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ARBEITERSTIMME/194: Vietnam - der etwas andere Sozialismus?


Arbeiterstimme Nr. 163 - Frühjahr 2009
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Vietnam - der etwas andere Sozialismus?


Wer zu Vietnam im Internet recherchiert, wird etwas seltsam anmutende Schwerpunkte finden. Einmal gibt es unzählige Erinnerungsliteratur all derer, die links stehen (oder standen) und inzwischen einer gewissen Altersstufe angehören. Vietnam war die Plattform, auf der die eigene Politisierung stattfand. Solange Vietnam im Krieg gegen die imperialistische Hauptmacht stand, war das Land wichtig. Danach tut sich eine gewaltige Lücke auf. Einzeluntersuchungen und Monographien zur Zeit ab 1975 bis ca. 1986 sind sehr wenige erschienen und die Linke hat sich, mit der Ausnahme moskauorientierter Kommunisten, dafür in keiner Weise mehr interessiert.

Stattdessen haben die Geschäftemacher des Westens, und in deren Gefolge der Tourismus, das Land entdeckt: als verlängerte Werkbank vor allem der Textil-, Schuh- und Nahrungsmittelindustrie einerseits, als Abnehmer von Stahl, Fahrzeugen und Maschinen aller Art andererseits. Vietnam, das Land, das "in die Steinzeit zurückgebombt" werden sollte, wurde in wenigen Jahren der bedeutendste Reisproduzent nach den wesentlich bevölkerungsreicheren Ländern China, Indien, Indonesien und Bangla Desh, und zum zweitgrößten Kaffeeerzeuger und -exporteur nach Brasilien.

Das Land erzielte nach der Asienkrise 1997 (bis 2008) Wirtschaftswachstumsraten zwischen 7 % und 9 %. Kein Wunder, dass es für die Metropolen zum interessanten Exportpartner wurde. Die Mitgliedschaft in der WTO seit Anfang 2007 soll die Wirtschafts- und Rechtsordnung noch stärker auf die Bedürfnisse der "Partner" ausrichten. Dass Vietnam sich vor Jahrzehnten erfrechte, dem Imperialismus die Hauptniederlage nach dem II. Weltkrieg zu bereiten, vergeben ihm inzwischen (beinahe) auch die USA.

Wie sieht Vietnam heute aus? Welches Bild von sich und ihrem Land haben die Vietnamesen? Diese Fragen haben mich im Sommer 2008 durch Vietnam, von Hanoi bis in die Tiefen des Mekongdeltas, begleitet. Meine Sichtweise blieb dabei zwangsläufig eine europäische und ohne Vietnamesischkenntnisse war auch die Auswahl der Gesprächspartner beschränkt.

Wer Entwicklungsländer kennt und von ihren Schwierigkeiten weiß, wird viele davon in Vietnam wiederfinden. So greift die Hauptstadt Hanoi mit sechs Millionen Einwohnern inzwischen weit in das Umland des Flussdeltas aus, die Zersiedelung der Großstädte ist Kennzeichen auch von Ho-Chi-Minh-Stadt (HCM-Stadt) und Hai Phong. Die Infrastruktur hält dieser Entwicklung nicht stand. Seitenstraßen sind häufig schlecht oder gar nicht geteert, öffentlichen Nahverkehr findet man nur in Form altersgebrechlicher Busse. Es fährt damit nur, wer muss. Stattdessen quälen sich auf 800 km städtischen Straßen und Wegen zwei Millionen zugelassener Mopeds und Motorräder: zur abendlichen rush hour ein nicht enden wollender Korso von Scheinwerferkegeln, die sich zu Hunderten von Ampel zu Ampel stauen.

