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BERICHT/065: Geballte Kraft für die Geisteswissenschaften! (idw)


VolkswagenStiftung - 07.07.2009

Geballte Kraft für die Geisteswissenschaften!

Initiative "Pro Geisteswissenschaften": Fritz Thyssen Stiftung und VolkswagenStiftung bewilligen 12 Projekte über insgesamt 3,1 Millionen Euro.


Wie haben sich im imperialen Russland des 19. Jahrhunderts technische Neuerungen wie Eisenbahn und Telegrafie auf die Gesellschaft ausgewirkt? Welchen Einfluss hat es auf die öffentliche Darstellung der Demokratie, dass sich Politiker immer stärker in den Medien inszenieren? Welche Rolle spielen Vaterbilder für die US-amerikanische politische Kultur? Und was verbirgt sich hinter neugermanischem Heidentum? - Vier spannende Themen, die zugleich vier Facetten innovativer geisteswissenschaftlicher Forschung widerspiegeln.

Die Geisteswissenschaften mit Angeboten zu unterstützen, die ausdrücklich auf deren Bedürfnisse und Forschungspraxis zugeschnitten sind, ist Ziel der Initiative "Pro Geisteswissenschaften". Sie umfasst drei Komponenten - darunter die Dilthey-Fellowships für den hoch qualifizierten wissenschaftlichen Nachwuchs sowie die Förderung "Opus magnum" als Freistellungsangebot für Professorinnen und Professoren, die ein größeres wissenschaftliches Werk verfassen wollen (weitere Informationen unter www.volkswagenstiftung.de/foerderung/strukturen-und-personen/pro-geisteswissenschaften.html). Die Fritz Thyssen Stiftung und die VolkswagenStiftung haben in ihrer vierten Bewilligungsrunde nun sechs Dilthey-Fellowships und sechs "Opus magnum"-Förderungen über 3,1 Millionen Euro vergeben. Vier Projekte stellen wir im Folgenden kurz vor; eine Übersicht über die anderen Geförderten finden Sie am Ende der Pressemitteilung.

1. Dilthey-Fellowship "Die Symbolik der Demokratie. Inszenierung, Repräsentation und die Konstitution des politischen Imaginären" von Dr. Paula Diehl, Institut für Sozialwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin;

2. Dilthey-Fellowship "Russlands Aufbruch in die Moderne. Technische Innovation und die Neuordnung sozialer Räume im 19. Jahrhundert" von Dr. Frithjof Benjamin Schenk am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München;

3. Opus magnum "Väter - Familien - Gouvernementalität: Eine Geschichte der USA" von Professor Dr. Jürgen Martschukat vom Historischen Seminar der Universität Erfurt;

4. Opus magnum "Transformationen neugermanischen Heidentums seit 1900" von Prof. Dr. Dr. h. c. Stefanie von Schnurbein, Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin;


Nähere Informationen zu diesen Vorhaben im Folgenden:

zu 1: Alles nur Theater?

Guido Westerwelles Besuch des "Big-Brother-Containers" von 1998, Nicolas Sarkozys "Love-Story" mit Carla Bruni in der französischen und europäischen Presse und die immer wiederkehrende Unterhaltung von und mit Silvio Berlusconi - diese Beispiele machen deutlich, dass Politik im Medienzeitalter nicht nur mit Inszenierung, sondern auch mit Unterhaltung zu tun hat. Neue Methoden der Präsentation und Visualisierung, die typisch für die massenmediale populäre Kultur sind, dringen immer stärker in die politische Darstellung der Demokratie ein - sie lassen sich bestens anhand der Inszenierung von Politikerinnen und Politikern im Fernsehen beobachten. Dort sieht man, wie sich die Selbstdarstellungen der Politiker von Zeit zu Zeit aus dem Bereich der Politik lösen; spielerisch orientieren sie sich zunehmend an Werbung, Kino- oder Fernsehunterhaltung. Die Betreffenden inszenieren sich nicht mehr nur als Politiker, sondern vor allem als professionelle Selbstdarsteller. Diesem Phänomen wird Dr. Paula Diehl von der Humboldt-Universität zu Berlin nachgehen. Wie kann in Zeiten der Personalisierung der Politik und der immer wichtiger werdenden Körperinszenierung der Politiker der eigentliche Souverän - das Volk - überhaupt noch symbolisiert werden? Lässt sich von einer Krise sprechen, von einem Bruch mit herkömmlichen symbolischen Formen der Demokratie? Und: Was verändert sich für die Symbolisierung der Demokratie durch die neuen Formen der Politiker-Inszenierung? - All dies sind Fragen, die Paula Diehl im Rahmen ihres Dilthey-Fellowships beantworten will.

