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GRUNDRECHTE/005: Der Europäische Gerichtshof engt den Spielraum der Regierungen ein (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 125/September 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Störung der Demokratie
Der Europäische Gerichtshof engt den Spielraum der Regierungen ein

Von Martin Höpner


Viele Bürgerinnen und Bürger vertrauen den Verfassungsgerichten ihrer Länder mehr als den Parteien, Parlamenten und Regierungen. Umfragen bestätigen regelmäßig diesen Vertrauensvorschuss. Auch die Europäische Union (EU) verfügt über ein Gericht, dessen Aufgaben mit denen nationaler Verfassungsgerichte vergleichbar sind: den Europäischen Gerichtshof (EuGH) mit Sitz in Luxemburg. Doch gerade das höchste europäische Gericht sah sich in den vergangenen Jahren zunehmender Kritik ausgesetzt. Mit seinen Urteilen mische sich der EuGH immer mehr in die Angelegenheiten der Mitgliedstaaten ein und untergrabe damit den politischen Gestaltungsspielraum der demokratisch legitimierten nationalen Regierungen, sagen die Kritiker.

Kritik am EuGH ist nicht nur in unterschiedlichen Mitgliedstaaten, sondern auch quer durch die politischen Lager zu vernehmen. "Stoppt den EuGH!", forderte beispielsweise Roman Herzog, der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzender des ersten Europäischen Konvents, jenes Gremiums also, das die europäische Grundrechtecharta erarbeitete. Der EuGH steuere geradewegs in einen Dauerkonflikt mit den Gewerkschaften, warnte der DGB-Vorsitzende Michael Sommer. Was steckt hinter der Kritik?

In den vergangenen Jahren hat sich die Rechtsprechung des EuGH verändert. Immer öfter betreffen EuGH-Urteile Handlungsfelder, die eigentlich nicht in den Kompetenzbereich der europäischen Institutionen fallen, sondern den Mitgliedstaaten obliegen. So zum Beispiel das Rüffert-Urteil aus dem Jahr 2008: Der EuGH erklärte eine Bestimmung des niedersächsischen Vergabegesetzes für ungültig, die besagte, dass öffentliche Aufträge nur an Firmen vergeben werden dürfen, die ihren Beschäftigten ein ortsübliches Entgelt auszahlen. Im Laval-Urteil von 2007 erklärte der EuGH einen Arbeitskampf schwedischer Gewerkschaften für illegal, mit dem ein lettischer Arbeitgeber, der im Rahmen der Arbeitnehmerentsendung am Bau einer Schule beteiligt war, zur Einhaltung des schwedischen Mindestlohns bewegt werden sollte. Mit seinem Volkswagen-Urteil aus dem Jahr 2007 kippte der EuGH das niedersächsische Volkswagengesetz, das dem Bundesland eine Sperrminorität auf der Hauptversammlung des Autoherstellers sicherte. Und mit dem Mangold-Urteil von 2005 verwarf der EuGH eine Regelung der deutschen Arbeitsmarktpolitik, die die Befristung von Arbeitsverträgen für ältere Arbeitnehmer erleichtert hatte. Für alle Beispiele gilt, dass der europäischen Ebene in diesen Politikbereichen Gestaltungskompetenzen fehlten. Denn das Arbeitsrecht, das Streikrecht, das Aktienrecht und die Arbeitsmarktpolitik liegen im Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten.

Wie kann es sein, dass das höchste europäische Gericht mit seinen Urteilen gleichwohl in solche Regelungsfelder eingreift? Die Antwort liegt in der Geschichte der EuGH-Rechtsprechung. Mit Urteilen, die zum Teil schon Jahrzehnte zurückliegen, hat sich der EuGH Instrumente erarbeitet, die als "Generalkompetenzen" in nationale Rechtsbestände hineinwirken. Bereits in den 1960er Jahren setzte der EuGH den Grundsatz des Vorrangs jeglichen europäischen Rechts (Primärrecht und Richtlinienrecht) vor jeglichem nationalen Recht (einschließlich Verfassungsrecht) durch. Hinzu kam die Rechtsprechung zur Direktwirkung des Europarechts und zur Drittwirkung auf Private. Das bedeutet konkret: Die Bürgerinnen und Bürger können sich auf das Europarecht berufen, um Rechte gegenüber Gebietskörperschaften und gegenüber Privaten geltend zu machen, zum Beispiel Unternehmen und Verbänden.