Hanoi liegt im Schnitt drei Meter unter dem Niveau des Roten Flusses, der südöstlich der Stadt sein Delta ausbildet. Ständig verändern die Flussarme ihre Bahnen, der Fluss ist auch am Rande Hanois nicht befestigt und überflutet bei Hochwasser, das im Grunde ständig irgendwo auftritt, ganze Viertel. Die braunen Wasser, welche die Erde des nördlichen Berglandes abtragen, erneuern dabei die Böden des Deltas. Deshalb ist Hochwasser keine Katastrophe nach europäischen Maßstäben, sondern die Voraussetzung einer ertragreichen Landwirtschaft. Dies gilt für das nördliche Delta und in weitaus höherem Maße für das Mekongdelta im Süden mit seinen drei jährlichen Reisernten.

Die Städte ziehen, trotz der offiziellen Zuzugsrestriktionen, Menschen aus dem ganzen Land an. Etwa 20 % der 85 Millionen Vietnamesen wohnen in HCM-Stadt, Hanoi oder Hai Phong und ihre Zahl steigt immer noch überproportional zur gesamten Einwohnerzahl. Nicht die Verwaltungsbestimmungen dämpfen den Zuzug in die Städte, sondern die Lebenshaltungskosten. Im Verhältnis enorme Mieten, Verbrauchs- und Schulgebühren, aber auch der Wunsch nach einem motorisierten Verkehrmittel wegen der langen Wege zum Arbeitsplatz verlangen den Menschen viel Arbeit und Anstrengung in zum Teil zwei oder drei Jobs ab. Trotzdem hält die Landflucht an, denn außer Subsistenzlandwirtschaft außerhalb der Deltas, und Kleingewerbe oder Handwerk, das selten die Familie ernährt, bieten die Provinzen kaum Einkommen. Noch sind fast 70 % der arbeitsfähigen Bevölkerung in der wenig technisierten, sehr kleinflächigen Landwirtschaft tätig. Die Bevölkerung ist zu zwei Dritteln nach Ende des Vietnamkrieges 1975 geboren, im Schnitt 28 Jahre alt und benötigt gegenwärtig - mit hohem Wachstumsbedarf - etwa 47 Millionen Arbeitsplätze.

Dabei hat die statistische Durchschnittsvietnamesin keine fünf Kinder mehr wie nach dem Krieg, sondern zwei. Die staatliche Förderung dieser "Idealfamilie" besteht letztlich darin, dass Miete und Gebühren finanzierbar bleiben, wenn beide Eltern arbeiten. Und allmählich wird ein Rentensystem etabliert, das die Basis für ein Leben nach dem Renteneintritt darstellen kann.


Vietnam - ein Vorbild unter den Entwicklungsländern?

Es muss, nach vielen Hungergenerationen, zur Zeit in Vietnam niemand hungern. Die staatlichen Garantiepreise für Reis sind niedrig, aber das Zugriffsrecht auf bestimmte Lieferquoten sichert gleichzeitig den Städtern die Versorgung. Fleisch ist wesentlich teurer, wird aber vor allem als Schweinefleisch mit starken Zuwachsraten produziert.

Sieht man die wirtschaftlichen Kennzahlen des Pro-Kopf-Nationaleinkommens, so steht Vietnam zwischen vielen anderen rohstoffarmen Entwicklungsländern, zwischen Senegal und Sambia, zwischen der Mongolei und dem Jemen. Allerdings fehlt, anders als in den meisten Entwicklungsländern, die extreme Einkommensspreizung. Christa Esterhazy stellt 1999 fest: "Die Tatsache jedoch, dass nach wie vor weitreichende öffentliche Dienste und Einrichtungen zur Verfügung stehen, lässt Vietnam gegenüber anderen armen Ländern gilt abschneiden. ... Und der UN-Index für menschliche Entwicklung listet Vietnam unter jenen vier Ländern auf, die ihr niedriges Einkommen besonders effizient einsetzen." Gelobt werden allgemein die hohe Alphabetisierungsquote von 90 % beider Geschlechter, eine Säuglingssterblichkeitsrate, die 40 % unter dem Schnitt vergleichbarer Entwicklungsländer liegt und eine allgemeine Lebenserwartung von ca. 70 Jahren.

