Schattenblick →INFOPOOL →GEISTESWISSENSCHAFTEN → FAKTEN

BERICHT/030: Bologna-Reform gefährdet Wissenschaftskultur (attempto! - Tübingen)


attempto! 22/2007 - Forum der Universität Tübingen - April 2007

Noch ist es nicht zu spät, um Schaden abzuwenden

Von Julian Nida-Rümelin


Den europäischen Geisteswissenschaften weht ein scharfer Wind ins Gesicht. Die Bologna-Reformen gefährden ihre typische Wissenschaftskultur und zwingen sie angesichts der Angleichung an amerikanische Standards in einen Prozess der "Selbstkolonialisierung". Speziell Deutschland, wo die Geisteswissenschaften eine starke kulturelle Prägekraft besitzen, hat viel zu verlieren.

Die europäische Hochschulpolitik ist im Umbruch. Der "Bologna-Prozess" schreitet voran, im Jahre 2010 werden fast alle Studiengänge modularisiert sein. Das Gros der Studierenden wird dann nicht nur die Fachhochschulen, sondern auch die Universitäten schon nach drei Jahren verlassen. Die Vorgaben von Bologna erlauben auch einen vierjährigen Bachelor (BA). Diese Option wird bisher merkwürdigerweise in Deutschland nicht genutzt. Für einzelne geisteswissenschaftliche Fächer, die ausreichende Sprachkenntnisse in Hebräisch (Theologie) oder Italienisch (Kunstgeschichte) voraussetzen, ist ein dreijähriges Studium zu kurz. Bis diese Sprachkenntnisse erworben sind, ist die Hälfte des Studiums schon vorbei.


Erfolgsgeschichte der Geisteswissenschaften

Mir scheint, auch nach einer genaueren Betrachtung des Vorgehens in anderen EU-Staaten, dass in Deutschland der Bologna-Prozess zu genormt und zu stark administriert umgesetzt wird. Einige Normierungen gehen vor allem zu Lasten der Geisteswissenschaften, bislang eine international anerkannte Stärke des deutschen Universitätssystems. Die Geisteswissenschaften haben hierzulande eine eminente Erfolgsgeschichte in den vergangenen Dekaden aufzuweisen. Sie waren bis zu ihrer Expansion seit den 60er-Jahren entgegen dem Humboldt'schen Universitätsideal zum großen Teil Ausbildungsfächer für Gymnasiallehrer. Es wurde daher folgerichtig ein akademisches Proletariat erwartet, weil es für all die Philologen, Historiker und Philosophen, Kultur- und Sozialwissenschaftler außerhalb der Schulen keine eigenen Stellen gab - weder in den öffentlichen Verwaltungen noch in der Privatwirtschaft. Dann geschah das gänzlich Unerwartete. Die Forschungsleistung der Geisteswissenschaften differenzierte sich aus, bildete neue interdisziplinäre Verbünde und neue Fächer und ihre Studierenden kamen in den Genuss einer anspruchsvollen, wenig verschulten, aber forschungsnahen Lehre. Zugleich aber ist der besondere Charakter der Geisteswissenschaften durch eine zu weit gehende Verschulung und eine Orientierung an Praxisrelevanz bedroht. Es war in den vergangenen Dekaden selten das spezielle Fachwissen, das einem Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer den Weg in den Beruf geebnet hat. Es waren vielmehr Fähigkeiten wie Urteilsfähigkeit, sprachliche Kompetenz, kulturelle Empathie, Geschick im schriftlichen Ausdruck, die im Verein mit einer Veränderung des Arbeitsmarkts besonders im Bereich Medien, Verlage, Werbung und Kommunikation die Nachfrage nach Absolventen geisteswissenschaftlicher Fächer bestimmte.

Während das US-amerikanische Bachelorstudium in den ersten beiden Jahren breit, ja allgemein bildend angelegt ist und viele Wahlmöglichkeiten einschließt, erfolgt die Umstellung auf modularisierte Studiengänge in Deutschland eher dem Muster eines weit gehend verschulten Ausbildungsgangs in einer Disziplin mit wenig Wahlmöglichkeiten und engem thematischem Fokus. Dies ist für viele Fächer sinnvoll, in den meisten Geisteswissenschaften bedroht es jedoch die spezifische Wissenschaftskultur und das Qualifikationsprofil ihrer Absolventen.


Übernahme eines fremden Forschungsbegriffs

Als mich der deutsche Bundestag im Mai 2005 als Sachverständigen zu einer Anhörung zur Situation der Geisteswissenschaften in Deutschland einlud, war ich noch optimistisch: Die deutschen Geisteswissenschaften haben international einen guten Ruf, in einzelnen Bereichen sind sie zweifellos führend. Das gilt für einen Teil der historischen wie der philologischen Forschungen. Ihre Absolventen haben zwar ein geringeres Lebenseinkommen als ihre Kollegen aus der Medizin, den Natur- und Technikwissenschaften, aber sie haben ein geringeres Risiko, arbeitslos zu werden als der Bevölkerungsdurchschnitt und die zunehmende Flexibilität des Arbeitsmarkts wird ihnen weiter zugute kommen.

