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BERICHT/041: Mathematik und das Universum (spektrum - Uni Bayreuth)


spektrum 1/08 - Universität Bayreuth

Mathematik und das Universum

Von Gerhard Rein


Der vorliegende Aufsatz ist die leicht überarbeitete Fassung eines Vortrags, den ich beim Tag der Mathematik im Juli 2007 an der Universität Bayreuth gehalten habe. Einer meiner Doktoranden kommentierte vor dem Vortrag dessen Titel mit der Frage, ob ich es nicht etwas kleiner hätte. Tatsächlich ist das Ziel meines Aufsatzes bescheidener, als der Titel vermuten lässt: Ich möchte anhand einiger Beispiele die Beziehung zwischen Mathematik und Physik beleuchten. Bei diesen Beispielen handelt es sich nur um kleine Teile des Universums, die in meiner eigenen wissenschaftlichen Arbeit eine Rolle spielen, wie z.B. Galaxien oder schwarze Löcher.


*


Beginnen möchte ich diese Betrachtungen zur Beziehung zwischen Mathematik und Physik jedoch mit einer einfachen Frage:

Wie groß ist die Winkelsumme im Dreieck?

An dieser Stelle sollte sich Ihr Schulwissen mit der Antwort 180° zu Wort melden. Zur Erinnerung: Mit den Bezeichnungen aus Abb. 1 gilt:


α + β + γ = 180°


Handelt es sich dabei um eine Aussage aus der Mathematik oder aus der Physik?

Für die erste Ansicht spricht, dass man diese Aussage mathematisch beweisen kann, etwa so:


... und der Beweis dazu

Abb. 2


Wir denken uns durch das Eck C die zur Seite AB parallele Gerade gezogen und die Seiten AC und BC jeweils über C hinaus verlängert, vgl. Abb. 2. Die Verlängerung von AC schneidet die beiden parallelen Geraden jeweils unter dem gleichen Winkel, so dass wir den Winkel α wie in Abb. 2 eingezeichnet nochmals am Eck C finden. Mit dem gleichen Argument finden wir den Winkel β am Eck C, und weil zwei Winkel gleich groß sind, wenn sie einander an zwei sich schneidenden Geraden - in unserem Fall die Parallele und BC - gegenüberliegen, finden wir die Winkel α, β, γ schließlich so am Eck C angeordnet, dass sich als Summe ein gerader Winkel, also 180°, ergibt.

In obigem Beweis haben wir die Behauptung aus anderen Aussagen wie z.B. den Eigenschaften paralleler Geraden gefolgert, die im Rahmen der euklidischen Geometrie gelten. Dort sind für die elementaren Objekte wie Punkte, Geraden und Winkel einige einfache Regeln, die sogenannten Axiome, als gültig verabredet. Eine Aussage wie obiges α + β + γ = 180° gilt als wahr im Rahmen der euklidischen Geometrie, wenn sie sich durch eine Kette von logischen Schlüssen aus den Axiomen herleiten lässt; obiger Beweis ist offenbar nur ein Glied in so einer Kette, da ich mich mit den Axiomen der euklidischen Geometrie hier nicht weiter befassen will.

Der Zusatz "im Rahmen der euklidischen Geometrie" ist dabei essentiell, denn es gibt in der Mathematik auch andere, logisch ebenso konsistente Geometrien, in denen z.B. α + β + γ = 180° nicht gilt. Als Beispiel betrachten wir die geometrischen Verhältnisse auf einer Sphäre, also einer Kugeloberfläche. Dazu überlegen wir zunächst, welche Kurven oder Linien auf der Sphäre die Rolle der Geraden in der euklidischen Geometrie spielen. Da letztere genau die Kurven sind, die zwischen je zwei vorgegebenen Punkten die kürzeste Verbindung realisieren, definieren wir als Verallgemeinerung der euklidischen Geraden die sogenannten Geodäten als die Kurven auf der Sphäre, die zu je zwei vorgegebenen Punkten wiederum die kürzeste Verbindung liefern. Solche Geodäten können wir in jedem Raum betrachten, in dem wir verabredet haben, wie wir Längen von Kurven messen wollen. Im Fall der Sphäre liefert dies die als Großkreise bezeichneten Schnittkurven der Sphäre mit Ebenen durch deren Mittelpunkt.


Kreis mit A, B, C-Unterteilung

Abb. 3: α + β + γ > 180°


Der Äquator und die Längenkreise auf einem Globus sind also Geodäten, und wir können auf der Sphäre ein Dreieck aus Geodäten konstruieren, indem wir wie in Abb. 3 am Nordpol starten, längs eines Längenkreises zum Äquator laufen, dem Äquator ein Stück nach Osten folgen und dann auf einem anderen Längenkreis zum Nordpol zurücklaufen. In diesem Dreieck ist die Summe der Innenwinkel größer als 180°, denn β = γ = 90° unabhängig davon, wie weit wir nach Osten gelaufen sind, d.h., wie groß α ist.

Dies erklärt sich natürlich dadurch, dass die Sphäre kein ebenes, euklidisches Flächenstück ist, sondern sich in dem umgebenden dreidimensionalen euklidischen Raum krümmt, von dem sie andererseits die metrische Struktur, also die Art und Weise wie Längen und Winkel gemessen werden, vererbt bekommt.

