durch tausende unbedeutende aber unerlässliche Aufgaben, unser zivilisiertes soziales Leben zu ermöglichen.

Es ist ein neues Proletariat entstanden, dessen Einigkeit jedoch instabil und schwer erreichbar ist, denn das Kapital hat Schritt um Schritt beseitigt, was einst zu dessen Zusammenhalt beigetragen hatte. Die Arbeitsbeziehungen wurden diversifiziert, viele Arbeiter wurden in das System integriert und dazu verleitet aufrechtzuerhalten, was sie in Wirklichkeit unterdrückt. Ein subtiles, verführerisches Vorgehen, das dazu führt, dass sie sich eher als Konsumenten fühlen und nicht als Arbeiter; ein Vorgehen, das sie davon überzeugt hat, mit ihren eigenen Ersparnissen zu kleinen Aktionären zu werden; aufgrund des Verfalls des öffentlichen Wohlfahrtsstaats dazu angetrieben, auf ein privates Versicherungssystem zurückzugreifen; Schuldner der Banken zu werden, um sich ein Haus kaufen zu können.

Die Linke, alle Linken in allen europäischen Ländern, sind sich dieser Veränderung nicht nur nicht vollständig klar geworden, sondern haben vielmehr noch zu ihr beigetragen. Sie haben zugelassen, dass diese Zersplitterung eintritt, oder, wie die PD in Italien, Gesetze verabschiedet, die diese befördert haben (vor allem der "job act"). Alle waren eingenommen von der Idee, dass die Flexibilität der Arbeit Reichtum bringen würde.

Warum sollten die Enkel der Arbeiterklasse weiterhin die Linke wählen, nachdem sie allmählich von den Errungenschaften, die über ein Jahrhundert erkämpft wurden, enteignet wurden? Ein enormer Teil der Gesellschaft ist ohne politische Vertretung zurückgeblieben und noch dazu der Hegemonie des extremen Individualismus ausgesetzt. Es herrscht ein Misstrauen gegenüber der Politik vor. Und die Politik zeichnet sich eben gerade dadurch aus, dass man Beziehungen zu anderen Menschen hat und beruht auf der Überzeugung, dass man seine Probleme nicht alleine lösen kann.

Es sollte hinzugefügt werden, dass mit der Globalisierung auch die Privatisierung der legislativen Macht stattgefunden hat. Entscheidungen von bedeutender Konsequenz für die Menschheit ergeben sich tatsächlich immer mehr aus kommerziellen oder finanziellen Verträgen, die weltweit zwischen großen Konzernen aufgestellt werden, während die Beschlüsse der Parlamente zunehmend zweitrangig sind. Für die Linke hat sich der Rahmen, in dem sie demokratisch handeln kann, in diesem Kontext dramatisch reduziert. (Hat der jüngste Kauf von Monsanto durch Bayer, um nur ein Beispiel zu nennen, diese vollständige Kontrolle, die der neue Koloss über das Saatgut hat, etwa keinen Einfluss auf unser Leben - wesentlich mehr, als viele der Entscheidungen, die unsere Parlamente treffen?).

Und dies ist nur ein Aspekt der Erosion der Demokratie, der fortschreitenden Verlagerung der Entscheidungsgewalt in die Hände von Privatleuten und/oder Managern, zum Nachteil der Parlamente, die nunmehr für die Geschwindigkeit des dritten Jahrtausends zu langsam handeln. Die Offensive, oder vielmehr die Gegenoffensive (denn es handelt sich um die Reaktion auf Veränderungen der Machtverhältnisse, die sich in der Welt zwischen Ende den 1960er und Anfang der 1970er Jahre aufgrund der Studenten- und Arbeiterkämpfe ereignet hatten) hat bereits 1973 mit dem Auftreten neuer Protagonisten wie den unabhängig gewordenen Ländern der Dritten Welt, begonnen.

