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MEMORIAL/055: August 1917 - Turiner Arbeiteraufstand gegen Hunger und Krieg (Gerhard Feldbauer)


Die Februarevolution in Russland löste im August 1917 in Turin den Arbeiteraufstand gegen Hunger und Krieg aus

Er wurde zum Vorspiel der revolutionären Nachkriegskämpfe in Italien

Von Gerhard Feldbauer, 21. August 2012



Im vorletzten Jahr des Ersten Weltkrieges wuchs in Italien die Bewegung gegen den imperialistischen Krieg zu einer machtvollen Massenbewegung an, die bereits das Vorspiel der revolutionären Nachkriegskämpfe bildete. Einen entscheidenden Antrieb stellte die Februarrevolution 1917 in Russland dar. Als die Nachricht darüber am 16. Februar in Turin, Sitz des größten Rüstungskonzerns FIAT, eintraf, nahmen die im Gange befindlichen Streiks um höhere Löhne rasch politische Dimensionen an. Der Abgeordnete Giulio Casalini von der Partei der Reformisten wollte auf einer Streikversammlung die Arbeiter mäßigen und rief auf, den Ausstand zu beenden.


Fare come in Russia

Er kam nicht weiter, die Versammelten brachen spontan in den Ruf aus: "No! Fare come in Russia!" (Nein! Machen wir es wie in Russland). Vorerst gelang es noch einmal, radikale Aktionen der Antikriegsbewegung zu verhindern. Aber es gärte weiter und kam immer wieder zu Protesten gegen den Krieg, für Brot und höhere Löhne. Am 22. August gipfelten dann die in den Städten grassierenden Hungersnöte in Turin in einem Arbeiteraufstand. Begonnen als Demonstration gegen die Hungersnot, ging er einen Tag später in den Generalstreik für die Beendigung des Krieges über. Vier Tage kämpften die Arbeiter in den Vororten auf den Barrikaden gegen die Übermacht des mit Panzern und Artillerie einrückenden Militärs, ehe die isolierte Erhebung im Blut erstickt wurde. Offiziell wurden 50 Tote und 200 Verwundete bekannt gegeben.


Gramsci an die Spitze der Turiner Sozialisten gewählt

Der Turiner Vorstand der Sozialistischen Partei (ISP), der sich untätig verhalten hatte, wurde von den Arbeitern zum Rücktritt gezwungen. An die Spitze der neu gewählten Führung trat Antonio Gramsci, der zu den Organisatoren der Arbeiterrevolte gehört hatte.

Der Widerhall des Aufstandes Turiner Arbeiter erreichte ihre Klassenbrüder in den Schützengräben. Als im Oktober/November 1917 deutsch-österreichische Truppen am Monte Grappa und am Piave die italienische Front durchbrachen, ergriffen die dort stehenden 700.000 kriegsmüden italienischen Soldaten die Flucht. Berlin und Wien setzten die Offensive nicht fort, da sie einen Teil ihrer Truppen zu einer letzten verzweifelten Offensive in Frankreich brauchten.


Widerhall der Antikriegshaltung von 1914

Die Ereignisse in Turin, die auf viele Städte übergriffen, verdeutlichten, dass die Antikriegshaltung, welche die ISP bei Ausbruch des Krieges 1914 bezogen hatte, einen tiefen Widerhall fand. Als einzige westeuropäische Sektion der II. Internationale hatten die italienischen Sozialisten bei Italiens Eintritt in den Krieg 1915 (1) die Kriegskredite abgelehnt und Antikriegspositionen bezogen, die sie, von einzelnen reformistischen Abweichungen abgesehen, insgesamt bis zum Ende des Krieges beibehielten. Angesichts der Mordhetze, welche Benito Mussolini, der spätere "Duce del Fascismo", zur Durchsetzung des Kriegseintritts Italiens im Auftrag führender Industriekonzerne betrieb, bezogen die Sozialisten eine sehr mutige Position. Forderte doch Mussolini vor der Parlamentsabstimmung über den Kriegseintritt in seiner Zeitung "Pòpolo d'Italia" (später Organ seiner faschistischen Partei), die Abgeordneten, die nicht für den Kriegseintritt seien - das waren vor allem die Sozialisten - "sollten vor ein Kriegsgericht gestellt werden". Für "das Heil Italiens" seien, wenn notwendig, "einige Dutzend Abgeordnete zu erschießen", andere "ins Zuchthaus zu stecken". Das "Pòpolo d'Italia" war ein von führenden Kreisen der Rüstungsindustrie Conti, Elektroindustrie; Donegani, Chemie; Agnelli, Fahrzeugbau/Rüstung; Pirelli, Reifen und Gummi) finanziertes Kampfblatt, das in offenem Chauvinismus deren Kriegsinteressen vertrat.