Im 19. Jahrhundert aber hat C.F. Gauß (1777-1855) eine neue Sichtweise auf geometrische Räume erdacht, welche die geometrischen Verhältnisse in einem solchen Raum völlig intrinsisch beschreibt, d.h. aus ihm selbst heraus und ohne Bezugnahme auf einen eventuell umgebenden euklidischen Raum. Um diese intrinsische Sichtweise besser zu verstehen, stellen wir uns vor, auf obiger Sphäre leben zweidimensionale, intelligente Wesen, nennen wir sie 2Dlinge, deren Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen auf die zwei Raumdimensionen ihrer Sphärenwelt beschränkt sind. Solange sich die 2Dlinge nur auf einem genügend kleinen Stück ihrer Welt herumbewegen, stellen sie keine oder kaum messbare Abweichungen der Geometrie von der ebenen, euklidischen fest. Aber sobald die 2Dlinge größere Stücke ihrer Welt wie z.B. obiges Geodätendreieck ausmessen, werden sie feststellen, dass die Geometrie ihrer Welt signifikant von der euklidischen abweicht. Wenn wir nun den 2Dlingen erklären, dies liege daran, dass sich ihre zweidimensionale Welt wie eine Sphäre in einem umgebenden dreidimensionalen euklidischen Raum krümmt, so nützt ihnen das angesichts der Tatsache, dass sie mit ihrem Wahrnehmungs- und Vorstellungsvermögen in zwei Dimensionen gefangen sind, wenig. Viel nützlicher ist ihnen die von Gauß gefundene Geometriebeschreibung, mit der sie ein mathematisches Modell ihrer Welt aufstellen können, in dem nur Größen und Konzepte verwendet werden, die ihrer zweidimensionalen Wahrnehmung und den ihnen möglichen, zweidimensionalen Messungen zugänglich sind. Ein solches mathematisches Modell können die 2Dlinge als Basis für ihre Physik benutzen. Umfassend und für Räume beliebiger Dimension hat B. Riemann (1826-1866), ein Schüler von Gauß, die intrinsische Sichtweise der Geometrie entwickelt.

Wir sehen also: Die mathematische Antwort auf die Frage nach der Winkelsumme im Dreieck hängt davon ab, welche Geometrie, welche Axiome wir zugrundelegen. Sofern ein Axiomensystem widerspruchsfrei ist, gibt es im Rahmen der Mathematik keine Möglichkeit, seinen Wahrheitsgehalt zu untersuchen. "Wahr" heißt in der Mathematik immer nur, "logisch korrekt aus den gegebenen Voraussetzungen, also aus den Axiomen, gefolgert".

Aber eine geometrische Aussage wie obiges α + β + γ = 180° lässt sich mit gleichem Recht als Aussage der Physik über den uns umgebenden, realen, dreidimensionalen Raum auffassen, denn man kann ihren Wahrheitsgehalt ja durch Nachmessen bei konkreten, in der physikalischen Realität vorhandenen Dreiecken überprüfen.

In den Jahren 1818-1825 hatte Gauß den Auftrag, das Königreich Hannover zu vermessen. In diesem Zusammenhang bestimmte er mit von ihm selbst entworfenen Messinstrumenten die Winkelsumme des Dreiecks, das von den Spitzen der drei Berge Brocken, Inselsberg und Hoher Hagen gebildet wird. Unter Wissenschaftshistorikern ist umstritten, ob er mit dieser Messung nur die Genauigkeit seiner Messinstrumente an diesem recht großen Dreieck überprüfen wollte - die Seitenlängen betragen immerhin 160 km, 84 km, 68 km -, oder ob er klären wollte, wie die Geometrie des physikalischen Raums beschaffen ist. Die mathematischen Konzepte zur Beschreibung eines dreidimensionalen, nicht euklidischen, gekrümmten Raumes, in dem das Resultat nicht 180° wäre, beruhen jedenfalls auf seinen Einsichten, auch wenn unklar ist, ob sie ihm zum Zeitpunkt dieser Messungen schon zur Verfügung standen. Beachten Sie, dass die entsprechenden Winkel dadurch gemessen wurden, dass von jeweils einer der drei Bergspitzen aus die beiden anderen optisch anvisiert wurden. Die Seitenlinien waren physikalisch also durch Lichtstrahlen realisiert, so dass insbesondere die Krümmung der Erdoberfläche das Messergebnis nicht beeinflusste.

Gauß fand im Rahmen der ihm zur Verfügung stehenden Messgenauigkeit das Ergebnis 180°, und natürlich ging man in der Physik seit Jahrhunderten davon aus, dass für den physikalischen Raum die Gesetze der dreidimensionalen euklidischen Geometrie gelten. Aber als physikalische Aussage ist α + β + γ = 180° nur so lange wahr, wie sie im Rahmen der jeweils aktuell möglichen Messgenauigkeit nicht falsifiziert ist.

Was obige geometrische Betrachtungen mit dem Universum zu tun haben, in dem wir 3Dlinge leben, wird im nächsten Teil meines Aufsatzes klarer werden, den ich wieder an einer konkreten Frage aufhängen will:


Gibt es schwarze Löcher?

Diese Frage hat wieder einen mathematischen und einen physikalischen Aspekt: Besitzt das hier zuständige mathematische Modell, die allgemeine Relativitätstheorie, Lösungen mit den Eigenschaften, die zu dem Begriff des schwarzen Lochs geführt haben? Und gibt es Beobachtungsdaten von realen, astronomischen Objekten, die zu diesen mathematisch vorhergesagten Eigenschaften passen?

