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PARTEIEN/304: Brexit-Debatte setzt den englischen Rassismus frei (SB)


Brexit-Debatte setzt den englischen Rassismus frei

Englands Chauvinisten erklären Muslime und Migranten zu Volksfeinden


In weniger als zwei Monaten, nämlich am 23. Juni, findet im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland die Volksbefragung über dessen Verbleib in der Europäischen Union statt. Über den Ausgang läßt sich derzeit keine Prognose machen, denn laut Umfragen ist die Anzahl der EU-Gegner und -Befürworter gleich stark. Entscheidend dürfte sein, welche der beiden Strömungen die Unentschiedenen - nach Angaben der Demoskopen stellen diese 25 Prozent der Bevölkerung, also jeden vierten Wähler - auf ihre Seite ziehen kann. Mit Bedauern muß man feststellen, daß sich die Debatte über einen möglichen Austritt Britanniens aus der EU - auch Brexit genannt - vor allem durch Rassismus und Fremdenfeindlichkeit auszeichnet.

Seit Premierminister David Cameron im Februar das Datum für die Volksbefragung genannt hat, ist der innerparteiliche Disput für und wider die EU, den sich die britischen Konservativen seit dem Rücktritt Margaret Thatchers 1990 liefern, in einen offenen Schlagabtausch ausgeartet. Cameron, Finanzminister George Osborne, Außenminister Philip Hammond, Verteidigungsminister Michael Fallon und Innenministerin Therese May treten für den Verbleib ein; für den Austritt plädieren Kulturminister John Whittingdale, Nordirland-Ministerin Theresa Villiers, Parlamentssprecher Chris Grayling und Arbeitsministerin Priti Patel. Noch im März ist der Sozialminister und ehemalige Tory-Chef Iain Duncan Smith, der seit Jahren in Großbritannien zu den führenden Kritikern des "europäischen Superstaats" gehört, angeblich wegen Kürzungen bei der Sozialhilfe aus der Regierung ausgetreten, um Cameron innerparteilich schwächen zu können.

Anführer des Brexit-Lagers ist Camerons gefährlichster Parteirivale Boris Johnson. Der amtierende Bürgermeister von London, der gleichzeitig Unterhausabgeordneter ist, hat sich Ende Februar nach vielem Hin-und-Her-Lavieren doch noch zur Teilnahme an der Kampagne für einen Austritt Großbritanniens aus der EU entschieden. Wegen seiner lockeren Art gilt Johnson, obwohl er wie Cameron ebenfalls im englischen Eliteinternat Eton zur Schule ging, nicht als abgehoben, sondern als volksnah. Der einstige Klassenclown weiß, daß eine Mehrheit seiner Tory-Parteikollegen im Unterhaus für den EU-Austritt ist. Er baut darauf, das Nein-zur-EU-Lager im Juni zum Sieg führen zu können, um in der Folge an Camerons Stelle als Parteichef und Premierminister treten zu dürfen.

Um seine Ambitionen zu verwirklichen, ist Johnson jedes Mittel recht, wie sein Verhalten während des Besuchs von Barack Obama in London am 22. und am 23. April zeigt. In einem Gastbeitrag für den tory-nahen Daily Telegraph, der auch als Hauspostille der britischen Generalität gilt, sowie bei diversen Auftritten rund um die Feier zum 90. Geburtstag von Königin Elizabeth II. hatte der US-Präsident den britischen Verbündeten von einem Austritt aus der EU abgeraten. Großbritannien würde dadurch international an Einfluß verlieren, könnte danach nicht mehr als Anwalt Washingtons innerhalb der EU-Gremien agieren und müßte sich, was die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA betrifft, wieder ganz hinten in die Schlange einreihen, so Obama.

Johnson, der seit Wochen den Austritt aus der EU als perfekte Gelegenheit Großbritanniens preist, die traditionellen Verbindungen zu den ehemaligen, englischsprachigen Kolonien USA, Kanada, Australien und Neuseeland politisch, militärisch und wirtschaftlich zu vertiefen, hat Obamas Zurückweisung übelgenommen. In einem Gastkommentar beim Boulevardblatt The Sun schrieb der Möchtegern-Tory-Chef, die Argumente des US-Präsidenten seien "heuchlerisch", denn er empfehle den Briten gegenüber der EU eine Preisgabe von Souveränität, die er dem eigenen Land niemals zumuten würde. Johnson setzte noch einen drauf, als er behauptete, Obama liege sowieso nicht das Wohlergehen Großbritanniens am Herzen, Amerikas "halb-kenianischer Präsident" sei von einer "Abneigung seiner Ahnen gegenüber dem British Empire" motiviert.

In der britischen Öffentlichkeit haben Johnsons indirekte rassistische Beleidigungen hohe Wellen geschlagen. Linke und liberale Publizisten warfen dem Londoner Bürgermeister vor, billige Demagogie à la Klu Klux Klan zu betreiben. Johnson kann die Kritik egal sein, sind es doch die mehr als drei Millionen Wähler der fremdenfeindlichen United Kingdom Independence Party (UKIP) von Nigel Farage, die er ansprechen will. Mit deren Stimmen hofft er den Brexit herbeizuführen. Gelingt ihm dies, kann er sich als neuer Tory-Chef empfehlen, der in der Lage wäre, diejenigen Wähler, die in den letzten Jahren von den Konservativen zur UKIP abgewandert sind, ins eigene Lager zurückzuholen. In Großbritannien schwimmt die UKIP ähnlich Marine le Pens Front Nationale auf einer Welle der Fremdenfeindlichkeit. Aus Sicht der Xenophoben in beiden Ländern sind die Muslime und Migranten an allen gesellschaftlichen Übeln wie Terrorismus, Kriminalität, Lohndumping, Wohnungsnot schuld.

Daß die Tories sich nicht davor scheuen, in die Rassimus-Trickkiste zu greifen, um die politische Konkurrenz auszuschalten, zeigt nicht nur Johnsons Verballattacke gegen Obama, sondern auch eine unappetitliche Kontroverse aus dem laufenden Wahlkampf um das Amt des Bürgermeisters von London. Um Johnsons Nachfolge konkurrieren der konservative Kandidat Zac Goldsmith und sein sozialdemokratischer Gegner Sadiq Khan von der Labour Party. Khan ist, wie sein Name vermuten läßt, Moslem, aber einer von der aufgeklärten, modernen Sorte, die nichts gegen die Homo-Ehe, Gleichberechtigung für die Frau et cetera haben. Dennoch versuchen die Tories, einschließlich David Cameron, seit Wochen, Khan wegen einer vermeintlichen Verbindung zu Suliman Gani eine Nähe zu den "Islamisten" anzuhängen und verlangen, daß er sich von dem erzreaktionären Prediger distanzieren soll. Dabei versäumen sie es natürlich zu erwähnen, daß Khan im vergangenen Jahr, als es um die Unterhauswahlen ging, in seinem Londoner Bezirk Wahlkampf für die Tories gemacht hat.

Jedenfalls könnte die Reaktivierung des englischen Chauvinismus, wie sie derzeit von den EU-Gegnern in Großbritannien dieser Tage betrieben wird, fatale Folgen für den Zusammenhalt des Vereinigten Königreichs haben. Nördlich des Hadrianwalls mehren sich wieder die Stimmen, die für den Fall eines Brexit unbedingt den Austritt Schottlands aus der Union mit England fordern.

25. April 2016


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