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MEMORIAL/216: Vor 45 Jahren siegte Vietnam (Gerhard Feldbauer)


Vor 45 Jahren siegte Vietnam

Während Big Minh kapitulierte, rauchten auf dem US-Botschaftsgelände die Verbrennungsöfen, in die CIA-Leute ihre Geheimakten warfen
Auf Avican-Helicoptern flohen die letzten Amerikaner zu den US-Kriegsschiffen vor der Küste

Von Gerhard Feldbauer, 3. Mai 2020


Es war der 30. April 1975, als gegen 11.30 Uhr Ortszeit die Vorausabteilung eines Panzerregiments der Befreiungsstreitkräfte handstreichartig, wie es in Presseberichten damals hieß, ohne Gegenwehr in das Zentrum von Saigon vorstieß. Die T-54 donnerten an der US-Botschaft vorbei zum Doc Lap-Palast, dem Sitz der Saigoner Marionetten-Präsidenten. Der Führungspanzer rammt das schmiedeeiserne Tor auf, zwei weitere folgen ihm, ihre Ketten hinterließen auf der Teerdecke tiefe Spuren. Vor dem Aufgang hielten sie. Der Regimentskommandeur, Oberst Bui Van Tung, kletterte aus dem Geschützturm und ging mit einigen seiner Offiziere die Treppen zum Palast hoch. Links und rechts des Eingangs bezogen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett Posten. Kein Widerstand regt sich. Als Tung den Sitzungssaal des Präsidenten betrat, erhoben sich Duong Van Minh, dem man drei Tage vorher das nunmehr verhasste Amt aufgehalst hatte, und der Vizepremier Vu Van Mau.

"Big Minh", wie der mit 1,80 Meter ungewöhnlich große Südvietnamese genannt wurde, hatte 1963 den Putsch gegen Präsident Ngo Dinh Diem angeführt. Gelegentlich hatte er in den letzten Jahren allgemein zu einem "Friedensschluss" aufgerufen. Dass ihn US-Botschafter Martin Graham für den Mann gehalten hatte, der für die Vietcong noch am ehesten akzeptabel für eine Übergabe sein könnte, war auf einen weiteren Gesichtspunkt zurückzuführen. Minh hatte einen Bruder in Nordvietnam, der nichts geringeres war als General der Volksarmee. Verfeindete Brüder in einem geteilten Land. Auf eine Antrittsrede hatte der letzte Präsident wohlweislich verzichtet, einige Stunden vorher aber über Radio die Bereitschaft zur Kapitulation erklärt und sich dabei als erster Saigoner Vertreter an die Regierung der kommunistischen Republik Südvietnam (RSV) gewandt und appelliert: "Hört auf zu schießen, damit wir uns zusammenfinden können, um die Verwaltung ordnungsgemäß zu übergeben, damit unnötiges Blutvergießen vermieden wird".

Eine späte Erkenntnis. Im Präsidentensaal hatte er das Emblem der Marionettenrepublik entfernen und ein neues mit einer Blume, die Frieden und Einheit symbolisieren sollte, anbringen lassen. Nun stand der große Minh im dunkelblauen Anzug dem Panzerobersten, der sich nicht einmal vorstellte, gegenüber und sagte so entgegen kommend wie möglich: "Wir warten auf Sie, um Ihnen alles zu übergeben." Der antwortete ihm nur knapp: "Sie haben hier nichts mehr zu übergeben. Es bleibt Ihnen nur noch die bedingungslose Kapitulation." Die unterschrieb Minh dann auch. Vorher aber wurde er von einigen Offizieren zur Rundfunkstation gebracht, um dort die Kapitulation bekannt zu geben und die Saigoner Armee aufzufordern, den Kampf einzustellen und die Waffen niederzulegen. Minh stand dann zwei Tage den verschiedenen Vertretern der RSV-Regierung Rede und Antwort und lieferte ihnen aus, was an Dokumenten des Regimes noch vorhanden war. Danach konnte er sich in seine Wohnung zurückziehen.

Während Oberst Tung in den Präsidentenpalast ging, hißten Soldaten der Befreiungsarmee die Fahne der Republik Südvietnam auf dem Gebäude. Einheiten der Befreiungskämpfer hatten inzwischen auf dem Flugplatz Tan Son Nhut den letzten Widerstand gebrochen, Ministerien und wichtige Dienststellen, den Generalstab, Rundfunk- und Fernsehstationen besetzt und die Verkehrsknotenpunkte unter ihre Kontrolle gebracht. Partisanen, die in Saigon im Untergrund gekämpft hatten, unterstützten sie.

