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PARTEIEN/326: Neuwahlen verschärfen die Krise in Großbritannien (SB)


Neuwahlen verschärfen die Krise in Großbritannien

Theresa May will den internen Parteienstreit bei Labour ausnutzen


Völlig überraschend hat die britische Premierministerin Theresa May bei einem kurzfristig anberaumten Pressetermin am 18. April vor ihrem Amtssitz in Number 10 Downing Street Neuwahlen zum Unterhaus angekündigt. Als Datum für die Parlamentswahlen nannte sie den 8. Juni. Seit Monaten hatte May immer wieder behauptet, es würde keine vorgezogene Neuwahlen geben. Nun hat sie sich anders entschieden. Die Gründe für den plötzlichen Sinneswandel hängen alle mit den bevorstehenden Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union (EU), dem sogenannten Brexit, zusammen.

Vorgezogene Neuwahlen, die traditionell in Großbritannien gang und gäbe waren, wurden von einem entsprechenden Gesetz 2011 eigentlich abgeschafft. Ab den letzten Parlamentswahlen 2015 sollten die Bürger nur noch alle fünf Jahre zu den Urnen gerufen werden. Doch die Entscheidung einer knappen Mehrheit der Briten am 23. Juni 2016 für den Brexit hat die Dinge anders kommen lassen. Als Konsequenz aus der Abstimmung ist der damalige Premierminister David Cameron, der die Volksentscheidung eigentlich nur hat durchführen lassen in der Hoffnung, ein Ja für den Verbleib in der EU zu erzielen und somit die nimmermüden Euroskeptiker in den Reihen seiner konservativen Partei endlich zum Schweigen zu bringen, gleich am nächsten Tag zurückgetreten. May, bis dahin Innenministerin, ist mit der Unterstützung der Brexiteers, zu denen sie eigentlich nicht gehörte, aus Ermangelung geeigneterer Kandidaten Partei- und Regierungschefin geworden.

Dies erklärt, warum sich May, die noch vor der Abstimmung zum Remain-Lager zählte, in allen bisherigen Verlautbarungen für einen harten Brexit ausspricht. Sie muß die Brexiteers und die Boulevardpresse, deren xenophobische Eigentümer wie Paul Dacre vom Daily Mail und Schreiberlinge wie Katie Hopkins seit Jahren EU-feindlich eingestellt sind und sich seit letztem Sommer am Traum von der Wiederauferstehung des British Empire berauschen, beschwichtigen. Gleichzeitig ist May nicht so dumm wie ihr tollpatschiger Außenminister Boris Johnson zu glauben, daß sich Großbritannien den ganz harten Brexit - keine Einigung mit Brüssel, dafür künftig nur Handel mit der EU unter WTO-Bedingungen - ohne Kompromisse wird leisten können.

Kompromisse wird es geben auf beiden Seiten und möglicherweise sogar welche in der Frage des Personenverkehrs - Stichwort Einwanderung -, welche die Little Englanders auf den Hinterbänken bei den Tories in Rage versetzen. Die Konservativen verfügen im 650sitzigen Unterhaus derzeit lediglich über einen Mehrheit von 18. Nur neun konservative Abgeordneten müßten sich gegen die Regierung stellen, um May eine peinliche Niederlage zu bescheren. Da die Tories seit Monaten rund 20 Prozentpunkte in allen Umfragen vor der größten oppositionellen Partei Labour liegen, war für May die Versuchung, die internen Streitereien der Sozialdemokraten zu nutzen, ihnen weitere Sitze abzujagen und die Mehrheit der Tories auszubauen, offenbar unwiderstehlich. Der sogenannten Sonntagsfrage zufolge - auch wenn die Briten üblicherweise unter der Woche wählen gehen - sieht alles danach aus, als würden demnächst die Konservativen die Anzahl ihrer Abgeordnetenmandate von derzeit 330 auf mehr als 400 erhöhen können, während die Labour-Partei von derzeit 229 auf unter 200 zurückfallen wird.

Die aktuelle Schwäche Labours ist auf die Weigerung der Mehrheit ihrer Abgeordneten, den eigenen Parteichef Jeremy Corbyn zu akzeptieren, weil dieser ihnen zu links ist, zurückzuführen. Putschgerüchte und -versuche prägen das Bild der Labour Party, seit Corbyn im Herbst 2015 mit überwältigender Mehrheit der Basis zum neuen Vorsitzenden gewählt worden ist. Sehr zur Verärgerung der rechten sozialdemokratischen Abgeordneten, die sich offen nach den Tagen Tony Blairs zurücksehnen, hat Corbyn den Ausgang des Brexit-Votums akzeptiert, statt ihn anzufechten. Als May am 19. April für eine Zweidrittelmehrheit plädierte, um die laufende Legislaturperiode beenden und vorgezogene Neuwahlen ausrufen zu können, hat sie die Stimmen aller Fraktionen bis auf die der Scottish National Party (SNP) erhalten. Einige Beobachter bezeichneten die Zustimmung von Corbyn und der Labour Party als "selbstmörderisch". Während die Galionsfigur der britischen Friedensbewegung im Wahlkampf vor allem Austerität, Kürzungen und Ungerechtigkeit zu thematisieren gedenkt, wollen die meisten seiner Fraktionskollegen entweder auf eigene Faust im eigenen Bezirk Wahlkampf betreiben oder ganz aus der Politik ausscheiden.

Auch wenn Corbyn nach wie vor die jugendlichen Massen begeistert, werden ihn die Konzernmedien in den kommenden Wochen mit Sicherheit weiterhin als Träumer und Taugenichts zu diffamieren versuchen. Es ist zu befürchten, daß die zu erwartende Hetzkampagne gegen die "loony left" Großbritanniens wie bereits häufig in der Vergangenheit fruchten wird. Von daher ist davon auszugehen, daß May am 8. Juni die von ihr erhoffte satte Mehrheit im Unterhaus erzielen wird. Mit ihr im Rücken dürften die ohnehin sehr komplizierten Verhandlungen Londons mit Brüssel leichter zu führen sein. Die Entscheidung für Neuwahlen hat für May auch einen weiteren, von den Medien weitgehend ausgeblendeten Vorteil. Seit dem Sommer 2015 ermittelt die britische Polizei gegen mehr als 30 Tory-Abgeordnete wegen Betrugs in Verbindung mit den letzten Unterhauswahlen. In den nächsten Tagen wird mit den ersten Anklageerhebungen gerechnet. Dieser Entwicklung kam die Tory-Chefin nun locker entgegensehen. Da ohnehin in wenigen Wochen alle Unterhaussitze neu vergeben werden, sind peinliche Nachwahlen in den Bezirken der Angeklagten nicht mehr erforderlich, während das mediale Tohuwabohu des Wahlkampfs die polizeilichen Ermittlungen zur unbedeutenden Nebensache machen dürfte.

21. April 2017


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