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MEMORIAL/118: Vor 130 Jahren starb Mathilde Franziska Anneke (Gerhard Feldbauer)


In der Heimat als "Flintenweib" beschimpft, feierten die Amerikaner sie als die "bedeutendste Frau der Fortyeighters"

Vor 130 Jahren starb Mathilde Franziska Anneke

von Gerhard Feldbauer, November 2014


Porträt - gemeinfrei via Wikimedia

Mathilde Franziska Anneke (1817-1884)
Zeichnung aus: Der Märker, 1840 - gemeinfrei via Wikimedia

Mathilde Franziska Anneke, eine leidenschaftliche Teilnehmerin an der deutschen Revolution 1848/49, danach eine herausragende Persönlichkeit der amerikanischen Demokratie- und Frauenbewegung war lange Zeit in Deutschland kaum bekannt. In den USA aber würdigten, als sie vor 130 Jahren, am 25. November 1884 in Milwaukee starb, viele Zeitungen ihr kampferfülltes Leben. Der Widerhall war so groß, dass die "Hattinger Zeitung" sich veranlasst sah, einen Artikel in der "New Yorker Zeitung" mit der Überschrift abzudrucken "Eine berühmte Deutsch-Amerikanerin". Dass Mathilde eine ehemalige Bürgerin der Stadt war, geriet jedoch bald wieder in Vergessenheit.

Geboren wurde sie 1817 in Sprockhövel, einer heute 25.000 Einwohner zählenden westfälischen Kleinstadt. Später wurde das zwischen Bochum und Wuppertal liegende Hattingen ihr Wohnort. Sie war eine "Tochter aus gutem Hause", die ihren eigenen Weg einer frühen Feministin und Sozialistin ging, als revolutionäre Journalistin und Schriftstellerin bekannt wurde. Sie ließ sich von ihrem gewalttätigen Ehemann scheiden und schlug sich mehr schlecht als recht, eine kleine Tochter allein erziehend, durchs Leben. Mit ihrem zweiten Mann Fritz Anneke, einem ehemaligen preußischen Artillerieoffizier, Mitglied der Kölner Gemeinde des Bundes der Kommunisten, nahm Mathilde in der letzten Etappe der deutschen Revolution 1849 an den Kämpfen in den Reihen der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee teil.


"Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Kriegszug"

1853 erschien in den USA, wohin die Annekes nach der Niederlage der Revolution mit Zehntausenden anderen flüchteten, die Erstausgabe ihrer "Memoiren einer Frau aus dem badisch-pfälzischen Kriegszug" (Newark (New Jersey), später eine Wiedergabe in den "German American Annals" (Philadelphia 1918), Nachdruck Bochum 1976. Noch heute widerspiegeln diese Erinnerungen die leidenschaftliche Anteilnahme, den Schmerz über die Niederlage, die Trauer über den Verlust so vieler, die ihr Leben hingaben. Sie gibt zu, dass sie auch aus Liebe mit ihrem Mann in den Krieg zog, um dann zu gestehen, "der Hass, der glühende, im Kampf des Lebens erzeugte Hass gegen die Tyrannen und Unterdrücker der heiligen Menschenrechte" habe sie getrieben. Ihre Aufzeichnungen endeten mit den Worten: "Lebe wohl, deutsche Erde! Lebe wohl, mein armes unglückliches Mutterland."


An der Seite von Friedrich Engels im Freikorps Willich

Mathilde war im badisch-pfälzischen Feldzug Ordonanzreiterin im Freikorps von Oberst Willich, dem besten Truppenteil der Revolutionsarmee. Sie lernte Friedrich Engels kennen und war sehr beeindruckt, wie er als Stabschef und Adjutant seine Erfahrungen einbrachte, die er sich vorausschauend als Einjährig-Freiwilliger in der preußischen Garnison in Berlin angeeignet hatte. In ihren Memoiren schildert sie ausführlich die Kämpfe, die sie erlebte, den Mut und die Tapferkeit, mit der sich die Patrioten den in Baden einfallenden preußischen Interventionstruppen entgegenstellten. Sie berichtet über ein Gefecht bei Rinnthal, in dem Engels das Kommando über ein Seitendetachement übernahm und mehrere Stunden "zeitweise im dichtesten Feuer" stand. "Sein Eifer und sein Mut wurden von seinen Kampfgenossen ungemein lobend hervorgehoben", schreibt sie.


