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PARTEIEN/307: Ausgang des Brexit-Referendums auf Messers Schneide (SB)


Ausgang des Brexit-Referendums auf Messers Schneide

EU-Gegner und -Befürworter kämpfen bis zur letzten Minute


Am morgigen 23. Juni findet im Vereinigten Königreich die Volksbefragung über den Austritt Großbritanniens und Nordirlands aus bzw. deren Verbleib in der Europäischen Union statt. Die letzten Umfragen lassen keine verläßliche Vorhersage zu, denn die Prozentzahl der unentschiedenen Wähler beträgt mehr als der Vorsprung der EU-Befürworter. Dafür macht das Geld, das die britischen Bürger in den letzten Wochen bei den Wettbüros auf der Insel eingezahlt haben, eine eindeutige Aussage. Paddypower.com zum Beispiel gibt aktuell den Kurs für den Verbleib in der EU mit 1 zu 4 und für den Austritt mit 3 zu 1 an. Offenbar setzen die meisten Wettbegeisterten bei diesem für die britischen Buchmacher einträglichsten Politereignis ihrer Geschichte auf eine Beibehaltung des Status quo.

Noch vor einer Woche sah die Wirklichkeit anders aus. Nach einer Reihe von Umfragen, die zuletzt die EU-Gegner mit einer Führung von mehreren Prozentpunkten zeigten, war die Rede von Panik in Number 10 Downing Street, dem Londoner Sitz des britischen Premierministers. Aus Sorge, er habe die Wähler mit seinen drastischen Warnungen vor den angeblich verheerenden Folgen eines EU-Austritts überstrapaziert, sagte Regierungschef David Cameron mehrere öffentliche Auftritte ab. Doch als dann am 16. Juni vor einer Bibliothek in der nordenglischen Grafschaft Yorkshire die 41jährige Labour-Abgeordnete Jo Cox, die sich für die Hilfe syrischer Kriegsflüchtlinge stark gemacht hatte, von dem 52jährigen Rechtsradikalen Thomas Mair durch Messerstiche und Pistolenschüsse getötet wurde, änderte dies den Charakter der Brexit-Debatte vollkommen.

Laut Augenzeugen hatte Mair, dessen geistige Zurechnungsfähigkeit im Verlauf des bevorstehenden Mordprozesses ermittelt werden muß, bei seinem brutalen Überfall auf die zweifache Mutter "Britain First" skandiert. Angesichts der schrecklichen Bluttat warfen die Befürworter eines Verbleibs den Brexiteers vor, sie hätten Fremdenhaß geschürt und den politischen Diskurs in die Gosse gezogen. An dem Vorwurf ist einiges dran. Die unkontrollierte Einwanderung aus Osteuropa, welche die Löhne in den Billiglohnsektoren der britischen Volkswirtschaft nach unten drückt, gleichzeitig Wohnungsmieten und Immobilienpreise in die Höhe schnellen läßt, ist das überragende Thema der Brexit-Debatte gewesen, das zudem von den Fragen eines möglichen EU-Beitritts der Türkei und der Flüchtlingsproblematik zugespitzt wird.

Wochenlang schienen die Warnungen von Barack Obama, IWF-Chefin Christine Lagarde, dem deutschen Finanzminister Wolfgang Schäuble und dem britischen Schatzmeister George Osborne über die möglichen negativen ökonomischen Folgen eines EU-Austritts die britischen Wähler wenig beeindruckt zu haben. Die Engstirnigkeit, die jedoch Thomas Mair mit seiner tödliche Attacke auf die populäre Sozialdemokratin Cox bewies, hat die Bevölkerung verschreckt und dürfte die letzten Wähler, die bis dahin nicht wußten, wo sie beim Urnengang am 23. Juni ihr Kreuz hinterlassen sollen, veranlassen, für den Verbleib in der EU zu stimmen. Schließlich halten sich die Briten, allen voran die Engländer, für ein besonnenes und faires Volk. Niemand möchte mit einem Xenophoben wie Mair assoziiert werden, geschweige denn dessen politische Ansichten teilen.

Die Folgen des EU-Referendums werden so oder so in Großbritannien noch lange zu spüren sein. Im Falle eines mehrheitlichen Ja zum Austritt wird Cameron als Premierminister und Anführer der regierenden Conservative Party zurücktreten müssen und voraussichtlich durch seinen großen Rivalen, den ehemaligen Bürgermeister von London, Boris Johnson, ersetzt werden. Es wird zu langwierigen Verhandlungen zwischen London und Brüssel über die Modalitäten des Austritts kommen, deren Form zu diesem Zeitpunkt völlig ungewiß ist. Bekommt das Vereinigte Königreich einen günstigen Status gegenüber der EU zuerkannt, ähnlich wie Island, Liechtenstein, Norwegen und der Schweiz, nämlich eines Mitglieds der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), oder wird das Land bestraft werden - wie von Schäuble angedroht -, um andere EU-austrittswilligen Staaten abzuschrecken? Wird die seit dem Ende der "Troubles" 1998 physisch nicht mehr existierende Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland wieder befestigt oder die Kontrolle des Personen- und Warenverkehrs an allen irischen Flug- und Seehäfen abgewickelt werden? Wegen derlei Unsicherheiten hatte die irische Regierung bis zuletzt - auch mittels Auftritten von Premierminister Enda Kenny in England - für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU plädiert.

Sollten die britischen Wähler doch noch gegen den Brexit stimmen, wird es mit Sicherheit zu einer Umbildung des Cameronschen Kabinetts kommen. Viele, wenn nicht alle der Minister, die an der Seite Boris Johnsons sowie von Nigel Farage, dem Anführer der reaktionären United Kingdom Independence Party (UK), für einen Austritt geworben haben - Justizminister Michael Gove, Kulturminister John Whittingdale, Nordirland-Ministerin Theresa Villiers, Arbeitsministerin Priti Patel und Parlamentssprecher Chris Grayling -, müßten wohl mit Plätzen auf den Hinterbänken im britischen Unterhaus vorliebnehmen. Ob damit der seit den Tagen Margaret Thatchers anhaltende, innerparteiliche Streit bei den Tories in der EU-Frage endgültig beigelegt ist, wird sich noch zeigen müssen. Man darf auch gespannt sein, wie sich das Verhältnis zwischen dem EU-freundlichen, sich Richtung Unabhängigkeit bewegenden Schottland und dem eher EU-skeptischen England, dessen nationalistische Kräfte in den letzten Wochen und Monaten wieder erwacht sind, entwickeln wird.

22. Juni 2016


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