Außerparlamentarischer Kampf

Das Handeln der italienischen Sozialisten war keine spontane Aktion, sondern Ergebnis der Durchsetzung revolutionärer Positionen, die in der Auseinandersetzung mit dem Reformismus stattfand. Die ISP war am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit rund 250.000 Mitgliedern drittstärkste Arbeiterpartei Europas. Nach der 1896 erzwungenen Aufhebung des Parteiverbots steigerte sie von Wahl zu Wahl ihre Stimmen. Unter dem reaktionärem Direktwahlsystem, das obendrein z. B. Frauen und wer keinen Wehrdienst geleistet hatte, von Wahlen ausschloss, erzielte die ISP 1904 20 % aller Wählerstimmen, belegte aber in der Abgeordnetenkammer nur 5 % der Sitze. Noch nach der Wahlrechtsreform von 1912 (die erstmals Analphabeten zur Wahl zuließ) waren immer noch nur 23 % der Bevölkerung zu Wahlen zugelassen. In ihrer Strategie legte die Partei den Schwerpunkt auf den außerparlamentarischen Kampf.

Vom herausragenden Kampfgeist der arbeitenden Menschen zeugten 1894 Bauernaufstände auf Sizilien und 1898 Barrikadenkämpfe in Mailand, die lehrreiche Erfahrungen vermittelten und die Kampfkraft erhöhten. Als Ende der 1880er Jahre Italien zur kolonialen Eroberung Äthiopiens ansetzte, trat ihr der sozialistische Abgeordnete Andrea Costa im Parlament mit der berühmt gewordenen Losung entgegen: "Keinen Mann und keinen Groschen für die Kolonialpolitik". Nach dem Scheitern des Kolonialabenteuers in der Schlacht bei Adua im März 1896 verhinderten die Sozialisten in Rom, Turin, Neapel und zahlreichen weiteren Städten die Entsendung neuer Truppen zur Fortsetzung des Krieges. Ministerpräsident Francesco Crispi musste zurücktreten. 1900 setzte die Partei im Ergebnis eines Generalstreiks generell das Streikrecht durch. Danach wuchsen die Arbeitsniederlegungen von Jahr zu Jahr an. 1907 nahmen 581.244 Arbeiter an 2.160 Streiks teil. 1906 entstand der Algemeine Italienische Gewerkschaftsbund (Confederazione Generale del Lavoro). In der CGdL schlossen sich rund 700 Einzelorganisationen mit 250.000 Mitgliedern zusammen.


Antimilitaristische Aktionen

1912 schloss der Parteitag in Reggio Emilia die offenen Reformisten aus, die daraufhin unter Leonida Bissolati die Reformistische Sozialistische Partei gründeten. Eine Gruppe gemäßigter Reformisten unter dem Mitbegründer der ISP Filippo Turati verblieb in der Partei. Der Ausschluss der offenen Reformisten wurde 1914 zur entscheidenden Grundlage der Antikriegshaltung. Machtvolle antimilitaristische Arbeiteraktionen vor Ausbruch des Krieges im Juni 1914 stärkten diese Position. Während der Massenkämpfe riefen der ISP-Vorstand und die CGdL zum Generalstreik auf. In Rom, Turin, Mailand, Genua, Florenz und Ancona kam es zu bewaffneten Erhebungen der Arbeiter und zu Barrikadenkämpfen. In den Regionen der Romagna und den Marken riefen die Aufständischen die Republik aus. Bei der Niederschlagung der Aufstände durch über 100.000 Soldaten gab es zahlreiche Tote und Verletzte.

Einen verhängnisvollen Einfluss übte Benito Mussolini während seiner langjährigen Arbeit als führender Funktionär in der ISP aus. Aus den einfachen Verhältnissen eines Dorfschmiedes kommend machte er nach seinem Eintritt 1909 in der ISP rasch Karriere und fand sogar zeitweise Anklang in der linken Fraktion. Der sich revolutionär gebärdende Mussolini brachte es fertig, gegen die Reformisten zu Felde zu ziehen, gleichzeitig den syndikalistischen Flügel zu stärken, unter diesem die Absage an den Marxismus zu betreiben und an seiner Stelle die Klassenzusammenarbeit mit der Bourgeoisie zu propagieren. 1912 wurde er zum Chefredakteur der Parteizeitung "Avanti" berufen, nach seinem Übergang auf chauvinistische Positionen 1914 aus der ISP ausgeschlossen.

