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TIERGESCHICHTEN/020: Papagei einerlei ... (SB)



Es ist nicht leicht, das kleinste von fünf Kindern zu sein. Davon war jedenfalls Sünje überzeugt. Eigentlich hatte sie es wirklich gut in ihrem Zuhause, aber sie wünschte sich schon lange ein eigenes Haustier. Ihre Mutter war davon nicht begeistert, denn die Familie lebte bereits mit vielen Tieren zusammen. Da schnurrten die Katzen, bellten die Hunde, gackerten die Hühner, krakeelten die Wellensittiche und dann schwammen auch noch die bunten Fische im Aquarium.

"Mama, ich möchte auch ein Tier, um das ich mich kümmern kann, das mir gehört, alle anderen haben doch auch eines, Tanja hat sogar zwei", beschwerte sich Sünje.

"Nun, langsam wird es bei uns ziemlich eng und ich muss dir sagen, dass mir meine Kinder und die Tiere schon ausreichen. Noch ein Tier? Oh nein, mein Schatz, versteh mich doch", bemühte sich die Mutter zu erklären. "Aber ich mache dir einen Vorschlag. Wie wäre es, wenn du dir die Versorgung der Wellensittiche mit Tanja teilst?"

"Du meinst, ich könnte mich um Max kümmern und sie um Moritz?", etwas ungläubig sah Sünje ihre Mutter an.

"Ja, genau das meine ich. Tanja ist alt genug und wird das verstehen, da bin ich mir sicher. Aber wir werden sie natürlich fragen, ist das gut so?"

"Hmmm, ja", Sünje runzelte die Stirn, freute sich aber dann doch, "ja, Mama, dann kann ich ihm das Sprechen beibringen!"

Tanja hatte nichts dagegen, dass ihre kleine Schwester sich um Max kümmerte. Sünje lernte schnell, was es alles zu bedenken gab beim Füttern und beim Reinigen des Käfigs. Bald begann sie mit den Sprachübungen. Sie hockte sich vor den Käfig und wiederholte in unendlicher Geduld "Max, Mmmaax, Max, sprich mir nach, ist ganz leicht, Max, Mäxchen, Maax, Max." Tanja schmunzelte, dann aber ging ihr dieses ewige "Max-Rufen" auf die Nerven.

"Mensch, Sünje, Wellensittiche sprechen nicht, das sind die Papageien, die das können. Hör schon endlich auf, du gehst mir auf den Keks!", schimpfte sie dann irgendwann doch.

Sünje war wütend und traurig, aber sie ließ sich nicht überzeugen. Jeden Tag hörte man sie liebevoll und geduldig dem kleinen Wellensittich seinen Namen vorsprechen. Jetzt allerdings achtete sie darauf, dass ihre große Schwester Tanja nicht in der Nähe war. Das Schönste aber war, dass Sünje den Kleinen richtig liebgewonnen hatte und die Sehnsucht nach einem eigenen Haustier völlig verschwunden war.

Eines Nachts schreckte Sünje von einem lauten Poltern hoch. Sie langte nach ihrer Taschenlampe und leuchtete das Zimmer aus. Tanja schien nichts gehört zu haben, sie lag ruhig in ihrem Bett. Dann fiel der Lichtkegel auf den Boden und dort lag Sünjes Puppe, die eigentlich oben auf dem Regal wohnte. Sünje richtete die Taschenlampe dort hin und sah - eine graue, sehr große Maus!

Empört rief Sünje: "Hast du etwa meine Lieblingspuppe vom Regal gestoßen?" - "Tja, kann schon sein, ist ziemlich voll hier oben, lauter Gerümpel!", versuchte die Maus zu erklären.

"Häh? Hast du gerade mit mir gesprochen?" - "Mensch, Kind, war das nicht deutlich genug?", pöbelte die reichlich freche Maus.

"Doch, doch, sicher, aber, aber, Mäuse sprechen doch nicht", flüsterte Sünje, die nicht wollte, dass ihre Schwester wach wurde. "Also, dann wäre das schon mal geklärt. Nun könntest du mir helfen. Ich suche nach Käse in diesem Haus. Irgendwo muss es hier welchen geben, das rieche ich! Zeigst du mir den Weg?"

Das Mädchen war so erstaunt, dass es nur nickte, die Hausschuhe anzog und mit der Taschenlampe den Weg in die Küche antrat. Die Maus zögerte keine Sekunde und folgte ihm. Sie mussten über den Flur an der Wohnzimmertür vorbei und da geschah es. Die Hauskatze sprang auf und stürzte sich auf die Maus, der es im letzten Moment gelang, auf Sünjes Rücken zu springen. Erschrocken blickte sie nun über die Schulter des Mädchens und flüsterte in ihr Ohr: "Beschütze mich, bitte!"