Kontakt
Humboldt-Universität zu Berlin
Institut für Sozialwissenschaften
Dr. Paula Diehl
E-Mail: paulaDiehl@gmx.com


zu 2: Russland an der Schwelle zur Moderne

Unbesiedelte Weiten, endlose Wälder und Steppen: Russland ist mit über 17 Millionen Quadratkilometern der flächenmäßig größte Staat der Erde. Bereits seit der gewaltigen territorialen Expansion im 16. und 17. Jahrhundert regierten die russischen Zaren über das größte Kontinentalreich der Erde. Die Größe des Landes wurde im 19. Jahrhundert aber zunehmend auch als Problem politischer Herrschaft erkannt: Denn wie hält man ein solches Reich zusammen? Die Erfindungen von Telegrafie und Eisenbahn, die große Distanzen zu überwinden helfen, schienen wie geschaffen für das Russische Imperium. Die neuen Techniken erleichterten die Mobilität und Verständigung der Menschen. Mit der infrastrukturellen Vernetzung wurde zugleich die Grundlage für die Industrialisierung des Zarenreiches gelegt. Doch wie haben sich diese Neuerungen auf Kultur und Politik, auf die sozial-räumlichen Beziehungen im imperialen Russland ausgewirkt? Das Wechselverhältnis von technischer Innovation, gesellschaftlichem Wandel und der Veränderung sozialer Räume steht im Zentrum des Dilthey-Fellowships von Dr. Frithjof Benjamin Schenk von der Universität München. Mit seiner Forschung möchte der Historiker eine Brücke von der vergleichenden Imperienforschung zu einer kultur- und gesellschaftshistorisch interessierten Technikgeschichte schlagen - und gleichzeitig zum Verständnis gesellschaftlicher Veränderungen durch die Intensivierung von Mobilität und Kommunikation im Zeitalter der Globalisierung beitragen.

Kontakt
Ludwig-Maximilians-Universität München
Historisches Seminar
Dr. Frithjof Benjamin Schenk
E-Mail: B.Schenk@lmu.de


zu 3: Uncle Sam und Vater Staat

Dass die Nation oder der Staat ein Verhältnis zu seinen Bürgern hat wie ein Vater zu seinen Kindern, ist eine weit verbreitete Vorstellung. Begriffe wie "Vater Staat" oder die "Väter des Grundgesetzes" illustrieren dies. Und auch in den USA spricht man beispielsweise von den "Founding Fathers". Für Professor Dr. Jürgen Martschukat von der Universität Erfurt ist dies Anlass genug, die Geschichte der USA von der Revolution bis heute als Geschichte von Vaterschaft sowie familiären und politischen Ordnungen zu schreiben: In seinem "Opus magnum" wird er dabei sowohl auf unterschiedliche Väter aus Fleisch und Blut als auch auf vielfältige Vaterfiguren und Vatermetaphern blicken. Welche Relevanz haben "family values" und das Bild vom "guten Vater" für die US-amerikanische Kultur und Gesellschaft? Ziel des Buches ist es herauszuarbeiten, wie sich Vorstellungen des Vaterseins ebenso wie das konkrete Agieren als Vater innerhalb familiärer und gesellschaftlicher Konfigurationen und die soziale, kulturelle und politische Geschichte der USA wechselseitig geprägt haben. Dabei wird der Historiker auch auf neuere Ansätze der Kulturgeschichtsschreibung zurückgreifen, die Gesellschaften entlang von soziokulturellen Kategorien wie "race", "class", "gender" und anderem mehr untersuchen. Auf diese Weise soll es gelingen, die US-amerikanische Gesellschaftsordnung und Geschichte neu zu bewerten.

Kontakt
Universität Erfurt
Historisches Seminar
Prof. Dr. Jürgen Martschukat
E-Mail: juergen.martschukat@uni-erfurt.de


zu 4: Naturreligion oder rassistischer Kult?