Auf dem Wall der Festung Rastatt

Mathilde war dabei, als sich am 28./29. Juni 1849 unterhalb der Festung Rastatt an der Murg noch 13.000 Kämpfer der Revolutionsarmee unter dem Befehl des polnischen Revolutionärs Ludwik Mieroslawski der Übermacht von über 40.000 Mann von drei preußischen Korps zur letzten Schlacht stellten. Lange Zeit konnten sie, gestützt auf die weitreichende schwere Festungsartillerie, trotz der zahlenmäßigen Unterlegenheit den Kampf für sich entscheiden und die Preußen an verschiedenen Abschnitten sogar weit zurückwerfen. Mathilde verfolgte die zweitägigen, erbitterten Kämpfe vom Wall der Festung aus, während ihr Mann unten an der Murg die Artillerie kommandierte. Die Preußen konnten erst die Oberhand gewinnen, als sie überraschend über das neutrale Württemberg vorstießen, die badisch-pfälzischen Einheiten umgingen und deren rechten Flügel zerschlugen. Während ein Teil der Truppen nach der Niederlage sich in die Festung zurückzog, marschierten etwa 7.000 Mann nach Süden. Mit einer Nachhut des Freikorps Willich deckte Engels den Rückzug, der am 11. und 12. Juli bei Lottstetten mit dem Übertritt in die Schweiz endete.


Der Exekution entkommen

Um die Zivilbevölkerung vor dem Artilleriebeschuss zu bewahren, kapitulierte Rastatt am 23. Juli. Der preußische Befehlshaber, General Graf von der Groeben, der eine angemessene Behandlung der Gefangenen zugesagt hatte, ließ stattdessen sofort den Festungskommandanten Oberst Tiedemann und 27. seiner Offiziere standrechtlich erschießen. Zahlreiche weitere folgten. "Ich habe fast alle gekannt", schrieb Mathilde. Die Henkersknechte nennt sie "preußische Standrechtsbestien". Hunderte starben in den Kasematten der Festung ohne medizinische Hilfe an Typhus, unzählige wurden heimlich ermordet, Tausende fielen im ganzen Land dem Terror der Feudalreaktion zum Opfer, Zehntausende wurden gerichtlich verfolgt, insgesamt 700.000 Teilnehmer an den Erhebungen 1848/49 in die Emigration getrieben.


Immigration in die USA

Mathilde und Fritz gelang es zu entkommen, bevor die Preußen den Belagerungsring um die Festung schlossen. Über Straßburg und die Schweiz flohen sie in die USA, wo sie sich zunächst in Milwaukee/Wisconsin, einer Stadt mit zahlreichen Deutschstämmigen, niederliessen. Fritz kämpfte später, wie viele aus der badisch-pfälzischen Revolutionsarmee im Bürgerkrieg als Oberst in den Reihen der Unionstruppen.


Für politische und soziale Gerechtigkeit

Für Mathilde begann in den USA ein atemberaubendes Leben. In Deutschland von bourgeoisen Schreiberlingen als "Flintenweib" diffamiert, galt sie dort "als die bedeutendste Frau der Achtundvierziger, die sich und ihre demokratischen Ideen ans andere Ufer gerettet hatten". Ihr Wirken, das "zu einem bedeutenden Faktor im Ringen um politische und soziale Gerechtigkeit" wurde, fand große Achtung und Anerkennung. Sie hielt Vorträge über die deutsche Revolution, über Literatur des Vormärz (Heine, Herwegh, Freiligrath, Sallet), engagierte sich in fortschrittlichen und politisch radikalen Gruppierungen, trat der Gemeinde der Freidenker bei und wurde später Gründungsmitglied der Frauensektion der I. Internationale. Ab 1852 gab sie die "Deutsche Frauenzeitung" heraus, die sie zweieinhalb Jahre leitete und zu einer für diese Zeit erstaunlichen Auflage von 2.000 Exemplaren brachte. Auf ihren zahlreichen Vorträgen forderte sie Gleichberechtigung und vor allem das Wahlrecht für Frauen, trat für die Aufhebung der Sklaverei und für die Trennung von Kirche und Staat ein. Von der Leidenschaft, mit der sie sprach, zeugten Worte wie diese: "Auf denn, Ihr Schwestern! Werft den hohlen Flitter des Putzes und der Eitelkeit ab und schafft, dass Euch der Mann um dessentwillen liebt, was Ihr seid." In diesem kampferfüllten Leben gebar Mathilde sieben Kinder, von denen sie fünf begraben musste.