Acht Stunden vorher hatte sich der US-amerikanische Statthalter in Saigon, Botschafter Graham Martin, mit einem Hubschrauber abgesetzt. Die unter Verletzung des Pariser Abkommens noch in Südvietnam verbliebenen 25.000 amerikanischen Militärberater waren in den Tagen vorher abtransportiert worden.


Foto: Public domain, via Wikimedia Commons

19. Juli 1968 - Südvietnams Präsident Nguyen Van Thieu (l.) und US-Präsident Lyndon B. Johnson (r.)
Foto: Public domain, via Wikimedia Commons

Den Zusammenbruch des Marionettenregimes hatte in den letzten neun Tagen markiert, dass es drei Präsidenten hatte. Nguyen Van Thieu legte am 21. April sein Amt nieder. Im Frühjahr 1973 war er als ein erbitterter Gegner des Pariser Friedensabkommens aufgetreten. Die Amerikaner hatten ihm, auf andere Weise als früher, beigebracht, dass sie "das Sagen" hatten und er musste klein beigeben. Als die Befreiungsstreitkräfte, Provinz um Provinz einnehmend, Saigon immer näher kamen und über 200.000 südvietnamesische Soldaten überliefen oder auch nur desertierten, hoffte Thieu, die Amerikaner zur Rückkehr bewegen zu können. Er verstieg sich zu der Forderung, "die B-52 zur Bestrafung der Kommunisten sowohl gegen Süd- als auch Nordvietnam" starten zu lassen.

Aber in Washington war man sich klar darüber geworden, dass das die Niederlage nur hinauszögern würde. So war es besser, davon zu schwadronieren, Amerika habe sich "ehrenvoll" zurückgezogen und den Saigoner Marionetten die Rolle der Verlierer zu zuschreiben. Nun klagte Thieu die USA in einer Rundfunkrede wutentbrannt an, ihre Vasallen im Stich zu lassen. Als seinen Nachfolger ernannte er den 71jährigen Tran Van Huong, ebenfalls ein treuer Gefolgsmann Washingtons. Danach floh er nach Taiwan. Jens Nauntofte, Korrespondent der Kopenhagener "Information", schrieb, sein Gepäck, das zu der "Bristol" der US-Air Force, die ihn evakuierte, transportiert wurde, habe etwa zehn Tonnen umfasst. Sein Vermögen hatte er vorher bereits auf ausländische Banken transferieren lassen. Wie viele Millionen Dollar es waren, wurde nicht bekannt. Huong blieb sechs Tage im Amt und trat dann ebenfalls zurück, um Duong Van Minh zum letzten Präsidenten zu ernennen.

Das Saigoner Regime war zusammen gebrochen. Es waren keine Minister mehr anzutreffen und die meisten Generäle hatten ebenfalls das Weite gesucht. Ihre Familien hatten viele schon Monate vorher in Erwartung der Niederlage nach Bangkok evakuiert. Beamte und Offiziere plünderten die Läden der Geschäftsviertel. Selbst fünf Minuten vor Zwölf fanden sie keinen Ausweg aus der Sackgasse ihrer Gier nach Wohlstand und Besitz. Fernsehgeräte, Fotoapparate, Radios, Duschen, Toiletten, Fensterrahmen, Lampen, alles wurde demontiert und weggekarrt.


Präsident Fords letzter Befehl

Auf dem US-Botschaftsgelände rauchten Verbrennungsöfen, in die CIA-Leute ihre Geheimakten warfen. Wie später bekannt wurde, fielen aufschlussreiche Top-Secret-Dokumente in die Hand der Demokratischen Republik Vietnam, darunter auch Listen von Agenten der CIA. Das war umso prekärer, als auch der Saigoner Stationschef, Tom Polgar, es nicht geschafft hatte, viele seiner wichtigsten Informanten auszufliegen. Ihm selbst war es gerade noch gelungen, sich mit einem Hubschrauber zum Kommandantenschiff "Blue Ridge" abzusetzen. "Sicher auf US-Kriegsschiff. Bis bald", hatte er von dort nach Langley telegrafiert. Duong Van Minh hatte als letzter Staatschef nichts weiter zu tun, als auf das Ende zu warten.