Dies und die flankierenden gesellschaftlichen Maßnahmen, eine mindestens neunjährige, nicht nur auf dem Papier stehende Schulpflicht und die zumindest das Grundniveau sichernde Gesundheitsfürsorge für alle heben Vietnam heraus. Das Land wird nicht bloß, wie dies in den meisten Entwicklungsländern der Fall ist, von seinen Herrschern verwaltet, auf dass es mit seinen Bewohnern zur Ausbeutung durch innere und äußere Kapitalisten zur Verfügung steht. Es gibt noch einen politisch-gesellschaftlichen Gestaltungswillen im Lande und sein Träger ist die Kommunistische Partei und - in vielen Fragen des praktischen Lebens wichtiger - das sind zahlreiche gesellschaftliche Organisationen.


Vietnam - ein sozialistisches Land?

Spricht es gegen die sozialistische Entwicklung, als 1986 die Politik der Erneuerung (Doi Moi) beschlossen wurde? Ergebnis war, unter anderem, dass das bebaubare Land über ein langfristiges Pachtsystem von den Genossenschaften auf die Familien (rück-)übertragen wurde. Zwischen 0,7 ha im Norden und etwa 3 ha Land im Mekong-Delta besitzen die Familien jetzt. Verhältnisse, die den in der Vergangenheit üblichen Großgrundbesitz wieder ermöglichen, sind bis heute ausgeschlossen. Es gibt (noch) keine großen Einzelkapitalien, die Börse spielt, auch schon vor der Finanzkrise, keine Rolle. Dennoch entsteht privater Reichtum, wenn größere Betriebseinheiten aufgelöst und mit Kapitalinvestitionen privatisiert werden. Dies ist, speziell im Dienstleistungsgewerbe und im Tourismus, der Fall. Die vietnamesischen Kapitalisten zeigen sich bislang ungern in der Öffentlichkeit, bewachte Nobelviertel mit ihren Luxusvillen gibt es weder in Hanoi noch in HCM-Stadt.

Vietnam durchlief zwischen 1975 und 1986 eine äußerst harte, schwierige Periode. In der an kapitalistische Standards gebundenen Literatur werden diese Jahre "das verlorene Jahrzehnt" genannt. Das legt nahe, die politisch Verantwortlichen hätten grundsätzlich anders handeln können und vor allem handeln sollen. Ich teile diese Ansicht nicht.

Das Regime des Südens war, samt seiner ständigen westlichen Unterstützung, in den März- und Apriltagen 1975 gefallen. Die Städte waren angefüllt mit Millionen landloser Flüchtlinge. Das zur "free-firezone" erklärte Umland, in dem auf alles, was sich bewegte, geschossen wurde, war zerbombt und verseucht. In den 15 Jahren des "amerikanischen Krieges", wie der Vietnamkrieg dort genannt wird, starben über zwei Millionen Menschen, weitaus mehr waren verletzt, arbeitsunfähig, zu Waisen geworden, physisch und psychisch zerstört. Die allein nicht lebensfähigen Städte, die bisher von einer westfinanzierten Logistik erhalten wurden, mussten teilevakuiert werden. Niemand wollte freiwillig in bomben- und krankheitsverseuchte Gebiete gehen, also wurden Zwangsmaßnahmen gesetzt. Anstatt eine Friedensdividende zu genießen, wurden die Überlebensbedingungen gerade im Süden nochmals drastisch verschärft. Nicht nur Prostituierte (wie viele entwurzelte Frauen konnten es sich erlauben, keine Prostituierten zu sein?) und "Kapitalisten" wurden in Arbeits- und "Umerziehungslager" gesperrt, auch viele treue Kämpfer aus dem Süden und Zweifler an der Richtigkeit dieses Vorgehens erlitten dieses Schicksal.

30 Jahre später ist die Diskussion über diese Politik ein wichtiger Meilenstein der vietnamesischen Gesellschaft geworden, um die eigene Geschichte annehmen zu können. Gerade auch die KP wird sich den Fragen stellen müssen und sie ist gut beraten, ernsthafte Antworten zu finden. Der Verweis auf den steigenden Lebensstandard ist dabei zu wenig.