Um diese Fragen zu diskutieren, ist zunächst eine wenn auch sehr verkürzte Einführung in die Grundlagen der allgemeinen Relativitätstheorie nötig. Diese Theorie, die A. Einstein (1879-1955) im Jahr 1915 veröffentlichte, hat das Ziel, Raum, Zeit, Materie, Gravitation und deren Zusammenspiel zu beschreiben.

Dabei werden Raum und Zeit zu einem vierdimensionalen geometrischen Raum, der Raumzeit, zusammengefasst. Die vier Dimensionen ergeben sich einfach als Summe von drei räumlichen und einer zeitlichen Dimension. Um ein bestimmtes Ereignis, z.B. die Explosion einer Sylvesterfeuerwerksrakete, in Raum und Zeit zu lokalisieren, braucht man vier Koordinatenangaben. Die Vierdimensionalität ist im Vergleich zur vor-relativistischen Physik nicht neu, neu ist aber, dass in der allgemeinen Relativitätstheorie die klare Trennung zwischen Raumkoordinaten und Zeitangaben nicht aufrechterhalten werden kann. Ein einzelner Beobachter kann einem Ereignis in seinem Bezugssystem zwar noch drei Orts- und eine Zeitkoordinate zuordnen, aber wenn man diese Daten in das Bezugssystem eines anderen Beobachters umrechnet, werden bei der Berechnung der neuen Orts- oder Zeitkoordinaten jeweils die alten Orts- und Zeitkoordinaten vermischt. Die Trennung in Raum und Zeit ist damit nicht mehr absolut, sondern abhängig vom jeweiligen Beobachter bzw. seinem Bezugssystem.

Die geometrischen Verhältnisse in der vierdimensionalen Raumzeit werden nun durch die Verteilung der Materie in der Raumzeit bestimmt, und dies wird durch die Einsteinschen Feldgleichungen, ein sehr kompliziertes System sogenannter partieller Differentialgleichungen, mathematisch erfasst. Insbesondere ist die Raumzeit im allgemeinen gekrümmt, und dank Gauß und Riemann verfügen wir über die Hilfsmittel, um diese Krümmung mathematisch zu verstehen, ohne dass wir 3Dlinge versuchen müssen, uns diese Gekrümmtheit in einem noch höher dimensionalen Raum vorzustellen.

Umgekehrt bestimmt die geometrische Struktur der Raumzeit wie oben besprochen die Geodäten. Diese werden im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie physikalisch als Bahnen von Objekten wie Satelliten im Schwerefeld der Erde, Planeten im Sonnensystem, einzelnen Sternen in einer Galaxie oder auch von Lichtstrahlen interpretiert. Gravitation ist in dieser Beschreibung keine auf diese Objekte wirkende Kraft mehr, sondern sie ist in der geometrischen Struktur, in der Krümmung der Raumzeit, kodiert.

In unserem Sonnensystem ist die Gravitation verglichen etwa mit der Umgebung eines schwarzen Lochs relativ schwach, typische Geschwindigkeiten sind verglichen mit der Lichtgeschwindigkeit relativ niedrig, und es ist verglichen mit dem Universum relativ klein. Unter diesen Umständen sagt die allgemeine Relativitätstheorie nur sehr geringe Abweichungen von der vor-relativistischen, newtonschen Physik voraus. Dennoch konnten einige dieser Abweichungen bereits kurz nach Veröffentlichung der Theorie mit Beobachtungsdaten verglichen und die Theorie so empirisch bestätigt werden. Erstaunlicher ist vielleicht, dass diese Abweichungen sogar in der Umgebung unserer Erde so groß sind, dass mindestens eine, mittlerweile allgemein gebräuchliche Errungenschaft unseres High-Tech-Zeitalters nicht korrekt funktionieren würde, würde man die Korrekturen der allgemeinen Relativitätstheorie nicht berücksichtigen; auf diesen Punkt komme ich am Schluss meines Aufsatzes zurück.

Zunächst aber zurück zu der Frage nach der Existenz schwarzer Löcher. Im Jahr 1939 erschien eine Arbeit von J.R. Oppenheimer und H. Snyder, in der eine Lösung des mathematischen Modells "allgemeine Relativitätstheorie" analysiert wurde, deren Verhalten ich in Abb. 4 zu skizzieren versuche.

Die Geometrie eines Gravitationskollapses

Abb. 4: Die Geometrie eines Gravitationskollapses


In dieser Abbildung ist die Zeitkoordinate vertikal und zwei Raumdimensionen sind horizontal aufgetragen; eine Raumdimension wird unterdrückt. Zu einem bestimmten Anfangszeitpunkt ist eine kugelförmige Materieverteilung vorgegeben, die in der Skizze als Kreisscheibe erscheint. Diese Materiekugel zieht sich unter dem Einfluss der Gravitation zusammen. In dem benutzten Materiemodell baut die Materie keine diesem Kollaps entgegengerichteten Kräfte auf, so dass sie in eine immer kleinere Kugel zusammengepresst wird. Sobald dieser Kollaps weit genug fortgeschritten ist, entsteht vom Zentrum der Materie her eine Fläche, die solange anwächst, bis die gesamte Materie innerhalb dieser Fläche liegt. Diese Fläche, der sogenannte Ereignishorizont, hat folgende geometrische Eigenschaft: Die Raumzeit ist an dieser Fläche so stark nach innen gekrümmt, dass alle den Bahnen von materiellen Teilchen oder Lichtstrahlen entsprechenden Geodäten diese Fläche nur von außen nach innen passieren können, aber nicht in umgekehrter Richtung. In der Skizze ist dies durch die Orientierung einiger sogenannter Lichtkegel verdeutlicht.

