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MEMORIAL/098: 22. April 2044 - Die "Wende von Salerno" (Gerhard Feldbauer)


Die "Wende von Salerno"

Auf Initiative Togliattis entstand im April 1944 ein antifaschistisches Kriegskabinett

von Gerhard Feldbauer, 19. April 2014



Zusammen mit den Parteien des Nationalen Befreiungskomitees - CLN (Sozialisten, Aktionisten, Christdemokraten und Liberalen) trat die Italienische Kommunistische Partei (IKP) am 22. April 1944 in die nach dem Sturz des "Duce" im Juli 1943 von dem vorherigen Mussolini-Marschall, Pietro Badoglio gebildete Regierung ein. Den Vorschlag dazu hatte IKP-Generalsekretär Palmiro Togliatti, der am 27. März aus der Immigration in der UdSSR nach Italien zurückgekehrt war, unterbreitet. Nach dem Regierungssitz in Salerno (Süditalien) benannt, ging das Ereignis als "Wende von Salerno" in die Geschichte ein. Gegen beträchtlichen Widerstand der eigenen Parteibasis, aber auch von Sozialisten und Aktionisten (PdA) hatte Togliatti argumentiert, dass nur so ein breite gegen Nazideutschland gerichtete antifaschistische Kriegs-Regierung entstehen könnte. Das dann gebildete Kabinett charakterisierte er als eine "Regierung der nationalen Einheit", die ein Bekenntnis zum Antifaschismus ablegte und eine "Governo Nazionale democratico di Guerra" (National-demokratische Kriegs-Regierung) darstellte. Das bewahrheitete sich vor allem durch den Zulauf, den die Partisanen-Einheiten danach auch aus den Reihen früherer Mussolini-Soldaten erhielten. Die Partisanenarmee wuchs auf über 200.000 Kämpfer an, fast ebenso stark wie die örtlichen Einheiten der "Gruppen der Patriotischen Aktion" (GAP). Die Wehrmacht musste gegen sie im Frühjahr 1944 bereits 15 Divisionen einsetzen.


Kritik der Basis an fehlender sozialistischer Perspektive

Togliatti wurde oft vorgeworfen, er habe mit dem Regierungseintritt einen riskanten Kompromiss geschlossen, weil der König, der mit der Berufung Mussolinis zum Ministerpräsidenten 1922 maßgeblich den Machtantritt des Faschismus gefördert und über 20 Jahre dessen Basis mitgetragen hatte, vorher nicht seinen Rücktritt erklärt, sondern ihn unverbindlich nur angekündigt hatte. Die IKP setzte bei ihrem Vorgehen auf ihre starken Positionen in der Resistenza (dem bewaffneten Widerstand) und ihrem Organ, dem CLN, in dem sie zusammen mit der ISP und PdA ein Übergewicht besaß, auf dessen Grundlage die Linken nunmehr auch die neue Regierung dominierten. Die IKP übernahm zwei Ministerposten: Togliatti zunächst ein Ressort ohne Geschäftsbereich (später wurde er Justizminister), Fausto Gullo das Landwirtschaftsministerium, das entscheidend für die Kämpfe der Landarbeiter und Landarmen Bauern war, die in Süditalien die Ländereien der geflohenen faschistischen Latifundistas besetzt hatten, was dann durch ein Regierungsdekret legalisiert wurde.


König musste abdanken, Badoglio zurücktreten

Mit dem Regierungseintritt war die "Wende von Salerno" auch noch nicht abgeschlossen. Der zweite Schritt erfolgte am 4. Juni 1944 nach dem Einmarsch der alliierten Truppen in Rom, das sich bereits unter der Kontrolle des Militärausschusses des CLN befand. Jetzt erntete die IKP eigentlich erst die Früchte ihres kompromissbereiten Vorgehens. Einer Forderung des CLN entsprechend musste der König abdanken. Da keine Einigung über die Beseitigung der Monarchie zustande kam, wurde als neuer Kompromiss, auch das wiederum auf Initiative der IKP, die Ernennung von Kronprinz Umberto zum Statthalter vereinbart und die Entscheidung über die Staatsfrage durch ein Referendum nach Kriegsende vertagt. Der späteren Haltung des Königshauses, es habe sich um keine Abdankung gehandelt und Umberto habe die Thronfolge angetreten, steht die Meinung des renommierten Staatsrechtlers Enrico de Nicola, später erster Präsident der Republik, entgegen, der klarstellte, es habe sich wohl um eine Abdankung gehandelt und die Statthalterschaft sei keine Inthronisierung des Kronprinzen gewesen.

Mit der Abdankung des Königs wurde Badoglio zum Rücktritt gezwungen und der Liberale Ivanhoe Bonomi zum Ministerpräsidenten berufen. Seine Ernennung erfolgte durch das CLN, womit die bisherigen Rechte des Königs, darunter auch die generelle Funktion des Staatsoberhaupts, dem Statthalter verwehrt wurden. Die Alliierten akzeptierten diese erstmals geübte Praxis, nach der auch weiterhin verfahren wurde. Sie stimmten ebenso der Entscheidung der Regierung Bonomi zu, das CLN in Norditalien (CLNAI) in den noch besetzten Gebieten als Organ mit Regierungsvollmachten einzusetzen.


