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KULTUR/076: Kartoffel - Unerschöpflicher Schatz der Völker (planet)


planet - ZEITUNG DER GRÜNEN BILDUNGSWERKSTATT # 53
Mai, Juni 2008

Unerschöpflicher Schatz der Völker

Von Martina Kaller-Dietrich


Egal wie sie genannt wird: Grundbirn, Erdapfel oder Kartoffel, die Zauberknolle aus den Anden ist fester Bestandteil der heimischen Küche. Als Nahrungsmittel für die Massen hat die Kartoffel Geschichte geschrieben, von Cuzco über Dublin bis Pyhrabruck.


Juan de Castellanos schrieb 1537 an seinen König von einer "...mehligen Wurzel, von gutem Geschmack, eine für die Indianer angenehme Speise und ein köstliches Gericht sogar für die Spanier." Bis ins 16. Jahrhundert kannten die EuropäerInnen die Kartoffel als 'papas peruanorum'. Erdäpfel heißen sie heute in Ostösterreich, genau wie die französischen 'pommes de terre'. In vielen Sprachen handelt es sich aber um eine Erdbirne, etwa bei der Vorarlberger 'Grumpera' wörtlich Grundbirne. Auch die KroatInnen essen 'krumpir'. Aus dem Italienischen stammen die alten Bezeichnungen 'tartufo' oder 'tartufolo', denn die Kartoffel ähnelt dem wertvollen Trüffelpilz, der auch unter der Erde wächst. In Italien setzte sich aber mit 'patata' bald der karibische Name für Süßkartoffel durch. Auch die Engländer verwechselten die karibische Batate ('Impomoea batatas') häufig mit der eigentlichen Kartoffel, 'solanum tuberosum'. Vom technischen 'common potato' blieb im 19. Jahrhundert der 'potato' in aller Munde.

Dass Sir Walter Raleigh die Kartoffel nach Europa brachte und Sir Francis Drake sie auf den britischen Inseln und am Kontinent verbreitete, ist viktorianische Propaganda. Die nahrhafte Knolle aus den Anden versorgte die Heere Pizarros und die hungrigen EuropäerInnen seit Beginn des 16. Jahrhunderts jenseits und diesseits des Atlantiks.

Hundert Jahre bevor die Spanier das weitläufige Andenreich der Inkas unterwarfen, waren die Inkas eine von vielen Siedlergruppen, die am höchstgelegenen See der Welt, dem Titicacasee, Ackerbau trieben. Die systematische Überproduktion von Mais und Kartoffel, die sie strategisch geschickt in Speichern lagerten und an die besiegten Völker verteilten, sicherte ihnen ihr Weltreich. Die Inkas hatten die Wechselwirkung zwischen effizientem Kartoffelanbau und Bevölkerungspolitik erkannt und verfolgt. Diese Korrelation bestimmte fortan die Geschichte der Neuzeit.


Verordneter Anbau

Dass die durch ständige Kriege und Revolutionen ausgebeuteten Bauern Europas nur missmutig und gegen große Widerstände mit dem systematischen Kartoffelanbau begannen, gehört in allen Ländern Kontinentaleuropas gleichermaßen zur Wirtschaftsgeschichte wie zur kulturhistorischen Anekdote: Friedrich der Große von Preußen ordnete bei Androhung von Stockhieben den Verzehr der Erdäpfel an. Sein Nachfolger Friedrich II. drohte, den Widerspenstigen Nase und Ohren abzuschneiden. Ein Jahrhundert später griff Zar Nikolaus I. auf ein bewährtes russisches Mittel zurück: Kartoffel oder Deportation nach Sibirien. In Österreich registrierten im Jahr 1620 die Benediktiner in ihrem Klostergarten in Seitenstetten erstmals den Anbau des Erdapfels. Gut 20 Jahre später befahl Kaiserin Maria Theresia den Erdäpfelanbau in der Waldviertler Ortschaft Pyhrabruck. Die in Maria Theresias Armee unter Zwang rekrutierten Bauernbuben mussten die abscheulichen Erdäpfel hinunterwürgen. So mancher junge Mann gewöhnte sich an diese Kost. Aber erst die Mütter und Frauen der ehemaligen Soldaten ersannen delikate Erdäpfelgerichte. Heute beweisen unzählige Rezepte aus der vielfältigen Küche der österreichischen Reichsländer, dass Erdäpfel mehr sind als eine schnöde "Sättigungsbeilage" (DDR-Jargon).


Irland und die Kartoffeln

Die Geschichte vom Aufstieg und Niedergang der Kartoffel ist aber für immer mit dem Schicksal der irischen Bauern verbunden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts vertilgte ein Ire durchschnittlich fünf Kilogramm Kartoffeln pro Tag. Ein Kartoffelacker von ca. einem halben Hektar Fläche konnte eine sechsköpfige Familie ein Jahr lang ernähren. Das machte die irischen Bauern unabhängig von ihren britischen Herren. Im Vergleich mit dem gesamten agrarischen, christlichen Europa kannten die nach keltischem Ethos organisierten Iren kein echtes Feudalsystem. Dank bretonischem Recht war Irland der Weg zur Ausbildung einer Nation verbaut. Es gab kein Landrecht. Das änderte sich auch nicht, als Cromwell die Iren im 17. Jahrhundert gewaltsam ins Empire zwang und das Hügelbeet vorschrieb, die einzige in den Mooren und auf den unfruchtbaren Felsen erfolgreiche Ackerbaumethode.

