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PARTEIEN/377: Brexit - die EU greift ein ... (SB)


Brexit - die EU greift ein ...


Unter der Führung Theresa Mays hat die zeitgenössische britische Diplomatie beim EU-Gipfel am 21. März einen neuen Tiefpunkt erreicht. War der Brexit von seinen Befürwortern erfolgreich als Weg des Vereinigten Königreichs, die "Kontrolle" über sein Schicksal "wiederzugewinnen", verkauft worden, so haben an diesem Tag die Regierungschefs der EU-27 eigenhändig und ohne Beteiligung Mays, die im Vorzimmer auf den Ausgang der Beratungen warten mußte, einen Fahrplan ausgearbeitet, wie das Brexit-Chaos wenn nicht in Großbritannien und Nordirland gänzlich gestoppt, so zumindest daran gehindert werden kann, auf das europäische Festland überzugreifen.

Im Januar und Februar war May im britischen Unterhaus mit dem Austrittsabkommen, das sie über zwei Jahre mit den EU-27 ausgehandelt hatte, grandios gescheitert. Der Withdrawal Bill erlitt die schwerste und die viertschwerste Niederlage in der parlamentarischen Geschichte deshalb, weil Mays Kompromißlösung den Austrittsgegnern und den Befürwortern einer Zollunion mit der EU zu weit, den harten Brexiteers, die auf einen ungeordneten Austritt mit allen Konsequenzen drängen, um eine neue Freihandelszone mit den USA Donald Trumps bilden zu können, nicht weit genug geht. Die zehn Abgeordneten der protestantisch-fundamentalistischen Democratic Unionist Party (DUP), auf deren Unterstützung im Unterhaus Mays konservative Minderheitsregierung seit 2017 zum Überleben angewiesen ist, lehnen den Austrittsvertrag wegen der "Backstop"-Klausel kategorisch ab, die den grenzfreien Verkehr in Irland garantieren soll, weil dadurch Nordirland eventuell enger an die Republik im Süden als an Großbritannien gebunden wäre.

Am 18. März zog Parlamentssprecher John Bercow mit einem Schwung May den Teppich unter den Füßen weg, als er unter Verweis auf eine Regelung aus dem Jahr 1604 die geplante dritte Abstimmung über den Austrittsvertrag für unzulässig erklärte und sogleich von der Tagesordnung nahm. Am darauffolgenden Tag votierte eine große Mehrheit der Unterhausabgeordneten für eine Verschiebung des Austrittsdatums am 29. März um mehrere Monate, um ein Eintreten des sogenannten "No-Deal"-Brexits mit allen verheerenden Folgen für Wirtschaft und öffentliches Leben beiderseits des Ärmelkanals zu verhindern. Am selben Abend kritisierte im Fernsehen Trumps Nationaler Sicherheitsberater John Bolton den Stand der Brexit-Verhandlungen. Am 20. März erschien im konservativen Daily Telegraph, Hauspostille der britischen Generalität, ein Gastkommentar von Trumps Sohn Donald jun., in dem dieser May und ihrer Regierung praktisch Feigheit vor dem Feind vorwarf.

Am Abend vor der Abreise nach Brüssel hielt May von ihrem Amtssitz in Number 10 Downing Street aus eine erbärmliche Brandrede, in der sie sich zum Brexit bekannte und die Parlamentarier als Landesverräter hinstellte, welche die Umsetzung des Willens des Volkes mutwillig vereitelten. Die Rede löste bei Abgeordneten aller Parteien große Empörung aus. Politiker und Kommentatoren sahen in dem Auftritt den durchsichtigen Versuch Mays, die eigene maßgebliche Verantwortung für die Klemme, in der das Land steckt, auf andere abzuwälzen und eine populistische, antidemokratische Stimmung zu schüren. Wenn letzteres das Ziel Mays gewesen sein sollte, hat sie es erreicht. Wegen Morddrohungen kann Anne Soubry, die vor wenigen Wochen wegen ihrer Ablehnung von Mays "gefährlichem" Brexit-Schlingerkurs aus der konservativen Partei ausgetreten ist, nicht mehr nach Hause und steht unter Polizeischutz. Die Polizei hat sogar allen britischen Parlamentariern geraten, vorerst nicht mehr allein, sondern nur in Begleitung oder zu mehreren auf die Straße zu gehen. Parlamentssprecher Bercow sah sich am 21. März zu einer Stellungnahme genötigt, in der er den Abgeordneten öffentlich versicherte, daß niemand im Unterhaus ein "Landesverräter" sei. Was wenige Stunden später in Brüssel folgte, beschrieben am nächsten Tag Daniel Boffey, Heather Stewart und Jennifer Rankin im Guardian wie folgt:

Früher am Donnerstag hatte May vor den Regierungschefs eine Rede gehalten, die von Quellen als '90 Minuten nichts' beschrieben wird und in der es ihr nicht gelungen ist, die EU-27 davon zu überzeugen, daß sie einen Plan zur Vermeidung eines No-Deal-Brexits hat.