Unterdessen bin ich aufgrund aktueller Erfahrungen skeptischer geworden. Ein anderes Szenario erscheint mir nun nicht mehr unplausibel: Im Zuge der Reformen wird ein Forschungs- und Wissenschaftsbegriff paradigmatisch, der den Geisteswissenschaften weit gehend fremd ist. Forschung wird in Gestalt großer, 50 oder 200 Forscher einschließender Cluster gefördert, die Forschungsleistung wird nach Drittmitteleinwerbung und Papers in amerikanischen Reviewed Journals bewertet. Die größere Buchpublikation, für die geisteswissenschaftliche Forschung nach wie vor zentral (daher auch der Widerstand gegen die Abschaffung der Habilitation gerade von Seiten dieser Fächer) und für ihre breitere Wahrnehmung (und damit für ihre gesellschaftliche und politische Relevanz) unverzichtbar, wird entwertet, Publikationen in der Muttersprache oder einer anderen Sprache als der amerikanischen zählen nicht mehr. Die stilistische Sorgfalt, charakteristisch für geisteswissenschaftliche Publikationen, schwindet, die Schrumpfform des Amerikanischen, wie sie in internationalen englischsprachigen Zeitschriften dominiert, nivelliert die geisteswissenschaftliche Terminologie, klassische Quellen und fremdsprachige Texte werden lediglich in ihren englischen Übersetzungen rezipiert und so weiter.


Gefährdung der Wissenschaftskultur

Letztlich mündet diese Entwicklung in eine Art Selbstkolonialisierung der reichhaltigen und vielfältigen geisteswissenschaftlichen Landschaften in Europa und eine Gefährdung der spezifischen Wissenschaftskultur der europäischen Geisteswissenschaften. Die Studienangebote aus den Geisteswissenschaften werden zur Garnierung direkt berufsorientierter Studiengänge abgewertet. Mit anderen Worten, die Geisteswissenschaften erhalten wieder den Status der artes liberales der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universität: eher propädeutisch (vorbereitend) und bildend, eher im Vorfeld als im Zentrum der universitas. Der Zustand der amerikanischen humanities ist jedenfalls besorgniserregend - marginalisiert und zugleich hochgradig ideologisiert mit umstrittenen Standards wissenschaftlicher Seriosität.

So muss es nicht kommen, aber die Wahrscheinlichkeit dafür scheint mir gestiegen zu sein. Die ersten Erfahrungen mit modularisierten Studiengängen, mit dem Exzellenzwettbewerb des Bundes und der Länder, in dem die Geisteswissenschaften keine nennenswerte Rolle spielen, die Diskussionen um Kriterien der Forschungsevaluation lassen für die Geisteswissenschaften in Deutschland nichts Gutes ahnen. Noch ist es nicht zu spät, dem entgegenzusteuern. Es steht viel auf dem Spiel, denn die Geisteswissenschaften sind in Deutschland mit einem Netz von hochkarätigen Kulturinstitutionen der Städte, der Länder und des Bundes aufs Engste verbunden. Kaum ein anderes Land der Welt weist eine solche Dichte an Museen, Theatern und Philharmonien auf, die kulturelle Traditionen wahren und fortentwickeln. In den deutschen Feuilletons werden die bedeutenderen geisteswissenschaftlichen Publikationen und Kontroversen wahrgenommen und kommentiert. Die Geisteswissenschaften haben in Deutschland eine breite interessierte Öffentlichkeit und eine kulturelle Prägekraft, um die uns nicht nur amerikanische Kollegen beneiden. Wir sollten - bei allem Reformbedarf der deutschen Hochschulen - unsere wissenschaftlichen und kulturellen Stärken nicht beschädigen. Es wäre in Deutschland nicht die erste Reform, die Ergebnisse zeitigt, die niemand gewollt hat.

Dieser Beitrag ist eine gekürzte Version eines Aufsatzes, der unter dem Titel "Die hochschulpolitische Lage und die Zukunft der Geisteswissenschaften in Deutschland" in "Aus Politik und Zeitgeschehen", Beilage zu "Das Parlament", Heft 48/2006 erschienen und zusammen mit weiteren Texten auch in der Publikation "Humanismus als Leitkultur" (München: C. H. Beck 2006) enthalten ist.

Julian Nida-Rümelin lehrt Philosophie und politische Theorie an der Universität München und war Kulturstaatsminister im zweiten Kabinett Schröder. Von 1991 bis 1993 war er Professor für Ethik in den Biowissenschaften an der Universität Tübingen. Letzte Buchpublikation: "Demokratie und Wahrheit" (München: C. H. Beck 2006)


*


Quelle:
attempto!, April 2007, Seite 4-6
Zeitschrift der Eberhard Karls Universität Tübingen und der
Vereinigung der Freunde der Universität Tübingen e.V.
(Universitätsbund)
Wilhelmstr. 5, 72074 Tübingen
Redaktion: Michael Seifert (verantwortlich)
Tel.: 07071/29-767 89, Fax: 07071/29-55 66
E-Mail: Michael.Seifert@uni-tuebingen.de
Internet: www.uni-tuebingen.de/uni/qvo/

attempto! erscheint zweimal jährlich zu Semesterbeginn


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2007