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PARTEIEN/401: Brexit - die Wunde entzündet sich ... (SB)


Brexit - die Wunde entzündet sich ...


Zwischen der Europäischen Union und dem Vereinigten Königreich laufen die Verhandlungen über die Gestalt ihrer künftigen Beziehungen miserabel. Schuld daran ist nicht in erster Linie das Corona-Virus, an dem in den letzten Wochen sowohl die beiden Chefunterhändler, der Franzose Michel Barnier und der Engländer David Frost, leicht und der britische Premierminister Boris Johnson schwer erkrankten. Nein, Ursache der fehlenden Einigung ist die Verhandlungsstrategie der Briten, die weiterhin mit der Drohung eines für beide Seiten schädlichen "No-Deals" die ehemaligen EU-Partner zu einem großzügigen Freihandelsabkommen nach den Vorstellungen der harten "Brexiteers" zwingen zu können glauben.

Ende April hat sich Barnier enttäuscht über den bisherigen Verlauf der Gespräche gezeigt, die zur Vermeidung der Covid-19-Ansteckungsgefahr inzwischen lediglich per Telefonkonferenz abgehalten werden. Weil die Corona-Pandemie und die damit einhergehenden Einschränkungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in Europa alle bis Anfang 2020 gültigen ökonomischen Perspektiven über den Haufen geworfen hat, war in den verschiedenen Hauptstädten auf dem Kontinent vielfach die Idee einer Verlängerung der Übergangsphase, in der sich das Vereinigte Königreich weiterhin an die EU-Regeln halten muß, ventiliert worden - um ein oder maximal zwei Jahre vielleicht (Formal ging nach 47 Jahren die Mitgliedschaft von Großbritannien und Nordirland in der EU am 31. Januar zu Ende). Noch als Boris Johnson im Londoner Krankenhaus lag, hatte David Frost derartigen Anregungen eine kategorische Absage erteilt. Die Übergangsphase laufe am 31. Dezember aus; "Sollte die EU um eine Verlängerung bitten, werden wir mit Nein antworten", so der britische Verhandlungsleiter am 16. April per Twitter.

Kaum war Johnson wieder außer Lebensgefahr und auf dem Weg der Genesung, da brach der Streit um die irische Grenze, die seit 2016 die ganze Brexit-Problematik extrem kompliziert macht, wieder voll los. Ende April zog London seine frühere Zusage, die EU dürfe auch ab dem 1. Januar 2021 ein Büro in Belfast unterhalten, dessen Mitarbeiter die Einhaltung die vereinbarten Waren- und Lebensmittelstandards an den nordirischen Flug- und Seehäfen kontrollieren und den Handel zwischen Nordirland und Großbritannien überwachen können, um die Einführung einer "harten" Grenze mit Zollhäuschen zwischen der Republik Irland und dem Norden der grünen Insel zu vermeiden, einfach zurück. Damit wurden Befürchtungen, die im Februar nach der Entlassung des bisherigen Nordirlandministers Julian Smith und des Justizministers Geoffrey Cox aufgetaucht waren, nämlich daß Johnson seine Ende 2019 gemachten Zusicherungen gegenüber dem irischen Premierminister Leo Varadkar bezüglich der unbedingten Beibehaltung der "unsichtbaren" irischen Grenze und Londons Einhaltung seiner Verpflichtungen nach dem Karfreitagsabkommen von 1998, mit dem der Bürgerkrieg in Nordirland zu Ende ging, über Bord werfen werde, wieder zur Wirklichkeit.

Das Szenario entspricht den Wünschen der harten Brexiteers, die inzwischen Johnsons konservative Partei dominieren. Die englischen Chauvinisten sind nicht nur Deutschland, Frankreich und Spanien gegenüber feindlich eingestellt, sie halten den Friedensvertrag, den damals der Sozialdemokrat Tony Blair im Namen Ihrer Majestät Königin Elizabeth II mit Dublin, der Untergrundorganisation Irisch-Republikanische Armee (IRA) sowie allen nordirischen Gruppierungen mit Ausnahme der pro-britischen, protestantisch-fundamentalistischen Democratic Unionist Party (DUP) ausgehandelt hat, für eine schändliche Kapitulation gegenüber den "Terroristen" und einen Verrat am britischen Soldatentum. Kein Wunder also, daß seit vier Jahren die DUP, die inzwischen die stärkste protestantische Kraft in Belfast ist, und die konservative Regierung in London, den Brexit nutzen, um die friedliche Überwindung der Teilung Irlands, wie sie im Karfreitagsabkommen vorgesehen war, zu blockieren bzw. in ihr Gegenteil zu verkehren.