Reaktionäre Pläne Churchills und des Königs gescheitert

Damit waren die reaktionären Pläne des Königshauses und der Rechtskräfte in den bürgerlichen Parteien zur Konservierung der faschistischen Machtpositionen, die vor allem Großbritannien unterstützte, gescheitert. Churchill äußerte in einem Telegramm an Stalin am 11. Juni 1944 seinen Unmut über die Ablösung Badoglios, den er "den einzig kompetenten Mann, mit dem wir es zu tun hatten" nannte. Er sei durch einen "Haufen überalterter und gefräßiger Politiker" ersetzt worden, die nun versuchten, "die italienischen Ansprüche durchzusetzen". In seinem Antworttelegramm verwies Stalin auf die Zustimmung des zuständigen Advisory Council of Italy.

Mit der "Wende von Salerno" schien de facto jener Blòcco stòrico entstanden zu sein, der in Gramscis antifaschistischer Bündnispolitik einen zentralen Stellenwert einnahm und zwar in größeren Dimensionen als sein theoretischer Begründer im Auge hatte. In Salerno entstand jedoch eine Allianz, die sich in erster Linie gegen die deutschen Okkupanten richtete, für welche die Mussolini-Faschisten nur noch Erfüllungsgehilfen waren. Die Stoßrichtung gegen Hitlerdeutschland ermöglichte die Einbeziehung großbourgeoiser Kreise und der Monarchie in das nationale Bündnis und erleichterte es vielen Soldaten und Offizieren der früheren Mussolini-Armee, sich der Resistenza anzuschließen.


Togliatti hielt sich an Stalins Linie

Die IKP betonte ihren grundsätzlich antifaschistischen Standpunkt, nach dem die Nachkriegsordnung "die Liquidierung all dessen beinhalten" müsse, "was an reaktionären und faschistischen Kräften verbleibt". Togliatti folgte jedoch der Linie Stalins, der im Interesse einer gedeihlichen Entwicklung der Antihitlerkoalition erklärt hatte, "die Frage der sozialistischen Revolution nicht aufzuwerfen" (Georgi Dimitroff, Tagebücher 1933 - 1943, Berlin 2000) und stellte diese Perspektive nicht als eine grundsätzliche Aufgabe der Nachkriegsordnung dar, was die Kritik der Parteibasis hervorrief.

Es waren vor allem die Kader, die in der Illegalität, und zwar vornehmlich unter den Arbeitern in den Industriegebieten des Nordens, den Widerstand gegen das Mussolini-Regime organisierten. Sie bezweifelten, dass mit großbürgerlichen Kreisen ein Bündnis für die Zeit nach dem Sieg über den Faschismus möglich sein werde, weil diese sich gegen eine "proletarische" Alternative wenden würden. Die Mailänder Führung, an deren Spitze Luigi Longo und der Verantwortliche für Militärfragen, Pietro Secchia, standen, kritisierte, dass beim Eintritt in die Badoglio-Regierung der Kampf gegen die deutsche Besatzung zum ausschließlichen Ziel der Resistenza erklärt wurde. Auch wenn man in Betracht zieht, dass sich in dieser Argumentation eine Tendenz zur Unterschätzung oder sogar zur Negation der Notwendigkeit des Kampfes um zunächst demokratische Veränderungen zeigte, waren das Befürchtungen, die sich nach dem Sieg über den Faschismus bewahrheiteten.


Großkapital beugte sozialistischer Perspektive vor

Während die IKP sich mit einer Herausstellung ihrer sozialistischen Perspektive zurückhielt, taten die führenden Industriekreise, die aus Angst, in die Niederlage Hitlerdeutschlands hineingezogen zu werden, den Sturz Mussolinis mitgetragen hatten, alles, um ihre Machtpositionen für die Zeit nach dem Krieg zu sichern. Ein Beispiel dafür war die Haltung Giovanni Agnellis, Besitzer des größten privaten Industrie- und Rüstungskonzerns FIAT. Während Agnelli im September 1943 zu den in Süditalien gelandeten Amerikanern ging, schickte er seinen Generaldirektor Vittorio Valletta in das von der Wehrmacht besetzte Norditalien zur Konzernzentrale nach Turin. Dort hielt dieser für Hitlerdeutschland die Kriegsproduktion aufrecht, unterdrückte den Widerstand der Arbeiter dagegen und sorgte bis Kriegsende für höchstmögliche Profite. Dem Rat Agnellis folgend nahm Valletta zwar nicht einen von Mussolini angebotenen Ministerposten an, tat aber sonst alles, um das deutsche Besatzungsregime und dessen Statthalter Mussolini zu stützen. Das hatte zur Folge, dass das CLN Valletta auf die Liste der faschistischen Kriegsverbrecher setzte. Gleichzeitig traf Vallettas Stellvertreter in Turin, Giancarlo Camerana, bereits Ende 1944 in Bern mit dem Chef des Office of Strategic Services (Vorläufer der CIA), Allen Dulles, zusammen, um die Nachkriegsexistenz von FIAT zu regeln. Daraus ergab sich dann auch, dass amerikanische Besatzungsoffiziere Valletta im April 1945 vor der Festnahme durch ein Kommando der Partisanenarmee, das die Konzernzentrale in Turin besetzte, retteten und in Sicherheit brachten.


Mit dem Thema befasst sich unser Autor ausführlich im Kapitel "Die ausgefallene Revolution" seines Buches "Wie Italien unter die Räuber fiel", Papyrossa, Köln 2012.

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2014