Insbesondere aber begann der EuGH in den 1970er Jahren, den europäischen Grundfreiheiten - den Bestimmungen zur freien Bewegung von Arbeit, Kapital, Waren und Dienstleistungen - eine neue Bedeutung zuzusprechen. Ursprünglich besagten die Grundfreiheiten, dass ausländische Anbieter auf heimischen Märkten nicht anders behandelt werden dürfen als Inländer. Der EuGH deutete diese Diskriminierungsverbote in Beschränkungsverbote um. Demnach verletzen Beschränkungen des Binnenmarkts auch dann das europäische Recht, wenn sie diskriminierungsfrei auf Inländer wie Ausländer angewandt werden. Zunächst lediglich auf den Warenverkehr zielend, weitete das Gericht diese Rechtsprechung seit den 1970er und 1980er Jahren auch auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit, den freien Kapitalverkehr und Dienstleistungen aus. Und schließlich schöpfte der EuGH europäische Grundrechte aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten. Auch die so gewonnenen Grundrechte sind dazu geeignet, nationale Rechtsbestände mit dem Verweis auf Verletzungen europäischen Rechts außer Kraft zu setzen.

Den Vorrang und die Direktwirkung europäischen Rechts, die Drittwirkung auf Private sowie richterrechtlich geschöpfte Grundrechte gibt es demnach im Prinzip schon lange. Neu ist jedoch die Art und Weise, wie diese Instrumente in der europäischen Rechtsprechung angewendet werden. Sie werden zunehmend zu Instrumenten der Transformation mitgliedstaatlicher Rechtsbestände und dienen dazu, wie im Fall des Streikrechts, Grenzen der Ausübung von verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten zu definieren.

Die Konsequenz all dessen mag auf den ersten Blick verblüffen. Die Mitgliedstaaten, obgleich ja eigentlich die "Herren der Verträge", haben einen Teil der Kontrolle über den Integrationsprozess eingebüßt. Neben die Integration durch Vertragsschlüsse und europäische Richtlinien hat sich eine "Integration durch Recht" geschoben, die mehr und mehr an Brisanz gewinnt. Die Beobachter in den Rechtswissenschaften, der Politikwissenschaft und der Soziologie sind sich über diesen Befund weitgehend einig. Umstritten ist allerdings, wie dieser Vorgang zu bewerten ist. Dabei lassen sich zwei Positionen unterscheiden.

Die eine Position betont die Vorzüge der "Integration durch Recht". Aus guten Gründen hätten sich die Mitgliedstaaten entschlossen, die Grundlagen für einen - wie die Präambel des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) sagt - immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen. Über die Notwendigkeit einer Vertiefung der europäischen Integration herrscht Konsens. Trotzdem erweise sich die Politik oft als unfähig, die dringend erforderlichen Integrationsschritte zu gehen, behaupten die Vertreter dieser Position. Das liegt an der Blockadeanfälligkeit europäischer Politik. Denn jede Delegation einer neuen Kompetenz an die europäische Ebene erfordert eine Vertragsänderung und setzt deshalb den einstimmigen Beschluss aller Mitgliedstaaten voraus, eine Einstimmigkeit, die in der Praxis nur schwer erreichbar ist. Mit solchen Blockaden sieht sich die "Integration durch Recht" nicht konfrontiert - und gerade darin besteht ihr Reiz. Solange ein überwiegender Konsens besteht, dass die Entstehung eines supranationalen Rechts wünschenswert ist, stellt die Landnahme europäischen Rechts gegenüber den Nationalstaaten somit kein Problem dar. Sie beschleunigt die Erreichung von Zielen, die an sich wenig kontrovers, aber auf politischem Wege blockiert sind.

Der Dreh- und Angelpunkt dieser Argumentation liegt in der Behandlung der Vertiefungsschritte als quasi-technische, sachlich unkontroverse Angelegenheiten. Diese Interpretation mag ihre Berechtigung vor allem in den frühen Phasen des europäischen Einigungsprozesses gehabt haben, zu Zeiten also, als europäische Politik noch zwischenstaatliche Politik war und darüber hinaus der wirtschaftlichen Zusammenarbeit diente. Dank der Erfolge des europäischen Einigungsprojekts aber ist Europapolitik mittlerweile zu einem Teil der Innenpolitik geworden: etwa der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Gesundheitspolitik, um nur einige Bereiche zu nennen. Die Ausgestaltung dieser Politikfelder aber ist kein quasi-technischer, unpolitischer und von der Sache her unkontroverser Vorgang.

Viel spricht also für eine zweite Position, die zu einer kritischeren Perspektive auf die "Integration durch Recht" neigt. Diese kritische Beurteilung rührt vor allem daher, dass die Rechtsprechung des EuGH nicht "politisch neutral" sein kann. Bestimmte politische Ziele lassen sich mit ihr erreichen, andere hingegen nicht. Die Beseitigung tatsächlicher oder vermeintlicher Störungen des Binnenmarkts wirkt marktschaffend, weil sich mittels extensiver Interpretationen der Grundfreiheiten die Grenzen zwischen Markt und Staat zu Gunsten des Markts verschieben lassen. Durch die Anwendung des Wettbewerbsrechts auf Sektoren öffentlicher Daseinsvorsorge, für die es ursprünglich nicht gedacht war, werden Bereiche wie der öffentliche Rundfunk, das öffentliche Bankenwesen oder auch der Krankenhaussektor Marktprinzipien unterworfen.

