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PARTEIEN/276: Nordirland vor Ausbruch eines neuen Bürgerkrieges? (SB)


Nordirland vor Ausbruch eines neuen Bürgerkrieges?

Ignorierung monatelanger Gefangenenprotesten rächt sich blutig



Die Erschießung des 52jährigen Gefängniswärters David Black am 1. November hat in Nordirland Ängste vor einem erneuten Ausbruch des Bürgerkrieges ausgelöst, den man mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens vor 14 Jahren für immer hinter sich gelassen zu haben meinte. Black ist nicht nur der erste Mitarbeiter des Prison Service of Northern Ireland, der seit 1993 einem politischen Attentat zum Opfer gefallen ist, sondern war auch Mitglied des protestantisch-probritischen Oranier-Ordens. Da seine Killer im Milieu der den "Friedensprozeß" ablehnenden Kreise ehemaliger Freiwilliger der katholisch-nationalistischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) vermutet werden, besteht nun die Gefahr von gewaltsamen Vergeltungsaktionen seitens "loyalistischer" Paramilitärs.

Black befand sich auf dem Weg zur Arbeit im Hochsicherheitstrakt Maghaberry, als um 7.30 Uhr auf der Autobahn M1, die Dublin und Belfast verbindet, zwischen Portadown und Lurgan auf ihn aus einem vorbeifahrenden Auto mit einer Maschinenpistole geschossen wurde. Black kam mit seinem Audi von der Fahrbahn ab und landete in einem Graben, wo er seinen Verletzungen erlag. Der Tatwagen, der ein Dubliner Kennzeichen trug, wurde kurze Zeit später ausgebrannt in der Nähe von Lurgan gefunden. Die Politiker in Belfast, Dublin und London - der britische Premierminister David Cameron, der irische Regierungschef Enda Kenny sowie der Erste Minister Nordirlands, Peter Robinson von der Democratic Unionist Party (DUP), und sein Stellvertreter, Martin McGuinness von Sinn Féin, einst politischer Arm der IRA - reagierten mit Entsetzen auf das Verbrechen und verurteilten es aufs Schärfste.

Solche Erklärungen gehören jedoch zum üblichen Politritual und tragen nicht im geringsten dazu bei, die Tat und ihre Motive zu verstehen, geschweige weitere Attentate in der Zukunft zu verhindern. Das gleiche gilt für die medialen Beschwichtigungen, wie man sie am 2. November beispielsweise in der Irish Times erleben durfte, wo die Analyse der Bedeutung des Vorfalls vom Vortag die Überschrift "Killers not deterred by robust political structures" - "Killer lassen sich nicht durch robuste politische Strukturen abschrecken" - trug. Die politische Kaste in Belfast, Dublin und London ist sich über die Fortsetzung des "Friedensprozesses" und den Weg zur Verbesserung der britisch-irischen Verhältnisse im wesentlichen einig, die Ursachen der wachsenden Bürgerkriegsgefahr scheint sie aber aus den Augen verloren zu haben.

Der tödliche Überfall auf Black ereignete sich vor dem Hintergrund einer deutlichen Zunahme der Aktivitäten militanter republikanischer Dissidenten - Bestrafungsmaßnahmen gegen Drogendealer, das Deponieren der einen oder anderen Bombe an einem öffentlichen Platz, um die eigene Schlagkraft zu demonstrieren -, die mit einem Skandal zusammenhängen, der in letzter Zeit in der irischen und britischen Presse viel zu wenig Beachtung fand. In Maghaberry, wo 41 republikanische Dissidenten einsitzen, finden seit mehr als einem Jahr Schmutzproteste gegen Leibesvisitationen statt. Ähnlich wie in den achtziger Jahren im den berüchtigten H-Blocks des Gefängnisses Long Kesh beschmieren die Gefangenen ihre Zellen mit dem eigenen Kot und verweigern jede Zusammenarbeit mit den Wärtern. Die Verhältnisse in Maghaberry, wo das Personal natürlich die Auswirkungen der Protestaktion mit allen Mitteln zu minimieren versucht, sollen absolut unerträglich sein.

Für eine humanere Behandlung der Insassen in Maghaberry setzen sich nur wenige Personen ein, darunter die irische Quaker-Bewegung und vereinzelte Politiker wie Éamon … Cuív, Ex-Minister und Abgeordneter von der Partei Fianna Fáil im Dubliner Unterhaus. Einen schockierenden Bericht über einen kürzlichen Besuch in Maghaberry veröffentlichte Emmet Doyle, Mitarbeiter des Politikers Pat Ramsey, einem Abgeordneten der katholisch-nationalistischen Social Democratic Labour Party (SDLP) im nordirischen Regionalparlament, am 22. Oktober auf seinem Blog "A Simple Wee Man" unter der vielsagenden Überschrift "When I thought I couldn't be shocked...", zu deutsch "Als ich dachte, nichts könnte mich erschrecken..." [1]

Darüber hinaus herrscht in republikanischen Kreisen - unabhängig davon, ob man den politischen Kompromißkurs Sinn Féins gut findet oder ihn ablehnt - großer Unmut über die Art und Weise, wie in den letzten Jahren die ehemaligen IRA-Kämpfer Marion Price, Martin Corry und Gerry McGeough aufgrund irgendwelcher "Erkenntnisse" des britischen Inlandsgeheimdienstes wieder hinter Gitter gekommen sind. Man spricht von einer Wiedereinführung der berüchtigten "Internment" - Internierung ohne Anklageerhebung - durch die Hintertür. Dazu kommen die Bemühungen der nordirischen Polizei um die Aushändigung von vertraulichen Protokollen von Gesprächen, die in Verbindung mit einer historischen Studie über die "Troubles" geführt wurden und sich seit einigen Jahren beim Boston College im US-Bundesstaat Massachusetts unter Verschluß befinden, nur um Gerry Adams, den Vorsitzenden von Sinn Féin, wegen dessen Vergangenheit als IRA-Kommandeur politisch zu diskreditieren. Nicht umsonst warnte noch im September der Journalist Ed Moloney, Autor des vielbeachteten Buchs "The Secret History of the IRA", MI5 und reaktionäre Kräfte aus der früheren nordirischen Sicherheitspolizei, der Special Branch der protestantisch-dominierten Royal Ulster Constabulary (RUC), wollten den Krieg in Nordirland neu entfachen. Die Hinrichtung von David Black ist das erste deutliche Zeichen jener Destabilisierungsbemühungen.

Fußnote:

1. http://thepensivequill.am/2012/10/when-i-thought-i-couldnt-be- shocked.html

2. November 2012