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PARTEIEN/296: Steht Großbritannien eine Verfassungskrise bevor? (SB)


Steht Großbritannien eine Verfassungskrise bevor?

Englische Tories ziehen gegen die schottischen Nationalisten zu Felde


Bis zu den Wahlen zum 650sitzigen Unterhaus des Parlaments des Vereinigten Königreichs sind es nur noch zehn Tage. Zwei Dinge haben den bisherigen Wahlkampf dominiert und werden die britischen Politiker auch nach dem Urnengang am 7. Mai beschäftigen: erstens, die bereits jetzt absehbare Tatsache, daß keine der beiden großen Parteien, weder die regierenden Konservativen um Premierminister David Cameron noch die oppositionelle, sozialdemokratische Labour Party um Ed Milliband, eine absolute Mehrheit erringen wird, und zweitens der gewaltige Drang Schottlands nach Unabhängigkeit. Ersterer Umstand dürfte sich durch einen der üblichen parteipolitischen Deals bewältigen lassen, der zweite jedoch birgt die Gefahr einer regelrechten Verfassungskrise in sich.

Laut allen demoskopischen Prognosen, die sich seit Wochen kaum verändert haben, wird sich die Zahl der konservativen Abgeordneten im neuen Parlament von derzeit 306 auf rund 280 reduzieren. Dennoch werden die Tories damit immer noch vor Labour, welche die Zahl ihrer Sitze von derzeit 258 auf rund 270 steigern dürfte, die größte Fraktion stellen. Drittstärkste Kraft wird aller Voraussicht nach die Scottish National Party (SNP) sein, die seit 2011 allein im Regionalparlament in Edinburgh regiert. Man geht davon aus, daß die SNP rund 50 der insgesamt 55 schottischen Sitze im Londoner Unterhaus erobern wird. Größter Verlierer der erdrutschartigen Veränderung der politischen Landschaft wird die Labour Party sein, die von ihren bisher 40 schottischen Sitzen nur eine Handvoll wird retten können. Die britischen Sozialdemokraten und mit ihnen die britischen Liberaldemokraten - bisher elf Sitze nördlich des Hadrianwalls - werden wie einst die verhaßten Tories zu Splitterparteien in Schottland.

Mehrere Faktoren beflügeln den aktuellen Siegeszug der schottischen Nationalisten. Nach der für die SNP im vergangenem September verlorengegangenen Volksbefragung über die Unabhängigkeit, hat die Koalitionsregierung von Konservativen und Liberaldemokraten in London das Versprechen, Schottland bei einem Verbleib in der Union mit England, Wales und Nordirland noch weitergehende Autonomie einzuräumen, nicht eingelöst. Viele unentschlossene Schotten, die sich erst in letzter Minute gegen die Unabhängigkeit entschieden hatten, fühlen sich betrogen und wenden sich nun der SNP zu. Des weiteren präsentieren sich die schottischen Nationalisten, angeführt von ihrer jungen und dynamischen Parteichefin Nicola Sturgeon, als die einzigen Kämpfer gegen Austeritätspolitik und soziale Kürzungen und haben dadurch die Sozialdemokraten in Schottland links überholen und weit hinter sich zurücklassen können.

Das Angebot der SNP, nach der Wahl als Mehrheitsbeschafferin einer Minderheitsregierung Labour zur Macht zu verhelfen, hat die Konservativen in Rage versetzt. Doch die Bemühungen der Tories, die SNP quasi zur Partei der Staatsverräter abzustempeln, feuert den Nationalismus der Schotten nur noch mehr an. Aus Angst, englische Wechselwähler an die Conservatives zu verlieren, hat Milliband das Angebot Sturgeons zur bedingten Zusammenarbeit ausgeschlagen. Mit dieser Position hat der Labour-Chef den eigenen linken Flügel enttäuscht, dessen Anhänger es gut fänden, wenn man sich auf das Angebot der SNP einließe und deren Forderung, die britische Trident-Atom-U-Boot-Flotte zu verschrotten und den Betrieb in deren Heimathafen im schottischen Faslane einzustellen, erfüllte.

Der absolute Wille der Tories zum Machterhalt hat sie dazu verleitet, Pandoras Büchse des englischen Nationalismus aufzumachen. Um der EU-kritischen, fremdenfeindlichen United Kingdom Independence Party (UKIP) um den "Little Englander" Nigel Farage den Wind aus den Segeln zu nehmen, hat Cameron für 2016 eine Volksbefragung über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU angekündigt. Darüber hinaus hat der Tory-Chef eine grundlegende Veränderung des parlamentarischen Geschäfts in Westminster in Aussicht gestellt, wonach künftig nur englische Abgeordnete über Angelegenheiten, die nur England betreffen, abstimmen dürfen. Die britischen Konservativen können sich einen solchen Vorschlag nur leisten, weil sie in Schottland praktisch keine Anhängerschaft mehr haben. Bei der letzten Wahl 2010 gewannen sie dort nur einen einzigen Sitz.

Den derzeitigen Prognosen und Berechnungen zufolge könnte eine Koalition aus Konservativen, Liberaldemokraten, deren Abgeordnetenzahl von derzeit 57 auf etwa 30 zusammenschrumpfen wird, und der Democratic Unionist Party (DUP), die ihre acht Sitze in Nordirland verteidigen dürfte, Cameron eine zweite Amtszeit als Premierminister bescheren. Doch zwischen den potentiellen Koalitionspartnern gibt es derzeit Krach. Nigel Dodds, DUP-Fraktionsführer in Westminster, hat Camerons Tories bezichtigt, mit ihrer hysterischen Kampagne gegen die SNP "nationalistische Paranoia" der englischen Art entfacht und durch den Vorschlag, das Stimmrecht der schottischen Abgeordneten einzuschränken, die Union zwischen den Einzelteilen des Königreichs geschädigt zu haben.

Durch einen Mini-Skandal der unappetitlicheren Sorte hat sich die DUP in den Augen der LibDems um Nick Clegg desavouiert. Am 27. April sah sich Jim Wells von der DUP gezwungen, von seinem Posten als Gesundheitsminister in der nordirischen Provinzregierung zurückzutreten. Vier Tage zuvor war er bei einer Wahlkampfdiskussion im nordirischen Fernsehen durch homophobe Bemerkungen, wofür er sich später entschuldigte, recht negativ aufgefallen. Nur zwei Tage später, am 25. April, geriet er, als er in der Kleinstadt Downpatrick Wahlkampf für die DUP machte, mit einem lesbischen Paar in einen heftigen Meinungstreit über das Für und Wider der gleichgeschlechtlichen Ehe. Die beiden Frauen, die eine erwachsene Tochter haben, erstatteten anschließend bei der Polizei Anzeige wegen schwer beleidigender Äußerungen des Volksvertreters.

Nach Ansicht des Vorsitzenden der Libdems, Clegg, hat die Affäre um Wells gezeigt, daß die einst von Ian Paisley gegründete DUP nach wie vor ein Sammelbecken reaktionärer, protestantisch-fundamentalistischer Hinterwäldler ist. Inwieweit DUP-Chef Peter Robinsons öffentlich geäußertes Verständnis für die ungeschickten Gebärden des Parteikollegen Wells die zu erwartenden Koalitionsverhandlungen in London erschwert, muß sich noch zeigen. Doch selbst wenn sich Cameron, Clegg und Robinson zu einem Modus vivendi zusammenraufen sollten, wird die im Wahlkampf deutlich sichtbar gewordene, zunehmende Entfremdung zwischen England und Schottland die Innenpolitik Großbritanniens maßgeblich bestimmen.

27. April 2015


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