Die Nutznießer und Träger des alten Systems, die christlich geprägte Führungsschicht des Südens, waren dem Zorn der verarmten, enttäuschten und perspektivlosen Massen ebenso ausgeliefert worden wie die Handelsklasse vorwiegend chinesischer Abstammung, die Hoa. Ein Ventil war die oft heillose Flucht in die südchinesische See, die für Hunderttausende entweder den Tod durch Ertrinken, durch Durst oder Piraten brachte oder die medial reichlich benutzte Aufnahme durch westliche Länder bedeutete.

Mit großer Mühe und unter noch größeren Opfern, einzig mit der Hilfe des Ostblocks, stabilisierte sich die Lage in Vietnam. Dem Einmarsch in Kambodscha folgte die prompte "Strafaktion" durch chinesische Truppen, welche mehrere Nordprovinzen einnahmen, zerstörten und mehr als 10 000 Tote hinterließen. Viele Mittel waren absorbiert worden, die dringend für den Wiederaufbau gebraucht wurden.

So berichtet Helmut Opletal, ein österreichischer Reporter, 1984: "Der Norden ... hat den Süden vereinnahmt. Jobs in den staatlichen Institutionen des Südens wurden mit Kadern aus Hanoi oder demobilisierten Vietkong-Soldaten besetzt... Die sozialen Gegensätze springen mehr und mehr ins Gesicht: In HCM-Stadt sitzen Kriegsgewinnler in den Cafés und Restaurants, ... während vor der Tür Kriegsversehrte, Drogensüchtige und verstoßene Besatzungskinder um Essen betteln... Von der einstigen Solidarität und der kriegsbedingten Genügsamkeit im Norden spürte man immer weniger."

Der Versuch, die wirtschaftlichen, politischen und Verwaltungsstrukturen des Südens nach dem Vorbild der jahrzehntelangen Kriegs- und Notstrukturen des Nordens umzuwandeln, misslang und er musste misslingen. Lediglich die Hilfe der Sowjetunion und ihrer Alliierten vermochte Hungersnöte Mitte der achtziger Jahre zu dämpfen oder einzugrenzen. Doch welche Alternative hatte die siegreiche KP? Das kambodschanische "Modell" vielleicht mit seinen Millionen Toten? Eines war jedenfalls sicher: die westliche Solidaritätsbewegung hatte sich längst angewidert abgewandt, weil der Traum von der klassenlosen, friedlichen Gesellschaft, sobald die bösen Amerikaner weg waren, nicht aufging.

Die Gorbatschow-Ära leitete erkennbar das Ende des sozialistischen Blocks ein und die vor allem ökonomisch motivierten Kehrtwenden in China und wenige Jahre später in Vietnam waren die Reaktionen der herrschenden kommunistischen Parteien darauf.


Vietnam - ein zweites China?

Weder die industriellen noch die landwirtschaftlichen Strukturen waren und sind dafür geeignet, Kapitalkonzentration in großem Stil zuzulassen. Es gab früher keine Megakombinate, die bestimmte Branchen hätten dominieren können. Und die landwirtschaftliche Produktion war immer dezentral und tendenziell kleinteilig. Die Akkumulation war dementsprechend gering, die steigende Staatsverschuldung nach innen und außen (gegenüber der Sowjetunion) bei gleichzeitigem Devisenmangel bezeichnen diese Situation.

In Russland standen die Führungscliquen aus den Schlüsselindustrien, in China die Provinzfürsten und die Bürgermeister in den Startlöchern bereit, um ihre Privatisierungsschlachten zu schlagen und für sich zu entscheiden. In Vietnam war dies mangels Kapitalmasse nur eingeschränkt möglich. Dies gestattete der Regierung auch, die Hereinnahme privaten ausländischen, oft auslandsvietnamesischen Kapitals schrittweise zu gestalten.