Im Kampf gegen den imperialistischen Weltkrieg ragte die Haltung von Giacinto Menotti Serrati, der nach der Absetzung Mussolinis die Chefredaktion des "Avanti" übernahm, hervor. Er nahm als Mitglied der italienischen Delegation an den Konferenzen in Zimmerwald und Kienthal teil, näherte sich den Positionen Lenins an und bekannte sich 1917 zur Oktoberrevolution. Der "Avanti" enthüllte unter seiner Leitung überzeugend den imperialistischen Charakter des Völkermordens.


Zimmerwald und Kienthal

Die Reformistische Partei, die am 20. Mai 1915 noch gegen die Kriegskredite stimmte, ging später auf sozialchauvinistische Positionen über und unterstützte den Kriegseintritt unter der Losung des Kampfes der "demokratischen Staaten" gegen die "autoritären Staaten". Bissolati trat als Minister ohne Portefeuille in die Regierung ein. Die in der ISP verbliebenen "gemäßigten Reformisten" unter Turati fügten sich bis 1917 der Antikriegsposition der Parteimehrheit. Nach dem Zusammenbruch der Front am Monte Grappa und Piave liefen auch Turati und eine Anzahl seiner Anhänger zum Sozialchauvinismus über und riefen zur Vaterlandsverteidigung auf.

Im Mai 1915 ging von den "internationalistischen Sozialisten in Italien" die von Lenin hoch gewürdigte Initiative zur Einberufung einer Konferenz aller Parteien, Arbeiterorganisationen und Gruppen, "die an den alten Grundsätzen der Internationale festhielten", aus. Das Ergebnis waren die Tagungen in Zimmerwald (5. bis 8. September 1915) und in Kienthal (24.-30. April 1916). Obwohl in Zimmerwald die Mehrheit aus "schwankenden Beinahe-Kautzkyanern" bestand, beflügelte die Tagung die europäische Antikriegsbewegung. Die von Lenin formierte revolutionäre Linke grenzte sich offen und entschieden von den Opportunisten ab. Der Zusammenschluss der revolutionären Marxisten war für Lenin "eine der wichtigsten Tatsachen und einer der größten Erfolge der Konferenz"(2)

Die italienische Wirtschaft wurde schwer von den Kriegsfolgen getroffen. Der Mangel an Rohstoffen und Kohle lastete auf der importabhängigen Industrie. Die Produktion von Seide, Wolle, Glas und Papier ging um 25 % zurück. Selbst die Schwerindustrie konnte die vorhandenen Produktionskapazitäten nicht voll auslasten. Der Landwirtschaft fehlte es an Arbeitskräften, denn die auf 5,6 Millionen Soldaten angewachsene Armee rekrutierte sich zur Hälfte aus Bauern. Die Anbaufläche verringerte sich um 15%. 1917 lag die Getreideernte 20 bis 25 % unter der des Vorjahres.


Die revolutionären Nachkriegskämpfe

Während sich die reichen Oberschichten am Krieg mästeten, stürzte er die arbeitenden Schichten in immer tieferes Elend. Die Lebenshaltungskosten stiegen von 1913 bis 1918 auf 264,1 %. Die Reallöhne sanken in der Industrie von 1913 bis 1918 auf 64,6 %. Und das bei einer Ausdehnung der täglichen Arbeitszeit auf bis zu 16 Stunden.

Der Preis des italienischen Sieges in der Entente waren 680.000 Tote, zirka eine Million Verwundete, eine halbe Million Invaliden und Kriegskosten von 148 Mrd. Lire, welche dem Volk aufgebürdet wurden. Die Kriegsfolgen und die heraufziehende Wirtschaftskrise mit maßlosen Teuerungen und mehr als einer halben Million Arbeitslosen ließen die Arbeiterkämpfe weiter anwachsen. Im März 1919 erkämpften die Gewerkschaften den Achtstundenarbeitstag. Im Süden besetzten Landarbeiter und arme Bauern unbebautes Land der Latifundisten. Die Regierung musste das durch ein Dekret legalisieren.