Ein Lichtkegel besteht aus den in einem Punkt der Raumzeit angetragenen Richtungen, in die sich Lichtstrahlen von diesem Punkt aus bewegen können. Ist die Raumzeit nicht gekrümmt, d.h. gravitationsfrei, so sind die Lichtkegel symmetrisch zur Zeitachse nach oben orientiert, wie der ganz rechts eingezeichnete; der Öffnungswinkel dieser Kegel ist durch die gewählten Zeit- und Längeneinheiten bestimmt, z.B. eine Sekunde als Zeiteinheit und eine Lichtsekunde (etwa 300.000 km) als Längeneinheit. Unter dem Einfluss der Krümmung der Raumzeit kippen diese Lichtkegel aber umso mehr nach innen, je näher wir dem Ereignishorizont kommen. Dort sind sie dann so stark nach innen geneigt, dass es für einen Lichtstrahl keine Richtung mehr gibt, die aus dem Ereignishorizont herausführt. Da sich materielle Objekte in der allgemeinen Relativitätstheorie stets langsamer als Licht bewegen, was sich geometrisch so ausdrückt, dass die entsprechende Bewegungsrichtung stets innerhalb des jeweiligen Lichtkegels liegt, können weder materielle Objekte noch Licht aus dem vom Ereignishorizont umschlossenen Bereich heraus.

Innerhalb des Ereignishorizonts kollabiert die Materieverteilung weiter, bis sie sich auf einen Punkt zusammengezogen hat. Dabei wächst die Krümmung der Raumzeit in diesem Mittelpunkt über alle Grenzen an und wird unendlich groß. Die Geometrie der Raumzeit selbst bricht dort zusammen; man spricht von einer Raumzeit-Singularität.

Lösungen der Einsteinschen Feldgleichungen mit einer Singularität, umgeben von einem Ereignishorizont, wie sie als Endprodukt in obigem Gravitationskollaps entstehen, wurden bereits 1916 von K. Schwarzschild hergeleitet, aber die Singularität und der Ereignishorizont wurden als unphysikalisch abgelehnt, u.a. mit dem Argument, dass die Schwarzschildsche Lösung nicht zeitabhängig ist und es darin also keinen Prozess gibt, in dem Singularität und Ereignishorizont aus einer regulären Ausgangskonfiguration entstehen. Dieses Gegenargument fällt bei der Oppenheimer-Snyder-Lösung weg. Andere Argumente wie etwa der berechtigte Einwand, dass sich die Materie in dem von Oppenheimer und Snyder verwendeten Modell nicht wie realistische Materie gegen das Zusammengedrücktwerden wehrt, können die Entstehung der Singularität und des Ereignishorizonts ebenfalls nicht abwenden, denn wenn man von einer realistischer modellierten Materiesorte nur eine hinreichende Masse zusammenbringt, erhält man im wesentlichen wieder einen Gravitationskollaps wie in Abb. 4.

Nachdem die Versuche gescheitert waren, diese exotischen, mathematischen Lösungen der Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie als unphysikalisch wegzudiskutieren, taufte der amerikanische Astrophysiker J.A. Wheeler sie 1967 auf den Namen "Black Hole". Die Existenz von schwarzen Löchern als Lösungen der Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie ist eine mathematische Tatsache.

Bevor wir im realen Universum nach astrophysikalischen Objekten suchen, die diesen mathematischen Objekten entsprechen, möchte ich kurz auf eine sehr wichtige mathematische Frage im Zusammenhang mit schwarzen Löchern eingehen. Bei der Oppenheimer-Snyder-Lösung ist die Singularität hinter dem Ereignishorizont verborgen, sie kann von außen nicht beobachtet werden und den außerhalb des Ereignishorizonts liegenden Teil der Raumzeit in keiner Weise beeinflussen. Könnten aus der Singularität z.B. Lichtstrahlen zu einem Beobachter gelangen, so wäre es nicht einmal prinzipiell möglich, aus der Kenntnis des Anfangszustands der Raumzeit vorherzusagen, was dieser Beobachter sehen würde; das physikalische Geschehen wäre nicht mehr kausal determiniert. Erst die Tatsache, dass die Singularität, bei der die geometrische Struktur der Raumzeit zusammenbricht, durch den Ereignishorizont vom Rest der Raumzeit isoliert ist, ermöglicht es, in diesem Rest weiterhin konsistent Physik zu treiben. Bislang konnte man aber nicht zeigen, dass jede Singularität, die in einem Gravitationskollaps entsteht, hinter einem Ereignishorizont verborgen sein muss. Da dies für eine physikalisch konsistente Theorie wünschenswert ist, hat in den 1960er Jahren der Physiker und Mathematiker R. Penrose die Hypothese vom kosmischen Zensor eingeführt, welche besagt: Jede in einem Gravitationskollaps entstehende Singularität ist hinter einem Ereignishorizont verborgen. Die bislang offene mathematische Frage ist nun, ob die Gültigkeit dieser Hypothese aus den Gleichungen der allgemeinen Relativitätstheorie folgt.