Zu diesem Zeitpunkt wurde die Trilaterale Kommission gegründet, der Zusammenschluss der drei großen Namen des Kapitalismus dieser Zeit, der Vereinigten Staaten, Japans und Europas. Gegründet von Kissinger und Rockefeller, heißt es in ihrem Manifest: "Es ist zu viel Demokratie in der Welt gewachsen, das System kann es sich nicht leisten, die Wirtschaftspolitik ist zu komplex, um sie den Parlamenten, der Politik, zu überlassen." Seitdem wurden immer mehr Entscheidungen auf Führungskräfte übertragen und die demokratisch gewählten und kontrollierten Institutionen marginalisiert. Der Vorreiter dieser Transformation war die Europäische Union, aber auch die einzelnen Mitgliedstaaten haben sich bald auf die Transformation eingestellt. So sehr, dass nun immer mehr das Wort Governance anstatt von Regierung verwendet wird, was jedoch eine ganz andere Bedeutung hat: Bei dem Begriff Governance handelt es sich um den Vorstand einer Bank oder eines Unternehmens, Regierung ist der Ausdruck der Volkssouveränität.

Auch dieser fortschreitenden Entleerung der Demokratie hat sich die Linke ohne zu reagieren ergeben, in manchen Ländern ist sie sogar zu ihrer Fahnenträgerin geworden. Genau das ist in Italien passiert, und hier trägt die Führung der Demokratischen Partei Verantwortung. Ihr ehemaliger Vorstand und vormaliger Ministerpräsident Matteo Renzi ist nur der arroganteste Ausdruck davon. Die Beschneidung der Parlamentsrechte war die Konstante seiner Arbeit, bis er am 4. Dezember 2017 eine substanzielle Verfassungsänderung zu einem Referendum vorgelegt hat. Daraus ist die PD mit gebrochenen Knochen hervorgegangen, besiegt, auch aufgrund einer breiten Mobilisierung der großen Organisationen der Linken - der CGIL (der Gewerkschaftsbund), der ARCI (die größte säkulare kulturell-soziale Organisation mit einer Million Mitgliedern), der ANPI (der Partisanenverband) - einmal ein integraler Bestandteil der PD-Wählerschaft. Und doch ist das Risiko nicht beseitigt, denn dies ist die überall vorherrschende, subtilste und gefährlichste Tendenz. Macron in Frankreich verfolgt auf jeden Fall dieselbe politische Linie.

In Italien, wo sich Renzi vielleicht endgültig zurückgezogen hat, wurde die PD jedoch keiner kritischen Revision unterzogen und befindet sich nun in einer streitsüchtigen Zersetzung ihrer selbst. Und es ist interessant hervorzuheben, dass auch gerade die Fünf-Sterne-Bewegung, die jetzige Mehrheitspartei, die von vielen als eine raue und aufrichtige Form des linken Protests betrachtet wurde, genau bei derselben Vision gelandet ist. Ihr wirklicher Mentor, Casaleggio, der die "Rousseau-Plattform" kontrolliert, auf der die Mitglieder verbindlich ihre Überzeugungen äußern - eine Art groteske digitale Imitation der direkten Demokratie - hat kürzlich verkündet, dass Parlamente nicht mehr gebraucht würden. Das Internet sei ausreichend. Da die Linke keine wirtschaftliche Macht hat, sondern nur die Politik, um ihre Gründe geltend zu machen, ist es nur natürlich, dass sie das Hauptopfer dieses Phänomens ist. Im Falle der PD hat dies ihren Charakter verändert und hat damit den Kern dessen, was eine Partei ausmacht, erschüttert. Diese Erschütterung ist noch lange nicht überwunden. Hierzu zählt auch der Rückzug eines relevanten Anteils ihrer ehemaligen historischen Führungsgruppe.