Auslandsinvestitionen und Privatisierungen werden auch in Vietnam die Ausbeutung von Arbeitskraft steigern. Entlassungen und Arbeitslosigkeit bei unzureichender sozialer Abdämpfung gibt es und wird es zur Zeit wirtschaftlicher Krisen verstärkt geben. Aber es gab und es gibt weiterhin keine gangbare Alternative zu Doi Moi. Abgesehen von der allgemeinen Abneigung gegen China, werden in der Bevölkerung die Nachteile der chinesischen Entwicklung gesehen. Schließlich erlebt sie Vietnam als eine neue Variante der Dominanz des nördlichen Nachbarn. Berichte und Analysen in den Medien sind häufig, gerne wird der "vietnamesische Weg" betont.


Vietnam - einfach etwas anders oder die Wiederkehr des ewig Alten?

Bewusste Sozialisten oder Kommunisten trifft man selten, und wenn, dann sind Nostalgiker darunter, die klagen, dass früher alles gleicher (= gerechter) war. Die jüngeren Jahrgänge gehören nicht dazu. Aber auch vom kapitalistischen System Überzeugte scheint es nur wenige zu geben.

Vietnamesen sind in dieser Frage Pragmatiker, gerade weil die Schwäche und Armseligkeit staatlicher Ordnungspolitik in der Vergangenheit keinen verlässlichen Schutz abgeben konnte. Aber der Pragmatismus bedeutet nicht Beliebigkeit und er bedeutet nicht, dass Wohlstand jeden Preis wert ist.

Es gibt ein allgemein verankertes Wertesystem, das diese Gesellschaft trägt und das auch von den Regierenden nicht straflos verletzt werden darf. Die Empörung über offene Korruption, nicht über kleine Gefälligkeiten, die jeder leistet und jeder nutzt, erfasst die Menschen in ihrer Gesamtheit und löst Grundsatzdebatten aus. Reichtum, den es in Vietnam sicher gibt, protzt nicht, er fließt eher in unauffällige Wertanlagen - Vietnam ist der drittgrößte Goldimporteur der Welt - und sorgt für die exquisite Schul- und Universitätsausbildung der Kinder im Ausland. Ansonsten geben Reiche ihr Geld lieber in Bangkok, wenn sie weniger reich sind, oder in Singapur, Hongkong, Europa oder den USA aus.

Das Glücksspiel ist immer noch jedem Vietnamesen verboten (und wird illegal betrieben), Drogen sind ein allgemeines Tabu und die "Zweitfrau" bleibt noch außergewöhnlich genug, um Gesprächsstoff ohne Ende zu bieten. Mit der Parteimitgliedschaft ist selbstverständlich nichts davon vereinbar, was für eine Reihe von Kadern wohl sehr anstrengend sein muss. Das Bild vom integren, moralisch einwandfrei und selbstlos handelnden Menschen, ob (sehr bescheiden verdienender) Verwaltungsbeamter oder Parteikader, wird zwar von vielen Gesprächspartnern belächelt, aber von niemandem - ganz anders als in China - mit Hohn und Spott bedacht.

Vietnam ist und bleibt auf nicht absehbare Zeit ein Land, in dem die Moral einen hohen gesellschaftlichen und persönlichen Rang besitzt. Dies speist sich aus so unterschiedlichen Quellen wie der konfuzianistischen und buddhistischen Tradition und Kultur, den Erfahrungen des gesamten letzten Jahrhunderts, dem Rigorismus der (veröffentlichten) sozialistischen Moral und nicht zuletzt dem Vorbild des "Vaters der Vietnamesen", Ho Chi Minh.

So altbacken und verkrustet, wie sie in vielen Einzelfällen auch daherkommt, sie bietet den Menschen in den Zeiten der Veränderung Stütze und Identifikation und sie verbindet Profiteure und Opfer des systemischen Wandels. Solange die Partei und ihre Gliederungen diesen gesellschaftlichen Konsens verkörpern und (mit-)gestalten, wird ihre Führungsrolle nicht in Frage stehen.