Diese Frage ist noch aus einem weiteren Grund interessant. Die Tatsache, dass an der Raumzeit-Singularität die Krümmung sehr groß wird - mathematisch gesehen sogar unendlich groß - bedeutet physikalisch, dass dort für sehr nahe benachbarte Punkte, also auf sehr kleinen Längenskalen, extrem hohe Kräfte wirken. Bei physikalischen Vorgängen auf sehr kleinen Längenskalen müssen aber Quanteneffekte berücksichtigt werden, die Physik in der Nähe der Singularität wäre also durch Quantengravitationseffekte entscheidend mit bestimmt. Diese könnten auch das Anwachsen der Krümmung über alle Grenzen, welches ja als Zusammenbruch der allgemeinen Relativitätstheorie an der Singularität zu interpretieren ist, verhindern. Ein zentrales Ziel der theoretischen Physik ist, eine Quantengravitationstheorie zu entwickeln, in der allgemeine Relativitätstheorie und Quantenmechanik vereint werden. Von daher wäre es eigentlich schade, wenn der kosmische Zensor verhindert, dass wir gerade die Stellen im Universum beobachten können, an denen sich diese neue Theorie am intensivsten manifestieren sollte, nämlich die Raumzeit-Singularitäten bzw. das Innere von schwarzen Löchern.

Die Tatsache, dass das mathematische Modell "allgemeine Relativitätstheorie" schwarze Löcher als Lösungen besitzt, bedeutet noch nicht, dass es diese auch in der Realität geben muss. Falls es solche Objekte im Universum tatsächlich gibt, sind sie nur indirekt nachzuweisen, denn sie senden ja weder Licht noch sonstige Strahlung aus. Sie können sich im wesentlichen nur dadurch bemerkbar machen, dass in ihrer Umgebung sehr starke Gravitationsfelder wirken, die Raumzeit also stark gekrümmt ist. Ich möchte auf zwei astronomische Beobachtungen eingehen, die mit der Existenz schwarzen Löcher erklärt werden können.


Ein Quasar (Bitte anklicken zum Zoomen)

Abb. 5: Ein Quasar


Die linke Hälfte von Abb. 5 zeigt einen sogenannten Quasar.
Quasare sind extrem lichtstarke Objekte, die typischerweise die 1012-1015-fache Leuchtkraft unserer Sonne im Bereich des sichtbaren Lichts besitzen, sie senden vergleichbare Energiemengen in anderen Frequenzbereichen aus, sie besitzen typischerweise eine Masse von 106-109 Sonnenmassen, und sie sind alle sehr weit von der Erde entfernt, typischerweise 2-13 Milliarden Lichtjahre. Andererseits kann man aus den Beobachtungsdaten schließen, dass Quasare relativ kompakte Objekte sind; ein typischer Quasar passt bequem in unser Sonnensystem. Wie kann eine so gewaltige Masse auf so kleinem Raum zusammengeballt sein und so riesige Energiemengen freisetzen? In der rechten Hälfte von Abb. 5 ist der zentrale, extrem lichtstarke Bereich des Quasars ausgeblendet, und man sieht, dass der Quasar nicht isoliert im Universum sitzt, sondern mitten in einer Galaxie. Die bislang schlüssigste Erklärung für Quasare ist, dass es sich dabei um sehr massive schwarze Löcher handelt, die im Zentrum weit entfernter Galaxien sitzen. In so einer Galaxie gibt es neben Sternen auch große Mengen an Gas und Staub, die nun in das schwarze Loch hineingesaugt werden. Dabei werden diese Gas- und Staubwolken stark beschleunigt, sie umkreisen das schwarzen Loch in einer wirbelförmigen Akkretionsscheibe und werden dabei teilweise ionisiert und sehr stark aufgeheizt. Diese heißen, ionisierten Staub- und Gaswolken senden die beobachtete Strahlung aus, bevor sie durch den Ereignishorizont stürzen und nicht mehr beobachtet werden können. Entsprechenden Modellrechnungen zufolge wandelt dieser Prozess bis zu 20% der in das schwarze Loch stürzenden Materie in abgestrahlte Energie um; die Kernfusion in unserer Sonne bringt es im Vergleich dazu nur auf einen Anteil von etwa einem Prozent.


Schwarze Löcher im Zentrum von Galaxien? (Bitte anklicken zum Zoomen)

Abb. 6: Schwarze Löcher im Zentrum von Galaxien?


Abb. 6 zeigt Galaxien, die sich in wesentlich geringeren Entfernungen befinden. Diese Galaxien weisen in ihrem Zentrum eine sehr hohe Sternendichte auf. Die Astrophysiker sind mittlerweile in der Lage, die Bahnkurven dieser Sterne sehr genau zu beobachten. Aus diesen sehr stark gekrümmten Bahnkurven mit relativ hohen Bahngeschwindigkeiten lässt sich schließen, dass im zentralen Bereich dieser Galaxien zusätzlich zu den beobachteten Sternen noch eine Masse der Größenordnung 106-109 Sonnenmassen vorhanden sein muss, konzentriert in einem relativ kleinen räumlichen Gebiet. Die gegenwärtig beste Erklärung ist wiederum, dass im Zentrum dieser Galaxien jeweils ein sehr massives schwarzes Loch sitzt, das die Sterne in seiner Umgebung auf die beobachteten, stark gekrümmten Bahnen zwingt.