Die Durchsetzung europäischer Grundsätze der Antidiskriminierung wirkt marktbefähigend (wenn ihre tatsächliche Wirkung im Einzelfall auch höchst umstritten ist). Insbesondere beim Grundsatz der Lohngleichheit zwischen den Geschlechtern, aber auch im Bereich der Altersdiskriminierung hat die Ausdehnung des Wirkungskreises des europäischen Rechts gegenüber mitgliedstaatlichem Recht Modernisierungen angestoßen, die ohne die europäische Integration nicht denkbar wären. In all diesen Bereichen schreitet die "Integration durch Recht" politisch weitgehend ungestört und dementsprechend friktionslos voran, in kleinen, oft kaum sichtbaren Schritten - aber beharrlich und dabei immer neue Felder für den Zugriff des europäischen Rechts erschließend.

Im Gegensatz zu marktschaffender und marktbefähigender Politik jedoch kann marktkorrigierende Politik auf europäischer Ebene nicht vom EuGH durchgesetzt werden. Ein gesamteuropäisches Flächentarifvertragssystem etwa, europäische Mitbestimmungsrechte oder gar ein europäisches Sozialversicherungssystem könnten nur durch die Politik geschaffen werden - was angesichts höchst heterogener Interessenlagen der Mitgliedstaaten, unterschiedlicher Ausgestaltungen nationaler Arbeits- und Sozialverfassungen und unterschiedlicher Wohlstandsniveaus mittelfristig nicht realistisch erscheint. Die Folge ist: Eine ungebremst expansive EuGH-Rechtsprechung begünstigt die Entstehung einer europäischen Marktgesellschaft, ergänzt durch marktbefähigend wirkende europäische Antidiskriminierungsregeln. Marktkorrigierende Regeln bleiben aber auf die mitgliedstaatliche Ebene beschränkt und laufen zunehmend Gefahr, vom europäischen Recht als Störungen des freien Binnenmarkts verworfen zu werden.

Wenn aber die "Integration durch Recht" genuin politischer Natur ist, bedeutet das, dass wichtige Richtungsentscheidungen zur Arbeitsteilung zwischen Staat und Markt dem Zugriff der politisch legitimierten Entscheidungsträger entzogen werden. Die immer extensiver werdende Rechtsprechung des EuGH mündet damit in ein Demokratieproblem. Die Gestaltungsfreiheit der nationalen Politik wird empfindlich gestört, ohne dass - jedenfalls auf Grundlage des derzeitigen und mittelfristig absehbaren Stands der europäischen Integration - realistische neue Gestaltungsfreiheiten auf europäischer Ebene eröffnet würden. Dies ist der Hintergrund der kritischen Debatte, die seit einigen Jahren über den Europäischen Gerichtshof geführt wird - eine Debatte, die den europäischen Integrationsprozess noch lange begleiten wird.


Martin Höpner ist habilitierter Politikwissenschaftler und Leiter der Forschungsgruppe "Europäische Liberalisierungspolitik" am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung. Von März bis Mai 2009 war er Gastwissenschaftler in der WZB-Abteilung "Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen".
hoepner@mpifg.de


Kurz gefasst

Der Europäische Gerichtshof greift zunehmend in Rechtsbestände ein, die eigentlich in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallen. Neben die politische Integration durch Vertragsschlüsse und Richtlinien hat sich eine "Integration durch Recht" geschoben, die zunehmend an politischer Brisanz gewinnt. Der Handlungsspielraum auf nationaler Ebene wird eingeschränkt, ohne dass auf kurze bis mittlere Sicht neue Gestaltungsoptionen marktkorrigierender Politik auf europäischer Ebene eröffnet würden. Die Folge ist ein Verlust an Gestaltungskraft der demokratisch legitimierten Entscheidungsträger, kurz: eine empfindliche Störung der Demokratie.


Literatur

Martin Höpner, "Warum betreibt der Europäische Gerichtshof Rechtsfortbildung? Die Politisierungshypothese", in: Sozialer Fortschritt, Sonderheft "Europa" (im Erscheinen).

Martin Höpner, Armin Schäfer, "A New Phase of European Integration: Organized Capitalisms in Post-Ricardian Europe", in: West European Politics (im Erscheinen)


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 125, September 2009, Seite 6 - 8
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2009