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PARTEIEN/335: London findet keinen Ausweg aus der Brexit-Krise (SB)


London findet keinen Ausweg aus der Brexit-Krise

Britische Konservative weiterhin mit internem Machtkampf beschäftigt


In Großbritannien wird der Austritt aus der Europäischen Union zunehmend zu einem Alptraum. Während sich die ursprüngliche Vision der EU-Skeptiker von einem Empire 2.0 in wachsendem Maße als Hirngespinst erweist, werden sich immer mehr Briten des Schadens bewußt, den der von der konservativen Regierung Theresa Mays angestrebte harte Brexit - Austritt sowohl aus der Zollunion als auch aus dem Binnenmarkt - anzurichten droht. Ryanair-Chef Michael O'Leary warnt bereits vor einem Zusammenbruch des Flugverkehrs zwischen dem Vereinigten Königreich und dem europäischen Festland ab März 2019, während die Vertreter diverser Wirtschaftssektoren wie Bildung, Lebensmittelproduktion und Gastronomie einen Nachwuchsmangel befürchten, sollte bis zum genannten Datum mit Brüssel kein vernünftiges Arrangement in der Einwanderungsfrage erzielt werden. Wie sehr sich Großbritannien mit dem Votum vom Juni 2016 für den EU-Austritt in die Isolation hineinmanövriert hat, stellten aufmerksame Medienkommentatoren in London anhand der Kanzlerdebatte im deutschen Fernsehen am 3. September fest; im Rededuell zwischen CDU-Chefin Angela Merkel und SPD-Herausforderer Martin Schulz fiel das Wort Brexit kein einziges Mal.

Inzwischen haben EU-Chefunterhändler Michael Barnier und der britische Brexit-Minister David Davis drei Verhandlungsrunden hinter sich, ohne jedoch vorzeigbare Ergebnisse erzielt zu haben. Trotz der Veröffentlichung einer Reihe von Positionspapieren seitens der Londoner Regierung in den letzten Wochen hat es keinen Durchbruch in jenen drei Sachbereichen gegeben, welche die restlichen 27 EU-Staaten geregelt haben wollen, bevor Gespräche über die künftigen Beziehungen zu Großbritannien geführt werden können. Was die Begleichung der finanziellen Verpflichtungen gegenüber dem EU-Haushalt betrifft, so hat London immerhin Bereitschaft signalisiert, rund 50 Milliarden Euro zu zahlen. Doch die anderen beiden Problemfelder - künftige Rechte der EU-Bürger in Großbritannien und die Handhabung der inneririschen Grenze - bleiben kaum beackert. Während Brüssel den Vorschlag Londons für eine "smarte", das heißt elektronisch abgesicherte und daher physisch nicht spürbare Grenze, zwischen der Republik Irland und Nordirland für illusorisch hält, droht Dublin die Brexit-Verhandlungen mit seinem Veto zum Platzen zu bringen.

Die Ungenauigkeit, welche die bisherigen Positionspapiere der verschiedenen britischen Ministerien zum Thema EU-Austritt kennzeichnen, weist auf die Tatsache hin, daß hinter den Kulissen die Schlacht um den Brexit weiterhin mit harten Bandagen - Ergebnis offen - ausgetragen wird. Nach dem Verlust der eigenen Mehrheit im Parlament bei vorgezogenen Wahlen im Juni gilt May als Premierministerin auf Abruf. Der einzige Grund, warum die stets steif wirkende, wenig charismatische Ex-Innenministerin immer noch in Number 10 Downing Street residiert, ist die anhaltende Unfähigkeit der Konservativen, sich auf einen Nachfolger zu einigen, weshalb sie May noch nicht stürzen wollen. Die Tories sind zutiefst gespalten - zwischen sozialliberalen Remainers, die das Austrittsvotum bedauern und die größtmögliche Nähe zur EU suchen, und den reaktionären Brexiteers, die hinter Brüssel ein von Deutschland dominiertes Viertes Reich wähnen.

Wohlwissend um die ungeheueren Spannungen, welche die konservative Partei regelrecht zu zerreißen drohen, wie zugleich auf Drängen des Großkapitals und der Gewerkschaften hat sich die oppositionelle Labour Party vor zwei Wochen auf einen "sanften Brexit" festgelegt. Wenn es nach Labour-Chef Jeremy Corbyn, Finanzsprecher John McDonnell und Brexit-Sprecher Keir Starmer geht, soll London mit Brüssel einen Verbleib Großbritanniens in Binnenmarkt und Zollunion für mindestens vier Jahre nach dem Austrittsdatum Ende März 2019 vereinbaren. Dies würde die Regelung der unzähligen und komplizierten Aspekte der bilateralen Beziehungen erleichtern und Großbritannien vor der wirtschaftlichen Katastrophe bewahren. Corbyn, McDonnell und Starmer halten diesen Standpunkt für mehrheitsfähig und hoffen, damit bei der nächsten Unterhauswahl den Sieg für die Sozialdemokatie davonzutragen.

Ab dem 7. September geht der Brexit-Gesetzentwurf, der European Union (Withdrawal) Bill, im Londoner Parlament in die zweite Lesung. Die May-Regierung will das Gesetz, mit dem 40 Jahre europäisches Recht in britisches übergehen, ohne Veränderung durch beide Kammern des Parlaments bringen. Erst danach sollen die Minister und ihre Beamten gemäß der sogenannten Heinrich-der-Achte-Klausel Veränderungen an den verschiedenen Regelungen die EU-Gesetze vornehmen. Sowohl im Unterhaus als auch beim House of Lords regt sich gegen diesen Plan Widerstand. Nicht wenige Parlamentarier befürchten, daß die konservative Regierung den Umwandlungsprozeß benutzen könnte, um Umweltstandards und Arbeitnehmerrechte abzuschwächen.

Die Fraktion der Labour-Partei hat genauso wie die der Liberaldemokraten, der Grünen und der schottischen Nationalisten (SNP) Gesetzesänderungen in der Hoffnung vorbereitet, einzelne gemäßigte Abgeordnete der Konservativen dafür erwärmen zu können. Die Gefahr, daß bei der einen oder anderen Abstimmung der kommenden Wochen Mays von den protestantischen nordirischen Unionisten gestützte Minderheitsregierung eine Niederlage erleidet, die Premierministerin deshalb zurücktreten müßte und Neuwahlen ausgeschrieben würden, ist sehr groß. Deshalb wird aktuell enormer Druck auf die konservativen Hinterbänkler ausgeübt, damit diese nicht aus der Reihe tanzen. Für den Fall der Fälle scheinen sich die Tories jüngsten Umfragen zufolge allmählich auf Jacob Rees-Mogg als May-Nachfolger zu verständigen. Man kann den Briten nur wünschen, daß dies zutrifft. Rees-Mogg, dessen Vater Chefredakteur der Times of London war, ist ein schwerreicher, erzreaktionärer Snob, der sämtliche Vorurteile über die Arroganz und Voreingenommenheit des britischen Geldadels bestätigt. Wenn die Tory-Brexiteers wirklich glauben, mit Rees-Mogg als Aushängeschild beim britischen Wahlvolk punkten und landesweite Parlamentswahlen gewinnen zu können, denn haben sie endgültig den Kontakt zur Wirklichkeit verloren.

5. September 2017


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