Die beiden obigen Beobachtungen lassen sich bestens als zwei zu verschiedenen Zeiten gemachte Momentaufnahmen ein und derselben Geschichte verstehen. Da Quasare stets sehr weit von uns entfernt sind, sehen wir sie und die Galaxien, in denen sie sitzen, so, wie sie vor 2- 13 Milliarden Jahren aussahen. Wir sehen also junge Galaxien, in denen die schwarzen Löcher gerade erst angefangen haben, die in ihrer Umgebung reichlich vorhandenen Staub- und Gaswolken aufzufressen und zum Teil in Licht und andere Strahlung umzuwandeln. Im Lauf der Zeit aber fressen sie ihre nähere Umgebung leer, gleichzeitig wird durch die emittierte Strahlung leichteres Material aus ihrer Umgebung weggeblasen, und schließlich bleibt ein schwarzen Loch übrig, in das kaum noch Material hineinfällt, welches deshalb auch kaum noch strahlt, und das sich nur noch in den Bahneigenschaften der Sterne seiner Umgebung bemerkbar macht. Und tatsächlich stammen die Bilder aus Abb. 6 ja aus unserer näheren Umgebung und damit auf kosmologischer Zeitskala aus unserer Gegenwart.

Da sich nach heutigem Verständnis nicht selten schwarze Löcher im Zentrum von Galaxien befinden, vermutlich auch im Zentrum unserer Milchstraße, stellt sich folgende weitere Frage:


Sind Galaxien stabil?

Stellen wir uns vor, wir könnten für die in Abb. 7 gezeigte Spiralgalaxie die Zeit wie in einem Zeitraffer um einige Milliarden Jahre vorspulen.


Eine Spiralgalaxie (Bitte anklicken zum Zoomen)

Abb. 7: Eine Spiralgalaxie


Wird diese Galaxie dann noch genauso oder zumindest so ähnlich aussehen? Oder wird sie vielleicht gar nicht mehr vorhanden sein, etwa weil ihr Gravitationsfeld zu schwach ist und sich ihre 1010-1012 Sterne gleichmäßig im Weltall verteilt haben? Oder bewirkt die Gravitation im Gegenteil, dass sich die Galaxie immer weiter zusammenzieht, vielleicht gar zu einem schwarzen Loch kollabiert? Die Tatsache, dass wir im Universum eine riesige Zahl von Galaxien in ganz unterschiedlichen Entfernungen und damit aus ganz unterschiedlichen Entwicklungsphasen des Universums beobachten, legt die Vermutung nahe, dass solche Sternenwolken eine gewisse Stabilität besitzen.

Um den Begriff der Stabilität physikalisch wie mathematisch besser zu verstehen, betrachten wir zunächst ein einfaches Beispiel, nämlich ein physikalisches Pendel, vgl. Abb. 8.

Ein einfaches Pendel

Abb. 8: Ein einfaches Pendel


An einem um eine feste Achse drehbaren Stab fester Länge hängt ein Gewicht, das von der Erdanziehung senkrecht nach unten gezogen wird. Die Masse des Stabes soll verglichen mit der Masse des Gewichts sehr klein sein, so dass wir sie vernachlässigen können. Ebenso sollen alle Reibungseffekte vernachlässigt werden.

Wir fragen zunächst nach den stationären Zuständen dieses Pendels, also nach den Zuständen, in denen sich das Pendel nicht bewegt. Ein solcher stationärer Zustand ist offenbar der, dass das Pendel senkrecht nach unten hängt, im folgenden Z1 genannt. Es gibt aber noch einen zweiten, Z2, nämlich dass das Pendel genau senkrecht über der Achse balanciert ist. Dass wir ein Pendel ohne Probleme in den Zustand Z1 bringen können, aber wohl nie ein Pendel antreffen, das sich im Zustand Z2 befindet, liegt daran, dass Z1 stabil, Z2 aber instabil ist. Kleine Störungen, wie sie in der physikalischen Realität stets vorhanden sind, etwa ein Luftzug oder eine leichte Vibration des Tisches, auf dem das Pendel aufgebaut ist, werden das Pendel nur minimal aus dem Zustand Z1 auslenken, während das Pendel nach jeder noch so kleinen Störung den Zustand Z2 verlässt und in einen qualitativ ganz anderen Bewegungszustand übergeht.

Für ein Pendel ist das unmittelbar und ohne Mathematik einsichtig, für eine Galaxie weniger. Wir können auch keine Experimente mit Galaxien machen, um dadurch ihre Mechanismen zu verstehen. Aber wir können mathematische Modelle aufstellen, welche die zeitliche Entwicklung einer Galaxie beschreiben. Ein solches, in der Astrophysik häufig benutztes Modell, welches keine relativistischen Effekte berücksichtigt, wollen wir hier mit NGM (nichtrelativistisches oder newtonsches Galaxienmodell) abkürzen; es handelt sich dabei wieder um ein nichtlineares System partieller Differentialgleichungen, das in der Mathematik Vlasov-Poisson-System heißt. Das entsprechende Modell im Rahmen der allgemeinen Relativitätstheorie kürzen wir mit RGM (relativistisches Galaxienmodell, eigentlich Vlasov-Einstein-System genannt) ab. Beide Modelle besitzen zeitunabhängige Lösungen, also stationäre Zustände. Aber wie wir am Beispiel des Pendels gelernt haben, kommen nur stabile stationäre Zustände als Beschreibungen realer Galaxien in Frage.