Osterfeuer, Mittsommerfest, die Edda und ihr Götterinventar: Die Welt "nordischer" Mythen, wie sie in mittelalterlichen isländischen, aber auch antiken Quellen überliefert sind, inspiriert bis heute weite Bereiche des kulturellen Lebens. In der Musik, in der Rollenspielszene, in Fantasyfilmen und -literatur sowie im Internet finden sich zahlreiche Spuren. Dass hinter diesen Bildwelten eine kleine, jedoch höchst aktive, rund 100 Jahre alte religiöse beziehungsweise weltanschauliche Subkultur steht, die trotz aller internen Spaltungen insgesamt recht stabil erscheint, ist hingegen kaum bekannt. Die Brisanz dieser Entwicklung liegt darin, dass diese neugermanisch religiösen Gruppierungen seit ihrer Entstehung im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts ein Feld bilden, in dem sich alternative Religionsentwürfe mit völkischer, rassistischer und nationalistischer Ideologie mischen. Ziel des "Opus-magnum-Vorhabens" von Professorin Dr. Dr. h.c. Stefanie von Schnurbein von der Humboldt-Universität zu Berlin ist daher eine umfassende Untersuchung solcher Gruppierungen und Strömungen in Deutschland, den USA, Großbritannien und Skandinavien. Die Untersuchung der ideengeschichtlichen Hintergründe, der Entstehungsgeschichte, Glaubensinhalte und Aktivitäten der einzelnen Gruppierungen und ihrer heute teilweise international weit ausgreifenden Netzwerke hat dabei nicht nur religionswissenschaftliche Relevanz. Sie ist für jeden von Interesse, der das Zusammenwirken von politischer Weltanschauung, Wissenschaft, Kunst und Religion in der Moderne verstehen möchte.

Kontakt
Humboldt-Universität zu Berlin
Nordeuropa-Institut
Prof. Dr. Dr. h.c. Stefanie von Schnurbein
E-Mail: stefanie.v.schnurbein@rz.hu-berlin.de


Weitere neu bewilligte Dilthey-Fellowships:

1. Dr. Martin Kohlrausch, Fakultät für Geschichtswissenschaft der Universität Bochum: "'Realisatoren'. Der Aufstieg der Architekten zwischen Krise und Rekonstruktion. Zentraleuropa 1910-1950";
Kontakt per E-Mail: kohlrausch@dhi.waw.pl

2. Dr. Tatjana Petzer, Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, Geisteswissenschaftliche Zentren Berlin e.V.: "Synergie. Technik und Glaube in der Slavia Orthodoxa";
Kontakt per E-Mail: petzer@zfl.gez-berlin.de

3. Dr. Désirée Schauz, Zentralinstitut für Geschichte der Technik der Technischen Universität München: "'Republic of science' zwischen Selbstbestimmtheit und gesellschaftlicher Nutzenerwartung. Neuzeitliches Wissenschaftsverständnis - Deutschland im internationalen Vergleich";
Kontakt per E-Mail: Desiree.Schauz@mzwtg.mwn.de

4. Priv.-Doz. Dr. Wolfgang M. Schröder, Philosophisches Seminar der Universität Tübingen: "Die Politische Ökonomie des 'sozialen Europas'";
Kontakt per E-Mail: wolfgang.m.schroeder@uni-tuebingen.de


Weitere neu bewilligte "Opera magna":

1. Professor Dr. Klaus Antoni, Seminar für Japanologie an der Universität Tübingen: "Das Kojiki - Archaischer Text oder 'Heilige Schrift' der japanischen Moderne";
Kontakt per E-Mail: antoni@Japanologie.uni-tuebingen.de

2. Professor Dr. Hanns Christof Brennecke, Lehrstuhl für Kirchengeschichte I an der Universität Erlangen-Nürnberg: "Die Synoden der Reichskirche von Constantin bis zu Theodosius dem Großen";
Kontakt per E-Mail: H.C.Brennecke@theologie.uni-erlangen.de

3. Professor Dr. Dieter Haller, Lehrstuhl für Sozialanthropologie der Universität Bochum: "Fachgeschichte der Bundesdeutschen Ethnologie von 1948 bis 1990";
Kontakt per E-Mail: Dieter.Haller@ruhr-uni-bochum.de

4. Professor Dr. Olaf Müller, Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin: "Licht, Farbe und Finsternis: Newtons optische Beweise und Goethes Beweis-Kritik im Lichte moderner Wissenschaftsphilosophie".
Kontakt per E-Mail: muelleol@staff.hu-berlin.de



Weitere Informationen unter:

http://www.volkswagenstiftung.de/foerderung/strukturen-und-personen/pro-geisteswissenschaften.html
- Internetseite der VolkswagenStiftung zur Förderinitiative "Pro Geisteswissenschaften"

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution458


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
VolkswagenStiftung, Dr. Christian Jung, 07.07.2009
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2009