Sünje verscheuchte die Katze und sperrte sie im Wohnzimmer ein. Dann setzte sie ihren Weg in die Küche fort mitsamt Maus auf dem Rücken. Wie gewünscht holte sie den Käse aus dem Kühlschrank, stellte ein Tellerchen hin und schnitt ein paar Stückchen aus dem Käse heraus, um sie auf den Teller zu legen.


Die große Maus hält ein Stückchen Käse in den Pfoten - Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick

Maus lässt sich den Käse schmecken
Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick


Die Maus hüpfte auf den Tisch, hockte sich vor die Käsestücke und begann zu schmausen. "Mmmmh, lecker, nach so einem Schreck genau das Richtige."

"Sag mal, wo kommst du her oder wie kommst du in unser Haus?" - "Blöde Frage, wie Mäuse eben in Häuser kommen, ganz einfach. Nun lass mich in Ruhe essen, hab nämlich einen Mäuseappetit."

Das kleine Mädchen fand, dass die Maus sich recht unverschämt benahm, sagte aber nichts. Nach einer Weile fasste es einen Entschluss. "Sag mal Maus, willst du mein Haustier sein?"

"Was, bist du verrückt, nein, nein, vielen Dank, aber das möchte ich ganz bestimmt nicht", entsetzt lehnte sich die nun satte Maus zurück. "Warum denn nicht?" - "Na, ganz einfach, meinst du ich hätte Lust, in einem Käfig gefangen zu sein, ne, ne nicht mit mir, dazu ist mir meine Freiheit zu kostbar. Kommt nicht in Frage, Mädchen!"

"Aber bei mir wärst du vor der Katze in Sicherheit!", versuchte Sünje die Maus zu überzeugen. - "Kann schon sein, aber dann bin ich lieber mal in Gefahr und versuche zu entkommen, als dass ich eingesperrt leben muss, nein, nein, niemals!"

Das kleine Mädchen wollte gerade noch etwas sagen, doch die Worte blieben ihr im Halse stecken. Da wo gerade noch die große, graue Maus saß und sich an dem Käse gütlich tat, war nur noch ein durchsichtiger Nebel zu erkennen, der sich bald ganz auflöste, Sünje griff dort hinein, sie wollte die Maus festhalten, doch da war nichts und plötzlich wurde sie in diesen Nebel hineingesogen ...

Mit einem lauten Schrei erwachte sie, Tanja stand schon neben ihrem Bett, nahm sie in den Arm und streichelte ihr über den Rücken: "Na Sünje, hattest du einen Albtraum?" Sünje schluchzte, schlang die Arme um den Hals ihrer großen Schwester und weinte leise.

"Na komm, Sünje, nun ist er ja vorbei und du bist in Sicherheit. Willst du erzählen, was du geträumt hast?" - "Nein, lieber nicht, ich versuch mal wieder einzuschlafen. Danke Tanja", murmelte sie und kuschelte sich unter ihre Decke. Tatsächlich schlief sie dann rasch ein.

Am folgenden Tag saß das kleine Mädchen vor dem Vogelbauer und begrüßte ihren Max. Es war sehr nachdenklich und betrachtete den Wellensittich. "Na, Sünje, was bedrückt dich?", wollte ihre Mutter wissen, als sie ihre Tochter so traurig dasitzen sah.

"Mama, meinst du, Max möchte lieber frei sein, ich meine, nicht hier in einem Käfig sitzen?" - "Nun, ja, das denke ich. Aber ihr Kinder habt euch so sehr diese Vögelchen gewünscht, da haben Papa und ich sie für euch angeschafft." - "Ja, das stimmt. Glaubst du, wir könnten sie ab und zu mal in der Wohnstube fliegen lassen?"


Ein grünbunter Wellensittich im Flug - Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick

Fliegender Wellensittich
Buntstiftzeichnung: © 2022 by Schattenblick


"Ich denke das wird möglich sein. Ihr, also du und Tanja, müsstet dann aber die ganze Zeit dabei sein und aufpassen, dass die Katzen nicht hereinkommen können. Das wäre mir dann doch zu gefährlich für die kleinen Vögelchen."

Sünje lächelte erleichtert und teilte diese Neuigkeit den Wellensittichen Max und Moritz mit. Dann reinigte sie den Käfig und hängte noch einen Hirsekolben hinein. Max hüpfte aufgeregt auf seiner Stange hin und her und blieb plötzlich ganz ruhig sitzen. Verwundert betrachtete Sünje sein Verhalten. Dann hörte sie ganz deutlich: "krlmäx, krlmäx, krlmäx". Sünje klatschte in die Hände und lachte: "Du kannst ja doch sprechen!" - "Na klar, aber das bleibt unser Geheimnis."

Ende


26. September 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 177 vom 1. Oktober 2022


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