Durch die Corona-Krise und die damit einhergehende Frage nach den besten Methoden zur Bekämpfung der Seuche hat die Grenzproblematik in Irland eine neue Dringlichkeit erhalten. Die Regierung in Dublin hat bereits Anfang März angefangen, die Schulen zu schließen und Großveranstaltungen abzublasen. Johnson, der die Pandemie zunächst auf die leichte Schulter nahm, hat ähnliche Maßnahmen eine Woche bis zehn Tage später ergriffen. Durch die unterschiedliche Handhabung ist die Republik Irland bisher relativ glimpflich durch die Krise gekommen, wenngleich die Ausbreitung der Lungenkrankheit in den Alten- und Pflegeheimen kein gutes Zeugnis ausstellt. Das Vereinigte Königreich dagegen hat sich zum Land in Europa mit den meisten Corona-Toten entwickelt. Während andere europäische Staaten bereits mit ersten Lockerungen beginnen, muß London damit noch warten, da sich die Rate der Infektionszunahme nicht abflacht. Weil sich die Gesundheitsbehörden in Nordirland nach den Vorgaben aus London gerichtet haben und nicht dem Beispiel Dublins gefolgt sind, liegt auch die Pro-Kopf-Zahl der Infizierten und der Todesopfer in den sechs nordöstlichen Grafschaften höher als in den restlichen 26.

Während alle Epidemiologen empfehlen, die Insel Irland als Einheit zu behandeln, lehnt die DUP in der Corona-Krise eine Zusammenarbeit mit Dublin ab, die über den reinen Informationaustausch hinausgeht. Das entspricht dem Verhalten Londons gegenüber der EU. Im Februar hat London die Einladung aus Brüssel zur Teilnahme an einer pan-europäischen Aktion zum Großeinkauf von Beatmungsgeräten, Schutzkleidern für Krankenhauspersonal und Atemschutzmasken auf dem Weltmark aus ideologischen Gründen ausgeschlagen. Als dieser Umstand Ende März, Anfang April, als in den britischen Krankenhäusern der Mangel an diesem Material extrem groß war, in der britischen Öffentlichkeit bekannt wurde, kam es zu einer heftigen politischen Kontroverse.

Demnächst wollen die irischen und britischen Regierungen ihrer Bürger zum Herunterladen jeweils einer eigenen, landesspezifischen Smartphone- App veranlassen, um die Verbreitung des Corona-Virus sichtbar und bekämpfbar zu machen. Während sich Dublin wie die anderen EU-Regierungen für die dezentralisierte Version von Google/Android und Apple/iOS entschieden hat, bei der die Daten auf dem Telefon des Besitzers gespeichert bleiben, favorisiert London eine Variante, die der Zentralregierung und vor allem dessen Geheimdiensten den Datenzugriff ermöglichen. An der Entwicklung der britischen Covid-19-App sind zudem Personen und Unternehmen beteiligt, die Johnson und seinem wichtigsten Politberater Dominic Cummings nahestehen. Die Rede ist vom britischen Start-Up-Unternehmen Faculty und dem US-Software-Anbieter Palantir Technologies, dessen wichtigster Anteilseigner bekanntlich der Hedge-Fond-Manager und Donald-Trump- Vertraute Peter Thiel ist. Man darf gespannt sein, für welche der beiden Apps sich die Menschen in Nordirland entscheiden werden.

Jedenfalls dürften die Träume der europhobischen Brexiteers von einem Freihandelsabkommen mit der EU nach Art Kanadas bald platzen. Ihnen steht eine harte Landung auf dem Boden der Realität bevor. Wie die Europa-Korrespondentin Naomi O'Leary am 6. Mai in der Irish Times berichtete, ist man in Brüssels "vom Brexit-Drama mit dem Vereinigten Königreich zunehmend abgestumpft". Im Juli übernimmt Deutschland die halbjährliche EU-Ratspräsidentschaft. Bis Ende 2020 dürfte die Regierung Angela Merkels praktisch nur noch mit der Überwindung der Corona-Krise und der Wiederbelebung der Wirtschaft Deutschlands und der EU befaßt sein und somit wenig oder gar keinen Platz haben, um die Sonderwünsche des "kranken Manns von Europa" zu berücksichtigten.

7. Mai 2020


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