Die aktuelle Rolle Ho Chi Minhs, 40 Jahre nach seinem Tod

Ho Chi Minhs Bildnis, öfter die Altersbilder als die des jüngeren Mannes, prägen den öffentlichen Raum in Vietnam. Von Plakaten an Wänden und an Strommasten, an Häusern wie von Fahnentüchern herab grüßt er mit freundlicher Geste, milde lächelnd alle Passanten. Als Büste steht er in vielen Wohnungen, gerne auch neben einem christlichen oder buddhistischem Altar. Erfreulicherweise gibt es wenige Denkmäler von ihm: zum einen, weil die mir bekannten zumindest künstlerisch nichts taugen, zum anderen und wichtiger, weil sich seine Nachfolger wenigstens in diesem Punkt annähernd an sein politisches Testament gehalten haben. Niemand hat sich im Gespräch, auch wenn er die KP überhaupt nicht leiden konnte, negativ über Ho Chi Minh geäußert. Lieber sagt man gar nichts.

Denn er wurde als Wiedergeburt aller vietnamesischen Tugenden, nationaler, philosophischer, sozialistischer und sogar religiöser gesehen und so für die Nachwelt konserviert. Pierre Brocheux gibt an, dass Ho Chi Minh "zwischen dem Ende des ersten Indochinakrieges 1954 und dem Beginn des zweiten (ab 1960) ... in seinem Land zu einer Kultfigur (wurde), soweit man darunter versteht, dass man ihm durch Gedenkzeremonien huldigt, dass sein Konterfei in der Öffentlichkeit allgegenwärtig ist und dass man, indem man ihn in Versen und Kinderliedern verherrlicht, seine moralische und patriotische Vorbildfunktion hervorhebt." Der "Vater aller Vietnamesen" knüpft das große Band der Versöhnung, das niemanden mehr ausschließen mag.

Die boat-people und ihre Kinder kehren (besuchsweise) in ihre Heimat zurück, ebenso die Vertragsarbeiter, die in der DDR oder der CSSR tätig waren. Sie sind willkommen, ihre Investitionen sind es auch. Am Gesetz zur Wiedereinbürgerung, selbstverständlich unter Beibehaltung der jetzigen Staatsbürgerschaft, wird gefeilt. Land kann wieder erworben werden oder wird rückübertragen, wenn die Interessenten investieren, bauen und renovieren. Überall, selbst in den kleinsten Weilern, sieht man, wie neue Bauten hochgezogen oder alte erneuert werden.

Tempel, Pagoden, christliche Kirchen erstrahlen in frischen Farben, Auslandsgemeinden geben das Geld dazu Ho Chi Minh ist die Mensch gewordene Klammer, welche alle Gegensätze überbrückt und zusammenhält und niemand von keiner Seite stellt dies in Frage. Dies war nur um den Preis möglich, ihn seiner konkreten Rolle als Partei- und Staatsführer zu berauben und ihn zur Ikone, zum weisen Asketen, allumfassenden Philosophen, ja letztlich zum Heiligen zu befördern.


Fazit

Vietnam ist, wie ich zu zeigen versuchte, ein in vieler Hinsicht besonderes Land und die Kategorien Sozialismus oder kein Sozialismus passen nicht oder würden im besten Fall eine pro forma Entscheidung darstellen, die keinen Aussagewert besitzt. Was sollte auch daraus folgen? Ein Modellcharakter ist in der Gegenwart Vietnams nicht zu sehen und das scheint mir für die weitere Entwicklung des Landes auch günstig zu sein. Was hatte das Land von diesen dummen Sprüchen, ein, zwei oder gar viele Vietnams zu schaffen, die ohne jedes Nachdenken und ohne jede persönliche Konsequenz nachgeplappert wurden? Hat die welthistorische Niederlage der imperialistischen Hauptmacht die Linke in Europa beflügelt? Ich spreche nur davon, dass nicht einmal notwendige Hilfe und Solidarität für dieses zerbombte und zerstörte Land nach 1975 aufgebracht wurde in linken Kreisen. Der Vietkong war chic, solange er der schwächere Kriegsgegner war und der Preis, den er für die Sympathie im Westen zu zahlen hatte, war tödlich für ungezählte Kämpfer.

