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ITALIEN/395: Anklage gegen Seenothelfer, die Folterflüchtlinge vor dem Ertrinken retteten (Gerhard Feldbauer)


Sie retteten vor Folter Flüchtende vor dem Ertrinken

Jetzt stehen sie dafür in Sizilien vor Gericht

von Gerhard Feldbauer, 20. Mai 2022


Das Rettungsschiff "Ocean Viking" hat am Donnerstag vor der Küste Libyens 158 Menschen aus zwei Booten im Mittelmeer geborgen. Wie die Nichtregierungsorganisation SOS Méditerranée mitteilte, befanden sich in den seeuntauglichen und überladenen Schlauchbooten unter anderem sechs schwangere Frauen, ein verletzter Mann und mehrere Kinder, darunter ein drei Monate altes Baby. Die Überlebenden hatten bis zu 9 Stunden auf See verbracht, eher sie gerettet wurden.

Das zentrale Mittelmeer ist nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) die gefährlichste Fluchtroute der Welt. Nach Angaben der UN-Organisation wurden dort im vergangenen Jahr 1.553 Tote und Vermisste registriert. Laut Amnesty International wurden in den letzten fünf Jahren über 85.000 Menschen auf See abgefangen und nach Libyen zurückgebracht, wo sie gezwungen wurden, unter erbärmlichen Bedingungen zu leben. In den libyschen Haftzentren wurden sie Opfer von systematischer Folter, willkürlicher Inhaftierung und Zwangsarbeit.

Unter den Seenotrettern befinden sich die deutschen Staatsbürger Kathrin Schmidt, Dariush Beigui, Sascha Girke und Uli Töder, die 2016/2017 mehr als 14.000 Menschen im zentralen Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet haben. Als sie vor fünf Jahren mit geretteten Flüchtlingen im Hafen von Trapani auf Sizilien anlanden wollten, wurde ihr Schiff "Iuventa" beschlagnahmt und die Besatzung beschuldigt, irreguläre Einwanderung und Menschenhändler zu begünstigen. Vor einem Gericht in der Hafenstadt Trapani auf Sizilien werden sie jetzt "wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung und anderer Verbrechen" angeklagt.

Insgesamt stehen 21 der Besatzungsmitglieder der "Iuventa" sowie anderer humanitärer Schiffe (VOS Hestia, VOS Prudence) sowie zweier NGOs, Ärzte ohne Grenzen und Save the Children, vor Gericht. Bei einer Verurteilung drohen ihnen bis zu 20jährige Haftstrafen. Das Gericht wird am Samstag über den Antrag des Staatsanwalts entscheiden. Wie das Regionalblatt La Sicilia berichtet, nimmt die gesamte Iuventa-Crew an der Anhörung teil, um zu demonstrieren, dass die Angeklagten nicht allein sein werden. Laut Radio Radicale wird die angedrohte Anklage von einer Protestwelle begleitet. Unterstützergruppen aus ganz Europa rufen zur Solidarität auf. In vielen europäischen Städten finden Demonstrationen und Aktionen statt, darunter Vereine, Künstler und Persönlichkeiten, die fordern, dass die Anklage fallengelassen und die Kriminalisierung der Solidarität mit Migranten gestoppt wird.

Der Rechtsanwalt Nicola Canestrini, der die Angeklagten vertritt, erklärte, dass "in den 30.000 Seiten der Prozessakten kein einziger Kontakt mit einem libyschen Schlepper" nachzuweisen ist. Sein Fazit: "Leben retten ist kein Verbrechen." Er enthüllte, dass das Schiff in ungesetzlicher Weise überwacht wurde. "Die Brücke des Schiffes und die Angeklagten, Journalisten und Anwälte wurden abgehört, es gab verdeckte Agenten." Der Aktivist der zivilen Seenotrettung Gorden Isler, Mitglied von Sea-Eye e.V., äußerte kritisch, dass Berlin eigentlich längst in Italien intervenieren und mehr Engagement in der Causa hätte zeigen müssen. "Die meisten Rettungsschiffe vor Libyen sind schließlich deutsche Schiffe".

Zum kriminellen Hintergrund dieses Justizskandals gehört, dass die sogenannte "Flüchtlingsabwehr", bei der Zehntausende Migranten dem Tod ausgeliefert wurden, unter dem Chef der faschistischen Lega Matteo Salvini, von 2018 bis 2019 Innenminister, offizielle Regierungspolitik wurde, bei der NOGs und andere Helfer als Unterstützer der irregulären Einwanderung, der Schlepper und Menschenhändler diffamiert wurden, was die Staatsanwaltschaft von Trapani jetzt zur Grundlage ihrer Anklage genommen hat.

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Quelle:
© 2022 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 23. Mai 2022

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