In der ISP hatte sich der reformistische Flügel noch nicht als die Partei beherrschender durchsetzen können. Die ISP-Führung begrüßte mehrheitlich die russische Oktoberrevolution und beschloss, der Kommunistischen Internationale beizutreten. Bei den ersten Nachkriegswahlen im November 1919, die nach dem Verhältnisrecht stattfanden, erreichte die ISP 32,4 %. Sie verdreifachte ihre Stimmen damit gegenüber den letzten Wahlen von 1913 und belegte in der Abgeordnetenkammer mit 156 Mandaten von insgesamt 508 den ersten Platz. Die Reformisten kamen auf 27 Mandate. Die großbürgerliche Rechtspartei der Liberalen, die mit den Demokraten auf einer Liste antrat, erhielt die Quittung für ihre verbrecherische Kriegspolitik. Die Liste kam nur auf 179 Mandate. Die Liberalen verloren ihre absolute Mehrheit. Ihre Niederlage war Ausdruck der beginnenden Krise des bürgerlichen Staates.


Sturz der Ausbeuterordnung drohte

1920 stiegen die revolutionären Arbeiteraktionen sprunghaft an. Millionen streikten nicht mehr nur, um ihre materielle Lage zu verbessern, sondern für den Sturz der bürgerlichen Ausbeuterordnung. Die CGdL erlebte Masseneintritte und wuchs auf 2,3 Millionen Mitglieder an. Im August/September 1920 besetzten die Arbeiter alle großen Betriebe in Norditalien, wählten Fabrikräte, übernahmen die Leitung der Produktion (die sie trotz Sabotage des größten Teils des technischen Personals durchweg zu 70 % aufrechterhielten) und bildeten bewaffnete Rote Garden zur Verteidigung der Betriebe. Im Süden nahm die Inbesitznahme von Ländereien der Latifundistas teilweise Massencharakter an. Es mangelte indessen am Zusammenwirken der Aktionen der Landarbeiter und Bauern des Südens mit denen der Industriearbeiter des Nordens.

Die reaktionärsten Kreise erkannten die Gefahr und begannen, auf Mussolini zu setzen. Im März 1919 gründete er zum Kampf gegen die erstarkende revolutionäre Arbeiterbewegung, unterstützt von führenden Großkapitalisten, Großagrariern und Militärs, Faschistische Kampfbünde (Fasci di Combattimento), aus denen zweieinhalb Jahre später die Faschistische Partei hervorging.


Gramsci Ordine Nuovo

In den Arbeiterkämpfen wurde das Fehlen einer einheitlichen revolutionären Führungskraft deutlich. Unter dem Einfluss der Oktoberrevolution versuchten die Linken mit Gramsci an der Spitze in der ISP den Reformismus zu überwinden und die Partei auf einer revolutionären Linie zu einigen. Nach dem Beispiel der im März 1916 von Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und anderen Linken in Deutschland gegründeten Spartakusgruppe (seit November 1918 Spartakusbund) bildete Gramsci zusammen mit Palmiro Togliatti, Umberto Terracini und Angelo Tasca die Gruppe Neue Ordnung (Ordine Nuovo), die ab 1. Mai die gleichnamige Zeitschrift herausgab.

Eine der ersten großen Kampfaktionen, auf die Ordine Nuovo Einfluss nahm, war die Teilnahme der italienischen Arbeiter an dem internationalen Proteststreik gegen die ausländische imperialistische Intervention in Sowjetrussland und Räteungarn am 20. und 21. Juli 1919. Der Streik zeigte eine derartige Wirkung, dass die Regierung auf die bereits geplante Entsendung eines 100.000 Mann zählenden Heeres in die erdölreiche Region Georgiens verzichten musste. Außerdem zog sie die in Sibirien und im Fernen Osten stehenden italienischen Interventionstruppen ab.

In der Partei waren jedoch inzwischen neben den Ordinuovisten zwei weitere Flügel entstanden: Die Reformisten und Zentristen. Die zunächst noch von einer Minderheit der Reformisten in der Partei vertretene These vom "friedlichen Hineinwachsen in den Sozialismus" erhielt nach den Wahlerfolgen im November 1919 Auftrieb. Die Reformisten und teilweise die Zentristen traten offen für einen Kompromiss mit dem Kapital ein. Die Arbeiterkontrolle der Fabrikräte definierten sie als "konstruktive Zusammenarbeit" mit den Unternehmern und wandten sich gegen "revolutionäre Aktionen". Unter ihrem Einfluss schlossen die Gewerkschaften das, was man heute einen Sozialpakt nennt, der dazu führte, dass die Fabrikräte sich auflösten oder mit Hilfe der Polizei zerschlagen wurden.


