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MEMORIAL/115: Die schillernde Karriere des Nikita S. Chruschtschow (Gerhard Feldbauer)


Zwischen Revisionismus und flexibler Außenpolitik

Die schillernde Karriere des Nikita S. Chruschtschow

von Gerhard Feldbauer, 11. Oktober 2014



Am 14. Oktober 1964 wurde Nikita S. Chruschtschow (1894-1971) als Partei- und Staatschef abgesetzt. Am 13. September 1953 war er an Stelle des bis dahin amtierenden Georgi M. Malenkow (1902-1988) zum Ersten Sekretär des Zentralkomitees der KPdSU und damit zum Nachfolger des am 5. März des Jahres verstorbenen Josef W. Stalin (1879-1953) als Parteichef gewählt worden. Seine elfjährige Amtszeit war von einer widersprüchlichen, bis heute umstrittenen Entwicklung gekennzeichnet. Er versuchte, die starren Fronten des kalten Krieges durch flexible Methoden in der Außenpolitik zu durchbrechen, verabsolutierte dabei die Politik der friedlichen Koexistenz zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnungen, höhlte sie als Form des Klassenkampfes aus. Damit einher ging die Verabsolutierung eines friedlichen parlamentarischen Weges zum Sozialismus.


Hintergründe erst nach Untergang der UdSSR sichtbar

Als Gründe seiner Absetzung wurden der sich verschärfende Konflikt mit der VR China und eine verfehlte Wirtschaftspolitik gesehen. Die Auswirkungen seiner elfjährigen Amtszeit waren jedoch bedeutend tiefgreifender und wurden umfassend erst mit dem Untergang der UdSSR und des von ihr angeführten Sozialistischen Blocks in Osteuropa sichtbar. Chruschtschow ebnete Erscheinungen des Revisionismus in den an der Regierung befindlichen kommunistischen Parteien Osteuropas als auch in den kapitalistischen Industriestaaten den Weg.


Aussöhnung mit Tito

Josip Broz Tito (1892-1980), der als Generalsekretär der KPJ an der Spitze des Widerstandes gegen das hitlerfaschistische Besatzungsregime und für die Befreiung Jugoslawiens stand, schlug nach 1945 einen revisionistischen Kurs ein. Unter den Bedingungen des einsetzenden kalten Krieges schloss er mit den USA ein "Abkommen über gegenseitige Verteidigungshilfe". Während des Bürgerkrieges in Griechenland sperrte Jugoslawien 1949 die Grenze für die Partisanen, ließ sie für die reaktionären Truppen Athens dagegen offen. 1952 wurde die KPJ in einen Bund der Kommunisten Jugoslawiens umgewandelt. 200.000 Mitglieder, die sich marxistisch-leninistischen Positionen widersetzten, wurden ausgeschlossen, 30.000 verhaftet. Im August 1953 bildete Jugoslawien mit den NATO-Staaten Türkei und Griechenland den gegen die UdSSR und die sozialistischen Staaten Osteuropas gerichteten militärischen Balkanpakt (1958 erklärte Jugoslawien seine Mitgliedschaft als erloschen). Obwohl die revisionistische Linie Titos in der kommunistischen Weltbewegung auf heftige Kritik stieß, nahm Chruschtschow während eines Besuches im Mai 1955 in Belgrad alle Anschuldigungen gegen Tito zurück und begab sich damit auf dessen Positionen. Während der Ereignisse im Herbst 1956 in Ungarn bezog Tito Position zugunsten der konterrevolutionären Kräfte.


Verheerende Auswirkungen des XX. Parteitages

Verheerende Auswirkungen auf die kommunistische Weltbewegung hatte 1956 der XX. Parteitag der KPdSU. Das betraf nicht nur die Art und Weise wie Chruschtschow in seiner Geheimrede am Ende des Parteitages zur Rolle Stalins Stellung nahm. Dass unter Stalin massenhaft Unrecht geschah und oft nicht zu rechtfertigende Gewalt angewandt wurde, musste zur Sprache gebracht und dazu eine Bilanz gezogen werden. Das wurde von Chruschtschow jedoch ohne jeden historischen Bezug und ohne eine generelle Einordnung in revolutionäre Prozesse und ihre Entartungen, in Sonderheit der Entwicklung seit der Oktoberrevolution, vorgenommen. In keiner Weise wurde berücksichtigt, dass in allen Revolutionen der Terror immer von den Verteidigern der bestehenden Ordnungen begonnen wurde und sich gegen die Revolutionäre richtete. Dazu hat H. H. Holz sich in einem Essay "Die revisionistische Wende" geäußert. In der KPdSU-Führung war Chruschtschows Rede weder kollektiv erörtert noch beschlossen worden. Sie wurde auch nicht als offizielles Parteidokument anerkannt und weder zu Chruschtschows noch Breshnews Zeiten veröffentlicht. Der XX. Parteitag führte zum Konflikt mit der KP Chinas, welche die Vorgehensweise Chruschtschows ablehnte, und bewirkte Deformierungen und Fehlentwicklungen in den sozialistischen Staaten.