Um die Stabilitätsfrage in den mathematischen Griff zu bekommen, kehren wir nochmals zum Beispiel des Pendels zurück. Unter den getroffenen Vereinfachungen wie z.B. Reibungsfreiheit bleibt die Energie des Pendels längs der Lösungen der Pendelgleichung konstant. Die Energie ist dabei eine Funktion des aktuellen Auslenkungswinkels x des Pendels und der aktuellen Winkelgeschwindigkeit, d.h. der Änderung des Auslenkungswinkels pro Zeiteinheit, die wir mit y bezeichnen wollen. Trägt man die Energie als Funktion von x und y über der (x,y)-Ebene auf, so erhält man eine über dieser Ebene liegende Fläche, die man sich wie ein Gebirge mit Bergen und Tälern vorstellen sollte. Interessant sind nun die Niveaulinien der Energie, also die Linien in der (x,y)-Ebene, längs deren die Energie konstant ist. In unserem anschaulichen Bild sind dies die Höhenlinien des Energiegebirges, vgl. Abb. 9.

Die Energieniveaulinien eines Pendels

Abb. 9: Die Energieniveaulinien eines Pendels


Da die Energie längs der Bewegungen des Pendels konstant bleibt, geben uns diese Energieniveaulinien ein vollständiges Bild aller möglichen solchen Bewegungen. Der Punkt x=0, y=0 entspricht dem stationären Zustand Z1. Wenn wir das Pendel einmal ganz um die Achse drehen, erhalten wir natürlich wieder den alten Zustand, was die Periodizität des Bildes in x-Richtung erklärt. Der Punkt x=π, y=0 (oder x=-π y=0) entspricht dem stationären Zustand Z2.

Lenkt man das Pendel durch eine kleine Störung aus dem Zustand Z1 aus, so landet man auf einer der geschlossenen Niveaulinien, die diesen Zustand umkreisen, das Pendel führt also eine Schwingung mit kleiner Amplitude und kleiner Winkelgeschwindigkeit aus; der Zustand ist stabil. Demgegenüber führt jede noch so kleine Störung des Zustands Z2 dazu, dass sich das Pendel sehr weit von diesem Zustand entfernt und nun entweder mit sehr großer Amplitude hin und her schwingt oder überschlägt und um die Achse rotiert. Stellt man sich das zu den Höhenlinien gehörige Energiegebirge vor, so sieht man, dass Z1 der tiefste Punkt in einem Tal ist, ein Energieminimum, während Z2 einen Sattel darstellt. Bei einem (physikalischen oder mathematischen, dynamischen) System mit Energieerhaltung sind Energieminima in der Regel stabil, Sattelpunkte instabil.

Auch für die oben erwähnten Galaxienmodelle NGM und RGM ist die Energie eine Erhaltungsgröße. Allerdings reicht hier die Kenntnis der Energie keineswegs aus, um mögliche zeitliche Entwicklungen einer Galaxie im wesentlichen zu erfassen, denn zwischen dem mathematischen Modell eines Pendels und den mathematischen Modellen NGM oder RGM einer Galaxie gibt es einen prinzipiellen Unterschied. Der aktuelle Zustand eines Pendels ist durch zwei Zahlen, nämlich die Werte von x und y, vollständig beschrieben. Kennt man diese Werte zu einem bestimmten Zeitpunkt, so kann man das gesamte zukünftige Verhalten des Pendels daraus vorhersagen; man sagt, das Pendel ist ein zweidimensionales dynamisches System. Demgegenüber stellen die Galaxienmodelle in einem präzisen Sinn unendlichdimensionale dynamische Systeme dar.

Trotzdem ist es in den letzten Jahren gelungen, mathematische Stabilitätsaussagen für stationäre Zustände zumindest des nichtrelativistischen Modells NGM zu beweisen, die Ideen dabei sind mit den obigen Überlegungen für das Pendel verwandt. Man findet auch dann noch stabile stationäre Zustände, wenn man als nichtrelativistische Approximation für ein schwarzes Loch im Zentrum der Galaxie eine Punktmasse vorgibt, die die Sterne der Galaxie zum Zentrum hinzieht. Im Fall des relativistischen Modells RGM ist die mathematische Analyse noch nicht so weit fortgeschritten, aber man kann die Stabilitätsfrage zumindest durch numerische Simulation des Modells am Computer untersuchen.

Eine Klarstellung: In einer numerischen Simulation simuliert man nicht etwa eine Galaxie oder sonst irgendein reales System, sondern man berechnet näherungsweise die Lösungen des mathematischen Modells für das physikalische System. Computer ersetzen keine Mathematik(er), sondern sie brauchen deren Input.

In der numerischen Simulation von RGM findet man neben stabilen stationären Zuständen auch instabile, bei denen eine kleine Störung zu einem Gravitationskollaps führt. Alle bisherigen numerischen Rechnungen weisen dabei darauf hin, dass im Rahmen des relativistischen Modells RGM die Hypothese vom kosmischen Zensor gilt und jede in einem Gravitationskollaps entstehende Singularität hinter einem Ereignishorizont verborgen ist. Erst in jüngster Zeit konnte dies für eine Klasse von Anfangskonfigurationen auch mathematisch bewiesen werden.