Ab 1860 längere Zeit in Europa, pflegte sie Kontakte zu einem unterschiedlichen Freundes- und Bekanntenkreis, darunter die amerikanische Schriftstellerin Mary Booth, Georg und Emma Herwegh, Gottfried Keller, Ferdinand Lassalle und Gräfin Hatzfeld. Einem neuen revolutionären Aufschwung in Deutschland stand sie skeptisch gegenüber. "An die Revolution in Deutschland glaube ich nicht. Der Michel kann zu viele Fußtritte vertragen und fürchtet sich zu sehr vor den Gendarmen", schrieb sie.


Ein Mädchen-Institut, orientiert an der Pädagogik Friedrich Fröbels

Zurück in den USA gründete Mathilde, die Pädagogin aus Naturtalent, mit der Lehrerin Cäcilie Kapp, die sie in der Schweiz kennengelernt hatte, 1865 in Milwaukee ein Mädchen-Institut mit Internat, das sich an der Pädagogik Friedrich Fröbels orientierte. Neben Literatur wurde großer Wert auf Mathematik und Naturwissenschaften gelegt und den jungen Frauen eine Lebenssicht vermittelt, die aus dem Kreis "Kinder, Kirche, Küche" herausführen sollte. Das in den USA hoch angesehene Institut zählte bis zu 65 Schülerinnen.

Mathilde Franziska Anneke im Sessel sitzend - gemeinfrei via Wikimedia

Altersbildnis von Mathilde Franziska Anneke
unbekannter Fotograf veröffentlicht vor 1923, fotografiert vor 1884
gemeinfrei via Wikimedia


Späte Ehrung in der deutschen Heimat

Lange Zeit in Deutschland ignoriert fand sie seit dem Nachdruck ihrer Memoiren 1976 in Bochum auch in ihrem Geburtsland Aufmerksamkeit. Am Geburtshaus Overleveringhausen in Sprockhövel erinnert eine Gedenktafel an sie. 1988 widmete die Bundespost ihr eine Briefmarke in der Reihe "Frauen in der deutschen Geschichte". In den 1980er Jahren fand sie Aufnahme in das Figurenprogramm des Kölner Rathausturms. Die von der Bildhauerin Katharina Hochhaus gestaltete Figur wurde 1995 an der Ostseite des Turmes aufgestellt.

Im Rahmen der "Ruhr 2010" verlieh der Bürgermeister von Sprockhövel, Dr. Walter Wattenscheid, einen "Anneke-Preis" für besondere Leistungen im Frauenbildungsbereich an den "Frauensalon" des IG Metall-Bildungszentrums. Auskunft über Leben und Wirken Mathildes gibt auch das 1986 eingerichtete Stadtarchiv von Sprockhövel, für das der damalige Archivar, Martin Sturm, Kopien des Nachlasses der Familie Anneke aus den USA beschaffte und damit den Grundstein für einen Bestand legte, der seitdem ständig erweitert wurde.

Von und über Franziska Anneke erschienen neben ihren Memoiren über den "badisch-pfälzischen Kriegszug" zahlreiche weitere Publikationen, darunter von Klaus Schmidt "Mathilde Franziska und Fritz Anneke. Eine Biographie" (Köln 1999). Das ausführliche Literaturverzeichnis enthält die zahlreichen Bücher und Schriften Mathildes. Im gleichen Jahr erschien in Münster ein Bericht von Wilfried Reininghaus: "Die Revolution 1848/49 in Westfalen und Lippe", über die Tagung der Historischen Kommission für Westfalen am 18./19 Februar 1999 in Iserlohn, aus dem der Beitrag von Franz-Werner Kersting "Das Weib in Conflict mit den socialen Verhältnissen. Frauen im Vormärz und in der Revolution 1848/49" herausragte. Eindrucksvoll die 2004 von Erhard Kiehnbaum "Bleib gesund mein liebster Sohn Fritz..." veröffentlichten ergreifenden Briefe Mathilde Franziska Annekes an Friedrich Hammacher, 1846-1849 (Wuppertal 1998).

2012 hat die Leiterin des Archivs der Geburtsstadt Mathilde Franziska Annekes, Karin Hockamp, über das kampferfüllte Leben der prominenten Einwohnerin eine eindrucksvolle Biografie verfasst. Unter dem Titel "Von vielem Geist und großer Herzensgüte" ist es eine fundierte Publikation, gut mit Quellen belegt, einprägsam und menschlich einfühlsam geschrieben und mit zahlreichen Abbildungen illustriert (Bochum 2012).


Online ist abrufbar: Anneke, Mathilde Franziska (Biographie im Internetportal "Westfälische Geschichte" des LWL).
http://www.lwl.org/westfaelische-geschichte/portal/Internet/finde/langDatensatz.php?urlID=598&url_tabelle=tab_person

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. November 2014


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