Diese Maßnahme rettete den besiegten Iren das Leben. Denn der Kartoffelacker am Hügel der Bauernfamilien bescherte der kleinen Insel im Atlantik eine rasche Bevölkerungszunahme und Prosperität. Von 1760 bis 1840 nahm die Gesamtbevölkerung der Insel von 1,5 Millionen auf 9 Millionen zu. Das sind 600 Prozent in 80 Jahren. Irland hätte aber nur fünf Millionen Menschen mit Getreide ernähren können. Ungeachtet der vielen Hungerjahre in Irland exportierte die katholische Aristokratie Getreide nach Großbritannien. Die Kartoffeln blieben auf der Insel.


Der Hunger-Katastrophen-Mix

In den hundert Jahren vor 1824 durchlitten die Menschen insgesamt 24 Hungerjahre. In den darauf folgenden 25 Jahren waren es 14 Hungerjahre. Bis zur Katastrophe 1845/46, als in nur einem Winter eine halbe Million Menschen starb und eine Million Iren in die USA auswanderte, hatte es in 17 Jahren nur mehr fünf "normale Erntejahre" gegeben.

Die Hungerursachen unterschieden sich nicht von jenen unserer Tage. Fortlaufend wurde kostbarer Weizen exportiert. Ganz nach den Gesetzen des Freihandels, die es einer kleinen Gruppe von Kapitalisten ermöglichten, Gewinne mit Nahrungsmittelexporten zu realisieren. Ein weiteres Problem war die intensive Landnutzung bei gleichzeitiger genetischer Verengung. Denn die Bauern vermehrten ihre Kartoffel, indem sie die Feldfrüchte des Vorjahrs in Stücke schnitten und diese auspflanzten. Die erst nach 1760 entdeckten Züchtungsverfahren von Saatkartoffeln aber kamen für die Iren zu spät.

Die Trockenfäule machte die Katastrophe perfekt. Der Pilz, der die eingelagerten Kartoffeln befiel und sie zu einer holzähnlichen, ungenießbaren Masse schrumpfte, vernichtete im Hungerwinter 1845/46 die gesamte Ernte. Wenige Jahre später kamen Viruserkrankungen der Pflanze und der berüchtigte Kartoffel-Killer, die Braunfäule, hinzu. Hervorgerufen von einem Pilz, der genetisch aus Amerika stammte, leitete die Braunfäule, die überall in Europa auftauchte, ihren periodischen Vernichtungskampf des Volksnahrungsmittels ein. Und 1874 fraß sich erstmals der Kartoffelkäfer durch die europäischen Erdäpfelstauden.


Essen muss reisen

Um 1900 avancierte die Kartoffelpflanze zu einem Fall der modernen Pflanzenzüchtung.

In der Weltmarktstrukturküche begegnen wir der Kartoffel meist in abstrakter Form: als Stärkemehl oder Zucker. Daraus werden Tierfutter und industrielle Nahrungsmittel gleichermaßen hergestellt. Immer öfter landen die Erdäpfel im KFZ-Tank. Die unterirdisch wachsende Knolle aus Amerika vollzieht gerade ihre Bestimmung im globalen Geschehen. Denn Bevölkerungswachstum ist zwar Motor für die weltweite Transformation der industriellen zur informationellen Produktionsweise, der Schlüssel zum globalen Big Business der Nahrungsmittelproduktion aber lautet: Essen muss reisen. Das globale Transportgeschehen lebt von Veredelungsprozessen. So essen wir Erdäpfel in Form von Schweinefleisch oder als in aufgeblasene Plastiksackerln verstauten, aus Fett, Stärkemehl, Stabilisatoren, Geschmacksverstärkern und viel Salz zusammengemischten Knusperspaß. Die wohl größte Verdichtung von Erdäpfeln aber entsteht bei deren Destillation zu Alkohol: Aus Kartoffelstärke entsteht Wodka.

Die Biospriterzeugung fußt auf den Erkenntnissen der Alkoholherstellung. Die Kartoffel braucht gar nicht mehr auf den Weltmarkt transportiert werden. Sie selbst transportiert und passt sich der Weltmarktstruktur perfekt an: Erdäpfel halten die Weltwirtschaft am Rollen. Essen hingegen brauchen die Kartoffel heute nicht einmal mehr die Schweine.


Martina Kaller-Dietrich ist Universitätsprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Wien. Sie forscht und lehrt zur Ernährung aus globalhistorischer Sicht. Autorin u. a. von: Macht über Mägen, Promedia-Verlag, Wien 2002.


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DIE KARTOFFEL gehört wie Tomate, Paprika und Tabak zur Familie der Nachtschattengewächse. Carl von Linné gab ihr den Namen solanum tuberosum, knolliger Nachtschatten.

Sie wächst eigentlich mehrjährig, wird im Anbau aber einjährig gezogen. Sie entwickelt sich aus der unterirdischen Sprossknolle, die mehrere so genannte schlafende Augen besitzt. Legt man ein Erdapfelauge in die Erde, bilden sich bei einer Temperatur von vier bis zehn Grad Celsius aus den Augen die reich beblätterten Triebe, aus denen Wurzeln und Ausläufer wachsen. Alle oberirdischen Teile der Kartoffel enthalten das für Nachtschattengewächse charakteristische giftige Alkaloid Solanin. Sobald sich über der Erde ausreichend Blätter gebildet haben, beziehen die Knollen über ihre Ausläufer Licht und Kohlendioxid, das die Blätter in Zucker (Stärke) umgewandelt haben. Wenn der Erdapfel im Herbst ausreift, hat sich in den Knollen der größtmögliche Stärkegehalt als Vorrat für die neuerliche Keimung im Frühling aufgebaut. Das oberirdische Kartoffelkraut stirbt ab. In dieser Form wird die Kartoffel geerntet.


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Quelle:
planet - Zeitung der Grünen Bildungswerkstatt # 53, Mai/Juni 2008, S. 8
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2008