Am 28. April 1975 erging der letzte Befehl US-Präsident Gerald Fords an Botschafter Graham Martin: Mit der Evakuierung zu beginnen und sich selbst in Sicherheit zu bringen. Bis zuletzt hatte Washington die Evakuierung hinausgezögert, weil nicht mit einer so raschen Einnahme Saigons gerechnet worden war. Wie so oft in den vergangenen Jahren war man auch in den letzten Stunden nicht in der Lage gewesen, dass Kräfteverhältnis real einzuschätzen. 81 Helicopter standen Martin zur Verfügung. Da sich der Flugplatz Tan Son Nhut bereits in den Händen der Befreiungsarmee befand, mussten sie vom Dach der Botschaft und den Dächern einiger umliegender Gebäude starten. US-Marines sicherten im Botschaftsgebäude die Treppen, über die Vietnamesen nach oben drängten, um mitgenommen zu werden.


Foto: U.S. Marines in Japan Homepage / Public domain, via Wikimedia Commons

Operation "Frequent Wind" ab 29. April 1975 - Die US-Marine evakuiert südvietnamesische Zivilisten
Foto: U.S. Marines in Japan Homepage / Public domain, via Wikimedia Commons

Sie schwenkten ihre Pässe mit den US-Visa, die sich manche für 100.000 $ in Hongkong besorgt hatten. Die Hubschrauber flogen alle paar Minuten zu den vor Saigon liegenden Kriegsschiffen ab. Wütende Saigoner Soldaten feuerten auf abfliegende Maschinen, US-Marines erwiderten das Feuer. Während nach 14 Stunden der letzte "Avican"-Helicopter abhob, waren in den unteren Geschossen bereits Plünderer am Werk, rissen Teppiche heraus, zertrümmerten Möbel und schleppten alles nicht Niet- und Nagelfeste davon. Das Personal des amerikanischen Konsulats verließ mit zwei Flußschiffen auf dem Mekong in Richtung Meer die Stadt. Hubschrauber der Saigoner Luftwaffe beschossen sie mit MGs. Zurück blieben Tausende hoher Marionetten, denen Botschafter Martin ebenfalls die Evakuierung versprochen hatte. Insgesamt war geplant gewesen, 130.000 Vietnamesen, die eng mit den USA zusammen gearbeitet hatten, in den USA aufzunehmen.

Als Duong Van Minh die Saigoner Truppen aufforderte, das Feuer einzustellen, hatten diese bereits aufgehört zu kämpfen. Auf Straßen und Plätzen stapelten sich die von ihnen weg geworfenen Waffen zu großen Haufen. Vor öffentlichen Gebäuden und an Straßenkreuzungen standen bereits am Abend des 30. April Posten der Befreiungskämpfer in ihren olivgrünen einfachen Uniformen. Die Plünderungen hörten schlagartig auf. Auf Straßen und Plätzen wurden die Befreier stürmisch begrüßt. Die Bevölkerung überzeugte sich bald durch die Realität, dass die von den USA und ihren Saigoner Marionetten betriebene Gräuelpropaganda mitnichten der Wahrheit entsprach. Es gab keine Erschießungen, keine Gewalt, keine Plünderungen. Die Bo Doi, die Volkssoldaten, wie die Befreiungskämpfer genannt wurden, erwiesen sich als Menschen aus dem Volk. Es gab Szenen, da verhinderten Befreiungskämpfer, dass Saigoner Offiziere oder Beamte aus Angst vor ihnen Selbstmord begingen. [1]

Saigon ist frei, Südvietnam nach zwei Jahrzehnten amerikanischer Besatzungsherrschaft befreit; die Ketten eines ein Jahrhundert währenden Kolonialjochs, das einst Frankreich errichtete, sind zerbrochen. Nach Jahrzehnten Besatzungsherrschaft feiert Saigon am nächsten Tag den ersten Mai als Tag des Sieges. Mit Saigon, mit Hanoi und ganz Vietnam feiern Millionen in aller Welt, die an der Seite Vietnams standen.


Fußnote:

[1] Börries Gallasch (Hrsg.), "Ho-Tschi-Minh-Stadt, die Stunde Null. Reportagen vom Ende eines dreißigjährigen Krieges", Reinbek, Rowohlt 1975, S. 86 ff.


Im Juli 2005 erschien von Irene und Gerhard Feldbauer das Buch "Sieg in Saigon: Erinnerungen an Vietnam" im Pahl Rugenstein Verlag Nachf. in 2. Auflage.

Siehe dazu die Rezension im Schattenblick unter INFOPOOL → BUCH → SACHBUCH:
REZENSION/343: Irene und Gerhard Feldbauer - Sieg in Saigon (Politik)

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Quelle:
© 2020 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2020

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