In jedem Land wurde die von der Linken hinterlassene Leere auf andere Art und Weise ausgefüllt, in meinem auf eine sehr andersartige: mit einer sehr anomalen Kraft wie der Fünf-Sterne-Bewegung, die als Anti-System-Protest geboren wurde und schließlich der Regierungspartner einer reaktionären und rassistischen Partei (man könnte sagen "Trumpianischen") wie der Lega wurde. Diese ist aber nicht traditionell faschistisch wie die Parteien, die, wenn auch immer noch in der Minderheit, überall in Europa wachsen: Ihr Führer Salvini spricht zum "Bauch" (zu den kleinlichen, materiellen Interessen), nicht zum Herzen, er ruft keine glorreichen nationalistischen Ideologien auf.

Es ist schwierig, unsere "Grillini" zu definieren (so werden die "Fünf Sterne"-Anhänger aufgrund des Namens ihres Gründers, des Komödianten Beppe Grillo, genannt): Es handelt sich um eine verwirrte Ansammlung von frustrierten Jugendlichen und der erzürnten kleinbürgerlichen sozialen Basis, die besonders hart von der Wirtschaftskrise getroffen wurde und keinerlei kulturelle Bildung hat, in der es aber viele Wähler gibt, die von links kommen: diejenigen, die dem Protest gegen ihre alte politische Heimat besonders stark Ausdruck verleihen wollen.

Und das ist nur natürlich, denn anders als in vielen anderen europäischen Ländern war es in den letzten fünf Jahren genau dieses politische Lager, das in Italien an der Regierung war: die PD, diese unglückliche Kreatur, entstanden aus einem Bequemlichkeitsbündnis zwischen Kommunisten, die gewillt waren, ihre Geschichte zu verleugnen, um Zugang zu der begehrten Regierung zu erhalten, und von Christdemokraten, die sich nach dem unrühmlichen Ende der "ersten Republik" (1946-1990), die sie immer regiert hatten, neu erfinden mussten.

Die PD als eine Linkspartei zu definieren, ist schwierig, sowohl aufgrund ihrer Sozialpolitik als auch aufgrund der Linie, die von ihrem Innenminister Minniti im Rahmen der Migrantenfrage eingeschlagen wurde, die den Ansichten der Lega Nord unheimlich ähnlich ist. Die Verantwortung der PD, zugelassen zu haben, dass diese Art von Opposition entsteht, ist sehr schwerwiegend. Es wäre völlig falsch zu glauben, dass diese jetzt bekämpft werden kann, indem eine wirre demokratische "antifaschistische" Front ins Leben gerufen wird, die von denselben Leuten angeführt wird, die ursprünglich zum Erfolg der Opposition beigetragen hatten, und im Zuge dessen die schwächsten sozialen Schichten ihrem Schicksal überlassen hatte: die unheimlich stark angestiegene Zahl der Armen - und hierbei handelt es sich nicht nur mehr um die Arbeitslosen, sondern auch um die Arbeitnehmer.

Anstatt heute eine illusorische Rückeroberung der Regierung durch mehrdeutige, antifaschistische Allianzen zu versuchen, erscheint es sinnvoller, die Grundpfeiler der Linken wiederaufzubauen. Das heißt, einen alternativen sozialen Block zu schaffen, der die Welt der abhängig Beschäftigten mit den Bewegungen zusammenführt, die aus diesen neuen Widersprüchen entstanden sind, die nicht direkt mit dem Gegensatz Kapital-Arbeit zusammenhängen, aber damit dennoch verknüpft sind.