May hatte um eine Fristverlängerung nach Artikel 50 [des Lissaboner Vertrags - Anm. d. SB-Red.] bis zum 30 Juni gebeten, die sie brauchte, um lebenswichtige Gesetze verabschieden zu können, sollte sie ihren Deal nächste Woche durch das Unterhaus bringen.

Doch ihr Appell scheiterte 'kläglich', weil er keine Antwort enthielt, was May zu tun gedachte, sollte ihr Deal von den Unterhausabgeordneten erneut blockiert werden, erklärten die Quellen. Dies veranlaßte die EU-27-Regierungchefs, die Sache selbst in die Hand zu nehmen und damit quasi die Kontrolle über Mays Zukunft zu übernehmen.

'Sie konnte nicht einmal klar sagen, ob sie eine Neuabstimmung organisieren würde', sagte ein Regierungsberater. 'Dreimal gefragt, was sie tun würde, sollte ihr Deal erneut scheitern, konnte sie nicht antworten. Es war schlimm. Schrecklich. Ausweichend, selbst nach ihren Maßstäben.'

Als die EU-27-Regierungchefs May fragten, was sie tun wolle, sollte ihr Deal erneut durchfallen, antwortete May einfach, sie werde weiterhin ihrem Plan A folgen, um ihn durchzubekommen, sagte ein anderer Ministerialbeamter. Das war das Moment, in dem die EU beschloß, daß 'sie keinen Plan hatte und man einen für sie entwerfen sollte', fügte die Quelle hinzu.

Während May draußen wartete, diskutierten Angela Merkel, Emmanuel Macron, Mark Rutte, Leo Varadkar und ihre 23 Amtskollegen mehrere Stunden, bis sie einen brauchbaren Vorschlag erarbeitet hatten, den sie der britischen Premierministerin mit auf den Rückweg nach London geben konnten. Er sieht eine Verschiebung des Autrittsdatums bis zum 12. April vor. Bis dahin soll das Parlament in London entweder das Withdrawal Agreement verabschieden oder sich auf eine andere Möglichkeit, den ungeordneten Austritt zu vermeiden, verständigen. Sonst tritt dieser am 13. April ein. Sollte sich Mays Deal doch noch durchsetzen, haben die Briten Zeit bis zum 22. Mai - ein Tag vor Beginn der EU-Wahl - um die noch erforderlichen Gesetze zur Brexit-Bewältigung zu verabschieden. Setzt sich im Unterhaus dagegen eine Mehrheit für eine Zollunion, Neuwahlen, Aussetzung von Artikel 50 oder eine zweite Volksbefragung durch, ist die EU für unbefristete Verhandlungen über das weitere Vorgehen offen.

In London steht die entscheidende Phase im Ringen um den Brexit bevor. Mays Deal wird keine Aussicht auf Erfolg eingeräumt. In einer ersten Stellungnahme hat Nigel Dodds, Fraktionsvorsitzender der DUP im Unterhaus, die Brexit-Verhandlungen für gescheitert erklärt und May "Versagen auf ganzer Linie" vorgeworfen. Damit steht ein Nein der DUP und mit ihm auch der harten Brexiteers von der European Research Group (ERG) um Boris Johnson fest. Medienberichten zufolge ist bei den Tories ohnehin der Kampf um die Nachfolge das Hauptthema, denn May ist als Partei- und Regierungschefin nicht mehr tragbar.

Während das britische Militär vorsorglich den Atombunker der Exekutive unter der britischen Hauptstadt für den erwarteten nationalen Notstand im Falle eines No-Deal-Brexits in Betrieb genommen hat - Operation Yellowhammer - bemühen sich die Abgeordneten Dominic Grieve von den Tories und Yvette Cooper von den oppositionellen Sozialdemokraten um eine überparteiliche Mehrheit im Unterhaus, die sich dann auf einen Ausweg aus der Brexit-Krise festlegen kann. Unterdessen haben innerhalb von zwei Tagen auf der Website des britischen Parlaments mehr als vier Millionen Briten eine Petition mit der Forderung nach der Abhaltung eines zweiten Referendums über die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs unterzeichnet. Am heutigen 23. März findet in London eine große Massendemonstration für den Verbleib in der EU statt, bei der unter anderem die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon sprechen wird.

23. März 2019


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