Vietnams Gesellschaft amalgamiert viele Einflüsse, vor allem die kulturellen und geschichtlichen, die seit 2500 Jahren vom großen Nachbarn im Norden ausgeübt werden. Zu diesen Einflüssen und Prägungen zählt der Nationalismus, traditionell in der Abwehrhaltung gegenüber China, der auch eine, wenn auch vielfach leidvoll gebrochene, Tradition von 1000 Jahren besitzt. Da werden die nicht einmal 150 Jahre französischer Kolonialismus beinahe schon zum flüchtigen Ereignis. Zu den Einflüssen auf Vietnam gehört mit Sicherheit auch der Sozialismus, wie ihn die Gründergeneration in Frankreich kennengelernt, aber vor allem in Indochina adaptiert hat. Deshalb sind die sozialistischen Elemente aber gerade nicht als praktische Umsetzungen theoretischer Forderungen zu sehen. Der sozialistische Einfluss kann Entwicklungen, zu denen die Gesellschaft traditionell neigt, stützen und Gegenbewegungen unter Kontrolle halten, weil dies von der Mehrheit getragen wird. So entsprechen sozialistischen Vorstellungen sicherlich das Vorhandensein von Gemeinschaftsbewusstsein, die wenig spezifische Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern und daher ein leichteres Aufbrechen von typischem Rollenverhalten, oder die Gleichheit als Wert, weil sie unter prekären Bedingungen das Leben und Überleben sichert.

Nochmals, das haben Sozialisten und Kommunisten nicht geschaffen, aber sie können und müssen sich darauf berufen. Andererseits hat das Jahrtausende anhaltende Leben als Reisbauern auf kleinen Parzellen eine Organisationsform erzeugt, die Gemeinschaft eben auch als Familienzusammenhalt in Abgrenzung zu anderen begreift. Kult und Aberglauben gehören dazu und wirken entsprechend auf das Bewusstsein. Die allmähliche Verstädterung, mit ihren Licht- und Schattenseiten, wird eine Veränderung einleiten und auch unser Bild vom tapferen, leidensfähigen und bedürfnislosen Bauernvolk hoffentlich auf den Misthaufen der Geschichte befördern. Die Vietnamesen haben jedes Recht der Welt auf ihre eigene Entwicklung.

Mit diesen Widersprüchen, die die Widersprüche in der materiellen Existenz begleiten, muss auch eine Kommunistische Partei mit fast 3 Millionen Mitgliedern (kann sich ein europäischer Linker überhaupt drei Millionen Kommunisten vorstellen? wie viele davon werden auch Kommunisten sein?) zurechtkommen und selbst bei allerbestem Willen sind der Aufklärung über altes Bewusstsein und der Schaffung von neuem enge Grenzen gesetzt.


Literaturhinweise:

Statistische Angaben sind verschiedenen Quellen entnommen (Fischer Weltalmanach 2009, The World Factbook Vietnam, Bundesagentur für Außenwirtschaft)

H. Opletal: Begegnung mit Vietnam 1975-1997
Ch. Esterhazy: Vietnam ist anders - statt eines Nachwortes (beide Beiträge in H. Opletal (Hrsg.): Doi Moi: Aufbruch in Vietnam. Ffm. 1999)

P. Brocheux: Ho Chi Minh - Bilder einer Ikone; aus: Vietnam (in: Aus Politik und Zeitgeschichte 27/2008 vom 30.6.2008)

President Ho Chi Minh's Testament (English translation); hg. vom Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Vietnams, Hanoi 2008

Duong Thu Huong: Roman ohne Namen, Zürich 1997 (lesenswert zur Situation im Kriegsalltag; zur Zeit leider nur antiquarisch zu haben)


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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 163, Frühjahr 2009, Seite 26 bis 30
Verleger: Thomas Gradl, Postfach 910307, 90261 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org

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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. April 2009