Es gibt in diesem Umfeld noch sehr viele spannende, offene mathematische Fragen, die ich mit meiner Arbeitsgruppe an der Universität Bayreuth und mit Kollegen aus dem In- und Ausland weiter untersuche.


Von Einsteins Gedankenexperimenten zu GPS

Auf viele interessante Phänomene, die in die Thematik dieses Aufsatzes gepasst hätten wie z.B. der Urknall, dunkle Materie oder dunkle Energie, konnte hier nicht eingegangen werden.

Ich möchte aber zum Schluss noch etwas erzählen, das zu Abb. 10 (*) passt. Sie zeigt Einstein in seinem Büro im Patentamt in Bern, wo er in den Jahren 1902-1909 als Patentprüfer arbeitete. Nach der Veröffentlichung seiner speziellen Relativitätstheorie im Jahre 1905 begann er, darüber nachzudenken, wie eine mit den Prinzipien dieser Theorie verträgliche Beschreibung der Gravitation aussehen müsste. Er erkannte bald, dass hierzu eine viel weiterreichende Revision der Begriffe von Raum und Zeit nötig sein würde, als sie jene Theorie bereits enthielt. Eines Tages im Jahr 1907, er hatte während der vergangenen Tage intensiv mit seinem Problem gekämpft, saß er an seinem Büroschreibtisch, als ihm plötzlich der Gedanke kam: Wenn man in einem Aufzug, bei dem das Seil gerissen ist, frei nach unten fällt, spürt man sein eigenes Gewicht nicht. Anders und genauer gesagt: Wenn man in einem geschlossenen Kasten sitzt, der z.B. im Gravitationsfeld der Erde frei fällt, liefern physikalische Experimente in diesem Kasten genau die gleichen Resultate, wie wenn der Kasten weit weg von allen Planeten und Sternen in der Schwerelosigkeit des Weltalls schwebt; bitte beachten Sie: Solche Gedankenexperimente sind nicht zum Nachmachen, sondern zum Nach-Denken gedacht.

Obiges Gedankenexperiment führte Einstein zur Formulierung seines sogenannten Äquivalenzprinzips, und obwohl es noch Jahre dauerte, bis er daraus und aus anderen grundlegenden Prinzipien die allgemeine Relativitätstheorie entwickelte, leitete er innerhalb weniger Tage eine revolutionär klingende Folgerung ab: In einem Gravitationsfeld laufen Uhren (und alle anderen physikalischen Prozesse, also die Zeit selbst) langsamer als ohne Gravitation, und je A stärker das Gravitationsfeld ist, desto mehr ist der Lauf einer Uhr verlangsamt. Eine Uhr auf der Erdoberfläche läuft langsamer als eine identisch konstruierte Uhr, die sich in großer Höhe befindet, wo das Schwerefeld der Erde schwächer ist. In Zeiten von Exzellenzclustern und (möglichst anwendungsorientierter) Großforschung ist es beeindruckend zu sehen, wie hier aus gründlichem Nachdenken über ein einfaches Phänomen, nämlich die Verhältnisse in einem frei fallenden Aufzug, eine Revolution unseres physikalischen Weltbildes wird. Und diese ist durchaus anwendungsrelevant:

In den Satelliten, die als wesentliche Komponenten des unter dem Kürzel GPS bekannten Navigationssystems in großer Höhe die Erde umkreisen, befinden sich u.a. sehr genau gehende Uhren. Würde man bei der notwendigen Synchronisation dieser Uhren mit Uhren auf der Erdoberfläche den genannten relativistischen Effekt (und andere relativistische Effekte, u.a. bedingt durch die Relativbewegungen der Uhren untereinander) nicht berücksichtigen, so würden sich die resultierenden Ungenauigkeiten des Systems innerhalb relativ kurzer Zeiträume so aufaddieren, dass die Positionsangaben der GPS-Geräte ungenau bis unbrauchbar würden. Die allgemeine Relativitätstheorie zeigt sich aber noch an anderer und sehr grundlegender Stelle bei GPS. Die Zahl der Satelliten ist so gewählt, dass möglichst von jedem Punkt der Erdoberfläche aus gesehen immer mindestens vier Satelliten über dem Horizont stehen, also ihr Signal im Prinzip empfangbar ist. Warum gerade vier? Weil GPS tatsächlich nicht unsere Position in einem dreidimensionalen, vor-relativistischen Raum bestimmt, sondern in der vierdimensionalen Raumzeit. Und um die entsprechenden vier Raumzeit-Koordinaten bestimmen zu können, braucht man eben vier Gleichungen, also Signale von vier Satelliten.

Wir sind auch im Bereich unseres Alltags in der vierdimensionalen Raumzeit angekommen und finden uns dort, dank Mathematik und Physik, zurecht.


Bildnachweise:
- Die Abbildungen 5 und 6 stammen von der Homepage des Hubble Space Telescope
   http://hubblesite.org/newscenter/
- Abbildung 7 stammt von der Homepage der ESO
   http://www.eso.org/public/.

(*) Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
Abb. 10: Albert Einstein

Prof. Dr. Gerhard Rein

Prof. Dr. Gerhard Rein




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Quelle:
spektrum 1/08, S. 13-21
Herausgeber: Der Präsident der Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
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"spektrum" erscheint dreimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2008