Schattenblick → INFOPOOL → EUROPOOL → REDAKTION


PARTEIEN/393: Brexit - alles andere als integer ... (SB)


Brexit - alles andere als integer ...


Boris Johnson und den britischen Tories sitzt die Angst im Nacken - die Angst davor, ähnlich wie Theresa May 2017 mit einem scheinbar uneinholbaren Vorsprung vor den oppositionellen Sozialdemokraten in den Umfragen in den Wahlkampf zu ziehen und an dessen Ende doch noch als Verlierer dazustehen. Damals hoffte May, die kleine, aber respektable Parlamentsmehrheit, die sie ein Jahr zuvor von David Cameron geerbt hatte, auszubauen, um die Position Londons bei den Brexit-Verhandlungen mit der EU zu stärken, und hat sie statt dessen gänzlich verspielt. Die Konservativen blieben im Unterhaus zwar stärkste Fraktion, doch die May-Regierung war ab Sommer 2017 zum Überleben auf die Stimmen der zehn Abgeordneten der protestantisch-fundamentalistischen Democratic Unionist Party (DUP) angewiesen, was die Gespräche Londons mit Brüssel über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union enorm verkompliziert hat.

Um ein solches Szenario nicht noch einmal erleben zu müssen, haben die Tories im Sommer Boris Johnson zum neuen Parteivorsitzenden und Premierminister ernannt. Der ehemalige Brüssel-Korrespondent des Daily Telegraph gilt als arbeitsfaul, verantwortungslos und extrem unzuverlässig - was ihm während seiner zwei Jahre als Außenminister Mays vernichtende Kritiken einbrachte. Doch Johnsons Jovialität und Spontanität haben ihm zweimal geholfen - 2008 und 2012 - die Wahl zum Bürgermeister von London, traditionell eine Hochburg der Sozialdemokraten, zu gewinnen. Mit Johnson als sprücheklopfende Galionsfigur ließe sich für die Tories erneut eine absolute Mehrheit im Unterhaus erringen, mittels derer man anschließend den Brexit auch gegen den Willen von Sozialdemokraten, Liberaldemokraten, Grünen sowie schottischen und walisischen Nationalisten durchboxen könne, so das Kalkül der konservativen Parteibasis, die den Blondschopf zu ihrem neuen Chef gewählt hat.

Bisher entwickelt sich für die Konservativen aber alles in die falsche Richtung. Johnson schreckt die Menschen nicht wie einst der Maybot ab - der Guardian-Haussatiriker John Crace hatte den Spitznamen für die glücklose, steif-staksige Ex-Innenministerin erfunden -, doch die Kumpelschiene kauft dem einstigen Elite-Schüler und Oxford-Absolventen niemand mehr ab. Überall, wo Johnson in der Öffentlichkeit die Nähe zum Wähler sucht, wird er in der Regel unfreundlich abgebügelt. Johnsons Ruf als Lügenbaron und Opportunist eilt ihm voraus, weswegen ihn die Leute, statt sich geduldig seinen Wahlsermon anzuhören, vor laufenden Kameras gleich beschimpfen oder ein Streitgespräch entfachen - was natürlich sehr unterhaltsame, für den Tory-Wahlkampf jedoch recht negativ wirkende Bilder in den allabendlichen Fernsehnachrichten produziert. Als Johnson erst nach einer Woche schweren Regens die überfluteten Städte Nordenglands besuchte, hat ihn die erste Frau, der er die Hand entgegenstreckte, wegen seines späten Erscheinens gerügt und mit den Worten "Entschuldigen Sie mich, aber ich habe hier auszumisten" mit offenem Mund dastehen lassen. Mehrere Wahlkampfauftritte des Premiers mußten wegen angekündigten Gegendemonstrationen von jugendlichen Klimaaktivisten und Brexit-Gegnern sogar abgesagt werden.

Nach einer ganzen Reihe solch desaströser Begegnungen mit dem einfachen Volk begnügte sich Johnson am 15. November mit mehreren Radiointerviews. Beim morgendlichen Auftritt im Studio des Rundfunksenders BBC 5 Live, parierte er eine Stunde lang die Fragen von Moderatorin Rachel Burden und verschiedenen Anrufern unter anderem zum Brexit, zu der hochumstrittenen möglichen Privatisierung des staatlichen britischen Gesundheitssystems NHS an die US-Medizinindustrie sowie zu seinem früheren, nicht realisierten Prestigeprojekt einer begrünten "Gartenbrücke" über die Themse im Herzen von London mit den üblichen Ausweichmanövern, Auslassungen und irreführenden Angaben mehr schlecht als recht. Doch die eine Frage, die sich Burden für den Schluß der Sendung aufgespart hatte, verschlug Johnson die Sprache. Partout konnte oder wollte der Tory-Chef nicht sagen, wie viele Kinder er hat. Der wortgewaltige, latein- und altgriechisch-zitierende Churchill-Biograph blieb stumm.