Mussolinis SA-Terror

In den revolutionären Massenkämpfen 1919/20 zeichnete sich die Möglichkeit einer Machtergreifung durch die revolutionären Linken ab. In dieser Situation traten die von Mussolini geschaffenen Kampfbünde in Aktion und gingen gegen die Arbeiterkämpfe mit einem barbarischen Terror vor, der in dieser Zeit seinesgleichen suchte. Als die Sozialisten im Oktober 1920 bei den Kommunalwahlen erneut Stimmen dazu gewannen und in zahlreichen Städten des Nordens rote Stadtverwaltungen in die Rathäuser einzogen, überfielen 500 schwer bewaffnete Squadristen (3) Mussolinis Bologna, beschossen das Ratshaus, töteten neun Bürger, verwundeten über 100 und zwangen die Stadtverwaltung zurückzutreten. Ganz Norditalien wurde danach von derartigen Terrorakten heimgesucht. Allein im ersten Halbjahr 1921 forderte der SA-Terror nach unvollständigen Angaben folgende Opfer: 726 zerstörte proletarische Einrichtungen, darunter 17 Zeitungsredaktionen und Druckereien, 59 Volksheime, 119 Gewerkschaftszentralen, 107 Genossenschaften, 83 Bauernligen, acht gegenseitige Versicherungen, 141 Sektionen und Lokale der Sozialisten und Kommunisten, 100 Kulturheime, 10 Volksbibliotheken und -theater, eine Volkshochschule, 28 Arbeitergewerkschaften, 53 Arbeiter- und Erholungsheime.(4)


Die Gründung der IKP

Auf dem XVII. Parteitag der ISP, der am 15. Januar 1921 in Livorno zusammentrat, forderten die Ordinuovisten nach Punkt sieben der 21 Aufnahmebedingungen des II. KI-Kongresses von 1920 den "vollständigen und absoluten Bruch mit dem Reformismus und mit der Politik der Zentristen".(5) Das lief darauf hinaus, dass die Zentristen sich von den Reformisten trennen und zusammen mit den Ordinuovisten für deren Ausschluss aus der Partei stimmen sollten. Auf dem Kongress vertraten die Zentristen 98.028 Mitglieder, Ordine Nuovo 58.783 und die Reformisten 14.695. Giacinto Menotti Serrati, der sich vor dem Parteitag für "die Trennung von den Opportunisten" ausgesprochen hatte, konnte sich jedoch nicht durchsetzen. Mit dem Argument, die Einheit der Partei zu wahren, lehnten die Zentristen den Ausschluss der Reformisten ab. Daraufhin verließen die Ordinuovisten am Morgen des 21. Januar geschlossen das Tagungsgebäude im Goldini-Theater und gründeten im Sankt Markus-Theater die Kommunistische Partei. Sie nannte sich Kommunistische Partei Italiens, Sektion der KI. Nach Auflösung der Komintern führte sie ab 1943 den Namen Italienische Kommunistische Partei (IKP).


Generalsekretär Bordiga verkannte die faschistische Gefahr

Zum Generalsekretär wurde Amadeo Bordiga gewählt, der entscheidend zu den Antikriegspositionen der ISP beigetragen hatte. Er setzte sich aktiv für eine revolutionäre Basisarbeit ein, trat jedoch gegen eine Teilnahme an Wahlen auf und lehnte Formen des parlamentarischen Kampfes ab, da er das bürgerliche Parlament als eine Basis des Opportunismus in der Arbeiterbewegung betrachtete. Er verkannte die faschistische Gefahr und die Notwendigkeit der von Gramsci besonders nach dem Machtantritt Mussolinis im Oktober 1922 vertretenen breiten antifaschistischen Bündnispolitik. Wegen seines Sektierertums und der Massenentfremdung, welche die Haltung der Führungsgruppe der Partei prägten, wurde er 1924 aus dem ZK ausgeschlossen.