Kurz gesagt, es ist notwendig, zunächst die Gesellschaft zurückzugewinnen, bevor man es sich zum Ziel macht, die Regierung zu erobern. Und dazu muss eine Eigenschaft der traditionellen linken Kultur überwunden werden, die sowohl ihrem sozialdemokratischen als auch ihrem kommunistischen Flügel gemeinsam ist: die Fokussierung auf die Staatsmacht, ob sie nun durch die Revolution erobert oder vom Parlament ausgeübt wird. Die Parteien dieser Linken sind heute auf diese Zentralität ausgerichtet, ihre Losungen sprechen davon, "was sie alles tun werden, wenn sie an der Regierung sind", ihr tägliches Engagement zielt nur darauf ab, die Wahlen zu gewinnen. Am Ende haben sie noch nicht einmal mitbekommen, dass sie darüber die Gesellschaft verloren haben. Das ist sogar in Italien, oder besser, besonders in Italien, passiert, obwohl Gramsci das Gegenteil gelehrt hatte.

Die Neugestaltung eines alternativen sozialen Zusammenschlusses erfordert Initiative auf der sozialen Ebene, die nicht von einer neoliberalen Logik inspiriert ist. Vielleicht ist es die größte Verfehlung der Linken, dass sie aufgehört hat, die Irrationalität des kapitalistischen Systems, das gerade in unserer heutigen Zeit seine Risse stärker als je zuvor aufzeigt, anzuklagen. Allen voran die Tatsache, dass der technische Fortschritt dazu genutzt wird, die Beschäftigung zu reduzieren, anstatt die Ressourcen und Energie zu nutzen, um wesentliche menschliche Bedürfnisse zu erfüllen.

Diese wirkliche Linke, von der aus ein neuer Prozess gestartet werden kann, und die bereit ist, im vorausgehend beschriebenen Sinne zu arbeiten, gibt es in Italien immer noch. Sie ist jedoch desillusioniert, misstrauisch und auf politischer Ebene gespalten. Sie ist unsichtbar und hat sich in die vollkommene Enthaltung zurückgezogen.

Sie existiert noch, denn es gibt auf zivilgesellschaftlicher Ebene noch so viele Verbände, die sich in Freiwilligenarbeit für Migranten einsetzen, sich ökologisch engagieren, Feministinnen ("Non una di meno", dt. "Nicht eine weniger")(2) und Gruppen, die gegen die Prekarisierung der Arbeitswelt kämpfen; letztere sind am schwierigsten durch die Initiative der Gewerkschaften zu erreichen, die sich darum bemühen, nach Jahren der Ignoranz wieder Boden zu gewinnen; Diese Gruppen konnten erste Erfolge erzielen, indem sie neue Arbeitsteilung ermöglichten und auf diesem Weg, wenn auch in einem vollkommen anderen Zusammenhang, die einst glorreiche Genossenschaftsbewegung wiederbelebt haben. Diese Realität wurde heute durch den außerordentlichen Linksruck eines wesentlichen Teils der katholischen Verbände bereichert, dank der mutigen Linie von Papst Franziskus.

Auf der sozialen gesellschaftlichen Ebene zeigt sich eine dynamische Entwicklung, auf politischer Ebene und in den Parteien tut man sich schwer mit Veränderung.

Bei den letzten Parlamentswahlen ist nur eine Formation, genannt LEU (Liberi e Uguali, dt. Frei und Gleich) angetreten, die am Vorabend der Wahlen hastig von zwei Instanzen geschaffen wurde. Diese zwei Instanzen waren die Italienische Linke (die konsequenteste und politisch vernünftigste Partei, und die einzige links von der PD, mit einer bedeutenden Präsenz im vorherigen Parlament: 35 Abgeordnete) und die MDP (Movimento Democratico Popolare, dt. Demokratische Volksbewegung), in der sich die aus der PD Ausgeschiedenen zusammengeschlossen haben, einschließlich maßgeblicher Führungskräfte aus der PCI.(3) Darunter finden sich ehemalige Premierminister, Präsidenten der Regionen Toskana und Emilia Romagna sowie viele Gewerkschafter.