Wunschdenken und Voluntarismus in der Wirtschaftspolitik

Die Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde von Voluntarismus und Wunschdenken geprägt: Verkündung des Aufbaus der Grundlagen des Kommunismus bis 1980, Überholung der höchstentwickelten kapitalistischen Staaten in der Pro-Kopf-Produktion, Orientierung an den konsumorientierten und parasitären Wertvorstellungen des Kapitalismus. Es wurde der abenteuerliche Kurs eingeschlagen, die Auseinandersetzung mit ihm auf dem Feld der Warenproduktion, auf dem dieser eine entscheidende Überlegenheit besaß, zu führen.

Im Herbst 1959 reiste Chruschtschow auf Einladung Präsident Dwight D. Eisenhowers (1890-1969) zu einem zwölftägigen Besuch in die USA. In den Gesprächen spielte die Deutschlandfrage eine zentrale Rolle. 1958 hatte Chruschtschow mit der Forderung einer Entmilitarisierung Berlins und der Anerkennung der DDR faktisch den Viermächtestatus über die Stadt aufgekündigt. Obwohl er das Berlinultimatum fallen ließ, erbrachten die Gespräche keine Annäherung. Die Ereignisse entwickelten sich in der Folgezeit in Richtung 13. August 1961.


Gescheiterte Gipfeldiplomatie

Für den 16./17. Mai 1960 war ein Gipfeltreffen der vier Großmächte in Paris anberaumt. Am 1. Mai wurde ein tief in den Luftraum der UdSSR eingedrungenes USA-Spionageflugzeug U2 bei Swerdlowsk in über 20.000 Meter Höhe abgeschossen. Im Pentagon hatte man nicht damit gerechnet, dass die Sowjetunion inzwischen über Bodenluftraketen dieser Reichweite verfügte. Chruschtschow wollte dennoch an seiner Politik der Verständigung mit den USA festhalten, forderte dazu jedoch vergeblich eine Entschuldigung Eisenhowers. Der Gipfel platzte. Mit Eisenhowers Nachfolger John F. Kennedy (1917-1963) traf Chruschtschow ein Jahr später in Wien zu einem Meinungsaustausch über Abrüstungsfragen und die Berlinfrage zusammen. Trotz herausgestellter freundlicher Atmosphäre gab es keine Ergebnisse.

Nach der USA-Niederlage 1961 in der Schweinebucht auf Kuba hielten die Drohungen zur Liquidierung des Sozialismus auf der Karibikinsel an. Die sowjetischen Militärs reagierten mit der Entsendung von Mittelstreckenraketen nach Kuba. Nach der Verhängung einer Seeblockade gegen Frachter der UdSSR und ihrer Verbündeten lenkte Chruschtschow ein und zog die Raketen wieder ab. Eine Vereinbarung zwischen der UdSSR, den USA und Großbritannien über eine begrenzte Einstellung der Atomtests im August 1963 konnte Chruschtschow noch als einen Erfolg seiner "Verständigungspolitik" feiern.

Nach seiner Absetzung wurde Leonid I. Breshnew (1906-1982) Parteichef. Der unter Chruschtschow Fuß gefasste Revisionismus stagnierte zunächst, es wurde jedoch nichts unternommen, ihn zu überwinden. Er bildete den Nährboden, der Michael S. Gorbatschow an die Macht brachte. Dessen Ziel bestand, wie er nach der Niederlage des Sozialismus in Europa 1989/90 offen eingestand, schon lange bevor er 1985 Generalsekretär wurde, darin, die sozialistischen Gesellschaftsordnungen zu liquidieren und eine kapitalistische Restauration durchzusetzen.


Die Forschungsergebnisse Kurt Gossweilers

Der bereits durch viele Publikationen als brillanter Faschismusforscher bekannte Kurt Gossweiler hat nach der sozialistischen Niederlage in Europa eine zweite Hauptstrecke eingeschlagen: Die Erforschung des Revisionismus in seinen neuen Erscheinungsformen. Der Ausgang des Zweiten Weltkrieges, der insgesamt die Möglichkeiten für das weitere Voranschreiten des revolutionären Weltprozesses erweiterte, habe zugleich Bedingungen hervorgebracht, die der bürgerlichen Ideologie - vor allem in Gestalt neuer Erscheinungsformen des Revisionismus, auch "moderner Revisionismus" genannt - Wege des Eindringens nunmehr in die kommunistischen Parteien an der Macht einschließlich der KPdSU eröffneten. Die Antihitlerkoalition habe "in Teilen der Bewegung Illusionen über den Imperialismus genährt; nur der deutsche, italienische und japanische Imperialismus seien 'böse' Imperialismen, die imperialistischen Bundesgenossen dagegen repräsentierten einen 'guten' Imperialismus, von dem keine Gefahr mehr für den Sozialismus ausginge." Einen Schwerpunkt seiner Forschungen bildete die Rolle Chruschtschows an der Spitze der KPdSU als Wegbereiter des modernen Revisionismus, der Gorbatschow an die Macht brachte und zu einer entscheidenden Ursache der sozialistischen Niederlage 1989/90 wurde. Sein Vorgehen sei nicht einfach zu durchschauen, da er stets als Marxist-Leninist und Verteidiger dieser Weltanschauung auftrat. Dazu hat Gossweiler zwei Standardwerke vorgelegt: "Wider den Revisionismus" und "Die Taubenfußchronik oder die Chruschtschowiade" (Bd. I 1953 bis 1957, Bd. II (1957 bis 1976), erschienen im Verlag zur Förderung der wissenschaftlichen Weltanschauung München 1997 bzw. 2002/2005.

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Oktober 2014