1924 trat Gramsci an die Spitze der IKP

Seine Nachfolge als Generalsekretär trat Gramsci an. Zu den 15 Mitgliedern des Zentralkomitees gehörten Gramsci, Tasca (6) und Terracini.(7) Unmittelbar nach dem Parteitag schlossen sich 35.000 der insgesamt 41.000 Jungsozialisten der IKP an, die so auf fast 100.000 Mitglieder anwuchs. Serrati korrigierte später seine Haltung, wurde Führer der Terzinternationalisten, welche die ISP an die KI annähern wollten, brach 1924 mit den Reformisten und trat der IKP bei, die ihn in ihr Zentralkomitee aufnahm.(8) Das Entstehen einer kommunistischen Partei in Italien, einem Land, das auf Jahrzehnte revolutionärer Arbeiterkämpfe zurückblickte, war nach der Bildung der KPD das herausragende Ereignis in der westeuropäischen Arbeiterbewegung.

Gramsci ist oft nachgesagt worden, er habe die Trennung von den Reformisten als einen großen Fehler gesehen. Das entstellt seine Haltung. Tatsächlich sah er im Misslingen seiner Konzeption der Umwandlung der ISP in eine revolutionären Partei des Proletariats "den größten Triumph der Reaktion".(9) Die Trennung bezeichnete er auf dem Parteitag in Lyon in gewisser Weise als eine Bedingung für das spätere Zusammengehen mit den Sozialisten gemäß dem Hinweis, den Lenin Serrati gegeben hatte: "Trennt euch von Turati, und danach verbündet euch mit ihm!". Gramsci schätzte grundsätzlich ein, "dass unsere Partei mit ihrem Entstehen endgültig das historische Problem der Bildung der Partei des italienischen Proletariats gelöst hatte." In dieser Auffassung bestärkten ihn die Erfahrungen der Räterevolution in Ungarn, wo er im Zusammenschluss der Kommunisten und Sozialdemokraten einen Faktor sah, der zur Niederlage beitrug.(10) Darüber hinaus wäre es ohne die Gründung der IKP nicht möglich gewesen, eine revolutionäre Strategie der Arbeiterklasse als entscheidende Grundlage des Kampfes, der zum Sturz Mussolinis und zur Niederlage des Faschismus führte, zu erarbeiten.


Anmerkungen:

(1) Vor Ausbruch des Krieges gehörte Italien dem Dreibund (Deutschland-Österreich-Ungarn) an. Nachdem ihm die Entente (Großbritannien-Frankreich-Rußland) einen größeren Anteil an Kriegsgewinnen, darunter das österreichische Südtirol zusagte, trat es auf deren Seite über und am 24. Mai 1915 in den Krieg ein.

(2) Imperialismus und Sozialismus in Italien. Werke, Bd. 21, S. 369, 396.

(3) Nach Squadre d'Azione, Sturmabteilungen. Den Begriff übernahm Hitler später wie z. B. auch den Führertitel ("Duce") und den entsprechenden Gruß direkt von Mussolini.

(4) Angelo Tasca: Glauben, gehorchen, kämpfen. Der Aufstieg des Faschismus in Italien. Wien, o. J. (Promedia), S. 436.

(5) Bedingungen für die Aufnahme in die Kommunistische Internationale. In: Lenin Werke, Bd. 31, S. 196.

(6) Tasca nahm 1922 am IV. Kongress der Komintern teil, wurde danach Mitglied des Sekretariats des ZK der IKP, auf dem VI. KI-Kongress in deren Sekretariat berufen. 1929 mit Begründung der Fraktionsbildung (Tasca-Gruppe) und Anhänger Bucharins aus der IKP ausgeschlossen. Befasste sich danach in Frankreich mit Faschismusforschung und schrieb das bedeutende Werk "Aufstieg des Faschismus in Italien". Er blieb, wie Silone im Vorwort dazu schrieb, "ein Sozialist der alten Garde" und hat sich nie zu Denunziationen gegenüber der IKP oder der kommunistischen Bewegung hergegeben.

(7) Terracini war Delegierter zum III. KI-Kongress. Von Mussolinis Sondertribunal 1926 zu 20 Jahren Kerker verurteilt, aktiv in der Resistenza, 1947 Präsident der Konstituente. Bis zu seinem Tod 1983 Mitglied des Senats.

(8) Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur. Frankfurt/Main 1986, S. 362 (FN 84).

(9) Togliatti: Reden und Schriften, eine Auswahl, Frankfurt/Main 1967, S. 165, 183.

(10) Gramsci a. a. O., S. 165.

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Quelle:
© 2012 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2012