Der LEU ist es trotz des für sie ungünstigen Wahlrechts gelungen, die Hürde ins Parlament zu überwinden - im Gegensatz zu "Potere al Popolo" (dt. die Macht dem Volk), die Liste, in der die Rifondazione Comunista und einige Centri Sociali (dt. soziale Zentren) zusammengelegt wurden. Ihr Ergebnis ist jedoch weit unter den Erwartungen geblieben. Der Übertritt einer - wenn auch maßgeblichen - Gruppe von Führungspersonen der PD zur LEU erfolgte zu spät. Die linken Wähler haben es dieser Gruppe nicht verziehen, dass sie über einen so langen Zeitraum die Entscheidungen der PD mitgetragen hat. Die Kandidaten von SI (Sinistra Italiana, dt. Italienische Linke) sind wiederum dafür bestraft worden, dass sie sich mit den ehemaligen Politikern der PD zusammengeschlossen haben.

Gerade diese enttäuschende Wahlerfahrung zeigt, dass die von der PD verursachten Schäden ernster sind, als wir angenommen hatten. Die Enttäuschung, oder vielmehr die Wut, hat tatsächlich viele ehemalige PD-Wähler veranlasst, ihre Stimme direkt auf die Fünf-Sterne zu verlagern, in der Hoffnung, dass diese alles in die Luft jagen und auf der politischen Bühne reinen Tisch machen würde. (Massimo D'Alema, ehemaliger Sekretär der PCI, ehemaliger Ministerpräsident, einer der bedeutendsten italienischen Politiker, Kandidat der LEU, hat in seinem traditionellen Wahlbezirk 3,1 Prozent erhalten!)

Es wird lange dauern und nicht leicht sein, den Prozess des kulturellen, sozialen und politischen Wiederaufbaus anzustoßen. Und es wird schwierig sein, beim ersten anstehenden Test, den Europawahlen, mit einer einheitlichen Liste anzutreten, die alle Akteure repräsentiert, die sich auf sozialer und politischer Ebene bewegen. Eben genau das Thema Europa ist eines der brennendsten und spaltendsten Themen, denn auch in Italien gibt es viele Stimmen für die Anti-Europa-Politik a la Mélenchon.

Es ist schwierig, die Menschen davon zu überzeugen, wie es die Italienische Linke versucht, dass die EU drastisch geändert werden muss, aber dass es falsch wäre, sie abzuschaffen. Denn wenn das geschehen würde, werden wir alle im Ozean der Globalisierung versinken. Ohne die EU wäre es unmöglich, den Bürgern wirkliche Macht zurückzugeben, genauso wie es undenkbar ist, wirkliche demokratische Institutionen auf globaler Ebene aufzubauen. Die einzige Lösung, die auch langfristig vernünftig ist, ist die Globalisierung in kontinentale Makrogebiete zu unterteilen, von denen jedes eine gewisse Homogenität aufweist und wovon Europa eines sein könnte. Vielleicht ist Europa am besten dazu geeignet den Weg dieses Experimentes zu beschreiben, denn Europa verfügt bereits über eine Struktur. Und Europa ist trotz all seiner Mängel immer noch der größte Zusammenschluss demokratischer und sozialer Rechte. Europa ist der Ort, an dem es die meisten Proteste gibt, die selbst, wenn sie keinen durchschlagenden Erfolg haben, trotzdem dazu beitragen, die TINA (There Is No Alternative) aller Epochen zu zerschlagen.


Luciana Castellina ist Kolumnistin der italienischen Tageszeitung Il Manifesto, die sie 1969 mitbegründete, und war von 1979 bis 1999 Abgeordnete im Europaparlament.


Anmerkungen

(1) Gemeint ist Marx' Bezeichnung für eine von der Arbeiterklasse ausgehende Bewegung, durch die ein Umsturz erfolgen kann.

(2) Eine Initiative gegen Gewalt an Frauen

(3) Partito Comunista Italiano (Kommunistische Partei Italiens)

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 4/2018, Heft 227, Seite 5-9
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2018

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