Die Sprachlosigkeit Johnsons zur Frage der eigenen Nachkommenschaft hat einen guten Grund. Nach sechs Jahren Ehe trennte er sich 1993 von seiner ersten Frau, der Kunsthistorikerin Allegra Mostyn-Owen, um nur zwölf Tage später die Anwältin Marina Wheeler zu heiraten. Fünf Wochen später kam das erste gemeinsame Kind Johnsons und Wheelers auf die Welt. Inzwischen haben sie vier, zwei Jungen und zwei Töchter. Zwischen 2000 und 2004, als Johnson Chefredakteur der konservativen Wochenzeitschrift Spectator war, hatte er eine Affäre mit deren Kolumnistin Petronella Wyatt, in deren Folge es zu zwei Schwangerschaftsabbrüchen gekommen ist. 2006 meldete das sonntägliche Boulevardblatt News of the World, Johnson und die Guardian-Journalistin Anna Fazackerley hätten eine Romanze. Diese blieb von den Beteiligten unkommentiert, dafür hat Johnson bald danach Fazackerley beim Spectator eingestellt. 2009 hat Johnson mit der Kunstberaterin Helen McIntyre ein Kind gezeugt und diese Tatsache geheimgehalten. 2013 wurde ein von Johnson erwirktes gerichtliches Berichtsverbot über die Existenz dieses Kindes vom Appellationsgericht aufgehoben. Bei dem Prozeß taten sich Hinweise auf, Johnson habe noch ein sechstes Kind von einer weiteren Frau.

Im September 2018 lösten Johnson und Wheeler nach 25 Jahren ihre Ehe auf; seitdem wird ihr Scheidungsstreit gerichtlich abgehandelt. Zuvor war die Affäre Johnsons mit der 24 Jahre jüngeren PR-Beraterin Carrie Symonds, die damals als Kommunikationsdirektorin bei der konservativen Partei arbeitete, bekannt geworden. Ende Juli zog Symonds als erste nicht-eheliche Partnerin eines Premierministers zusammen mit Johnson in die Number 10 Downing Street ein. Seit Ende des Sommers sieht sich Johnson von einer weiteren Affäre verfolgt, diesmal mit dem ehemaligen US-Bademodemodell Jennifer Arcuri. Die beiden haben sich während Johnsons Zeit als Londoner Bürgermeister kennengelernt. Damals schlug sich Arcuri als Veranstalterin in der britischen Hauptstadt durch. Obwohl ihr Eine-Frau-Betrieb die vorgeschriebenen Kriterien offenbar nicht erfüllte, bekam Arcuri dank des Zuspruchs Johnsons rund 150.000 Euro aus einem Förderprogramm für kleine IT-Firmen und durfte den Bürgermeister als Teil seiner Handelsdelegation bei mehreren Auslandsreisen, unter anderem in die USA und nach Israel, begleiten.

Anfang November beschloß das Independent Office for Police Conduct (IOPC), die Entscheidung darüber, ob gegen Johnson strafrechtliche Ermittlungen wegen der Causa Arcuri eröffnet werden sollten oder nicht, auf die Zeit nach der Unterhauswahl zu verschieben. Hatte Johnson gedacht, damit sei die brisante Angelegenheit zumindest bis zum Urnengang entschärft, änderte sich das schlagartig, als Arcuri am 17. November zur besten Sendezeit in einem Interview mit dem britischen Fernsehsender ITV ihr gebrochenes Herz ausschüttete und den Tory-Chef als gemeinen Schuft beschimpfte, der sie angesichts des medialen Infernos um ihre Person beiderseits des Atlantiks vollkommen in Stich gelassen habe. Auf ihre Anrufe reagiere Johnson seit dem Sommer nicht mehr, klagte Arcuri traurig, um wie folgt direkt in die Kamera zu erklären:

Ich habe deine Geheimnisse bewahrt und ich bin dein Freund gewesen. Und ich verstehe nicht, warum du mich abgeblockt und ignoriert hast, als sei ich irgendein Flittchen oder irgendein Mädchen, das du an der Bar abgeschleppt hast, denn das war ich nicht - und das weißt du. Und ich bin zutiefst traurig darüber, wie du mich wie irgendeinen Quälgeist weggeworfen hast.

Arcuri beließ es nicht beim einmaligen ITV-Interview, das offenbar mehrere Tage zuvor aufgezeichnet worden war, sondern flog extra nach London, um durch die verschiedenen Fernsehstudios und Zeitungsredaktionen zu tingeln und ihre "15 Minuten Berühmtheit" versilbern zu lassen. Inzwischen buhlen die britischen Fernsehsender um die kurvenreiche Blondine aus Kalifornien. Über Engagements bei gleich drei Reality-TV-Sendungen - "I'm A Celebrity, Get Me Out Of Here", "Dancing on Ice" und "Loose Women" - wird laut einem Bericht des Massenblatts Sun bereits verhandelt.

Erschwerend kommt für Johnson auch noch das absolut katastrophale, einstündige Interview hinzu, das Prince Andrew zum Thema seiner jahrelangen Freundschaft mit dem im August unter sonderbaren Umständen in Haft verstorbenen New Yorker Multimillionär und Mädchenhändler Jeffrey Epstein der BBC gegeben hat und das am 16. November ausgestrahlt wurde. Darin hat der zweite Sohn von Königin Elizabeth bestritten, jemals Sex mit Minderjährigen gehabt zu haben und angedeutet, das berühmte Foto, das ihn in einer Umarmung mit der damals 17jährigen Virginia Roberts am 10. März 2001 in der Londoner Wohnung der Epstein-Freundin Ghislaine Maxwell zeigt, sei gefälscht. Andrews plumpe Versuche, die Verbindung zu Epstein, der in den Nullerjahren nachweislich Sarah Ferguson, der Ex-Frau des Prinzen, finanziell aus der Patsche geholfen hat, zu verharmlosen sowie Unkenntnis hinsichtlich des bunten Treibens im New Yorker Townhouse und auf der karibischen Insel des Finanzjongleurs vorzutäuschen, waren mehr als unglaubwürdig und haben in Großbritannien eine lebhafte öffentliche Debatte um "Low Morals in High Places" entfacht, die sich noch als schwere Belastung für Boris Johnson erweisen könnte.

19. November 2019


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang