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ARCHITEKTUR/021: Die Kathedrale von Santiago de Compostela (BTU Cottbus)


btu profil news Nr. 23 / April 2008
Zeitung der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus

Am Ziel des Jakobsweges
Wissenschaftler der BTU Cottbus erforschen die Kathedrale von Santiago de Compostela, wobei moderne Vermessungs- und Untersuchungsmethoden eingesetzt werden

Von Prof. Dr.-Ing. Klaus Rheidt


Seit der Auffindung der Reliquien des Apostels Jakobus im 8. Jh. entwickelte sich Santiago de Compostela zum bedeutendsten christlichen Pilgerzentrum neben Jerusalem und Rom. Zwischen 1075 und 1211 errichtete man eine gewaltige Pilgerkirche über dem Apostelgrab, die mit ihrem Skulpturenschmuck zu den bedeutendsten Monumenten romanischer Baukunst gehört. Trotz ihrer kunstgeschichtlichen Stellung ist sie eines der zahlreichen mittelalterlichen Großbauwerke, die in ihrem konkreten Bauablauf bis heute als weitgehend unerforscht gelten können. Vor allem der Zusammenhang des prachtvollen Skulpturenportals im Westbau, des Pórtico de la Gloria, mit dem ursprünglichen Baubestand der Kirche ist seit den ersten Forschungen von Kenneth John Conant in den frühen 1920er Jahren Gegenstand kontroverser kunsthistorischer Diskussionen.

Seit 2004 erforschen Wissenschaftler der Lehrstühle Baugeschichte und Vermessungskunde BTU Cottbus die Bau- und Konstruktionsgeschichte der Kathedrale. Das Forschungsprojekt, unter der Leitung von Prof. Klaus Rheidt und Dr. Corinna Rohn (Lehrstuhl Baugeschichte) wird seit 2007 von der Fritz Thyssen Stiftung sowie durch eine private Spende gefördert. Es ist Teil einer interdisziplinären Kooperation mit dem Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern (Prof. Bernd Nikolai) sowie dem Museum der Kathedrale und der Universität von Santiago de Compostela. Ziel dieser Zusammenarbeit ist es, den Bauablauf der Kathedrale, den zugrunde liegenden Entwurf und die nachträglichen Planänderungen zu entschlüsseln und auf der Grundlage der Rekonstruktion des Bauwerks in den einzelnen Phasen seine Stellung innerhalb der mittelalterlichen Pilgerarchitektur neu zu diskutieren.

Von Ende Februar bis Mitte März 2008 war eine Gruppe von über 20 Wissenschaftlern, Technikern und Studierenden der BTU Cottbus in Santiago de Compostela, um die Bauaufnahme- und Dokumentationsarbeiten fortzusetzen. In den ersten Jahren des Projektes stand vor allem der Westbau mit seinem reichen Skulpturenportal im Zentrum der Arbeiten, dessen Dokumentation weitgehend abgeschlossen werden konnte, so dass nun Messdaten, Planmaterial und Ansichten aller Wände als Grundlagen für die weitergehende baugeschichtliche Bearbeitung zur Verfügung stehen. Die Forscher der BTU Cottbus dokumentieren und vermessen jede Baunaht, jeden Wechsel im Steinmaterial und jede Unregelmäßigkeit im Quadergefüge, um daraus auf Bauabschnitte und Änderungen des ursprünglichen Bauplans zu schließen. Schon jetzt lässt sich sagen, dass der Westbau Teil eines die gesamte Kathedrale umfassenden Planungssystems war. Es konnten zahlreiche Mauerwerksabschnitte aus einer Phase vor dem Einbau des Pórtico de la Gloria festgestellt und so die umstrittene Frage geklärt werden, ob die Kathedrale schon im 12. Jh. vollständig fertiggestellt war. Der Einbau des Skulpturenportals stellt danach einen erheblichen Eingriff in einen bestehenden, zunächst anders gestalteten Westabschluss der Pilgerkirche dar.

Die Hauptarbeit der Wissenschaftler und Studierenden im Frühjahr 2008 war aber die Vermessung und Zeichnung von Grundrissplänen und Schnitten des Querhauses und des Chors der Kathedrale sowie die Dokumentation der über 1000 variantenreich verzierten Kapitelle, Säulenbasen, Konsolen und Skulpturen. Einen mittelalterlichen Großbau zu vermessen und zu dokumentieren wäre noch vor wenigen Jahrzehnten ein zeitlich kaum abschätzbares Großprojekt gewesen. Die Wissenschaftler der BTU Cottbus und der Universität Bern arbeiten heute aber mit modernsten Methoden, mit reflektorloser Tachymetrie, Photogrammetrie und mit automatisch scannenden Verfahren, die die herkömmliche Bauaufnahme von Hand ergänzen. Die beteiligten Studierenden lernen dabei, wie man in einer kombinierten Anwendung traditioneller und moderner technischer Methoden selbst ein Bauwerk dieser Komplexität und Größe vollständig erfassen kann.

Da sich durch tiefgreifende barocke Um- und Anbauten an vielen Stellen im Chorbereich kaum noch romanisches Mauerwerk erhalten hat, erfordert die Rekonstruktion des ursprünglichen Zustandes der Kathedrale hier besonders große Sorgfalt bei der Dokumentation jedes noch so kleinen Restes aus den frühen Bau- und Kunstruktionsphasen. Am Ende des Forschungsprojektes der BTU Cottbus soll ein komplexes Entwicklungsmodell der Kathedrale stehen, das sowohl die aus jeder Bauphase erhaltenen Reste als auch die gesicherten und hypothetischen Rekonstruktionen zeigt. Auf dieser Basis werden die Wissenschaftler dann zusammen mit ihren Kollegen aus Bern, die parallel zur Bauuntersuchung an der Aufarbeitung der historischen Quellen arbeiten, die Wirkung der Kathedrale auf den mittelalterlichen Betrachter untersuchen und Fragen nach dem Vorbildcharakter des Bauwerks für die Pilgerkirchen in Spanien und Frankreich sowie nach Einflüssen auf die Planungen in Santiago de Compostela nachgehen. Die Wissenschaftler der BTU Cottbus treten in Santiago de Compostela den Beweis an, dass mit modernen Vermessungs- und Untersuchungsmethoden heute Großbauten erfasst und erforscht werden können, deren detaillierte Untersuchung noch wenige Jahrzehnte zuvor als viel zu aufwändig galt. Der Weg zur Erfassung des umfangreichen Datenmaterials ist jedoch auch mit modernen Methoden noch schwierig. Und so nähern sich die Forscher ihrem Ziel, die Kathedrale am Ende des Jakobswegs als Ganzes zu verstehen und ihre komplexe Baugeschichte zu erklären, langsam, Schritt ihr Schritt - nicht viel anders als die Pilger, die sich bis heute jedes Jahr in großer Zahl auf den Jakobsweg machen.


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Quelle:
btu profil news Nr. 23, April 2008, Seite 20
Zeitung der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Juli 2008