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ARBEITERSTIMME/308: Rußland heute - Der Linken Freund oder Feind?


Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Russland heute - Der Linken Freund oder Feind?
Versuch einer Zustandsbeschreibung

Von Hans Steiger


Wenn wir einer politische Beurteilung der russischen Föderation näher kommen wollen, müssen wir uns vorher einige Fragen stellen: Welches Land haben wir vor uns, welches Wirtschaftssystem prägt Land und Leute, was sind die Produktionsverhältnisse, die wirtschaftliche und soziale Lage, die Klassenverhältnisse, wie sind die politischen Zustände, wer hat die politische Macht, was sind die weltpolitischen Ziele?

Eine Minderheit innerhalb der deutschen Linken glaubt immer noch, dort Anklänge an 70 Jahre Sowjetzeit zu verspüren - das ist eine Illusion. Was geblieben ist, ist ein geschrumpftes Staatsgebilde, ist der geopolitische Fakt, sind handfeste Interessen dieser von Grund auf anderen Gesellschaft, als es die Sowjetunion war.

Die einst mächtige Sowjetunion war zweitstärkste Weltmacht, das Rußland von heute möchte dem wieder näher kommen, sieht sich aber einer Offensive des Westens gegenüber, Moskaus Europa- und Weltbedeutung zu mindern. Die USA sind erklärtermaßen dabei, die Schwäche des Landes zu nutzen und es als "Regionalmacht" einzugrenzen, wie es Präsident Obama deutlich ausgedrückt hat. Im Konflikt um die Ränder des Landes zur Rückgängigmachung des russischen Einflusses werden vom Westen selbst bedrohliche Konfrontationen in Kauf genommen, vor allem in schwankenden Ländern, wie die Ukraine es war. Um einen besseren Rückhalt für militärische Interventionen zu erhalten, an dem es bisher vor allem bei der deutschen Bevölkerung mangelte, wurde in den meisten Zeitungen und Fernsehstationen eine Propagandawalze gegen Rußland und Putin losgetreten, die manchmal bis zur Kriegshetze ging. Ähnlich wie im "Kalten Krieg" wurden linke Mahnungen und Stimmen übel diskreditiert. Putinversteher wurde zum Schimpfwort, obwohl eigentlich das Bemühen, etwas zu verstehen, ein Grundzug eines soliden Wissens ist. Besonders nach der Annektion der Krim, einer wichtigen Bastion am Schwarzen Meer, durch russische Truppen, brandete auch in der Linken die Frage wieder auf: Ist Rußland als Freund oder Feind zu betrachten?

Welchen politischen Charakter hat dieser Staat im Osten Europas?

Regionalmacht oder Weltmacht?

Die Russländische Föderation ist der größte Staat der Welt. Er hat über 140 Millionen Einwohner, davon 38 Millionen in Sibirien. Er besitzt ungeheuer viele Bodenschätze. Durch die Klimaveränderung kommt deren Ausbeutung noch vermehrte Bedeutung zu. Das BIP für 2014 wird mit 1,7 Billionen Dollar angegeben.

Moskau hat mit 360 Milliarden Dollar beachtliche Devisenreserven. Andererseits sind die Ausgaben von 38 Milliarden Dollar für Wissenschaft und Technik sehr niedrig. Mit etwa der Hälfte der Einnahmen aus der Öl- und Gasgewinnung konnte die Staatsfinanzierung bisher gesichert werden. 2014 hatte Rußland noch eine Rekordmenge von 525 Millionen Tonnen Erdöl gefördert.

Die Kapitalisten Rußlands tätigten gleich ihren Klassenkumpanen in den westlichen Ländern einen beachtlichen Kapitalexport. Im Jahr 2013 wurden russische Direktinvestitionen im Ausland in Höhe von 95 Milliarden Dollar vorgenommen. Das Land steht damit am Vierten Platz nach den USA, China und Japan. (Deutschland: 58 Milliarden Dollar). Nach Rußland flossen vom Ausland im selben Jahr 75 Milliarden Dollar. Die Verflechtung mit dem internationalen Kapital wird enger.

In den letzten Jahren wurde das russische Rüstungsbudget auf 70 Milliarden Dollar erhöht. Die Empörung darüber im Westen ist scheinheilig, wenn ein Vergleich mit den horrenden Militärausgaben der NATO-Staaten außer Betracht bleibt. Dann würde sich herausstellen, dass allein die USA das Achtfache, nämlich 581 Milliarden Dollar, aufwenden und z.B. die BRD schon 44 Milliarden Dollar ausgibt. Die militärische Bedeutung Rußlands liegt hauptsächlich in der Atombewaffnung und der Aufrechterhaltung der Zweitschlagfähigkeit.

Die Spaltung der Gesellschaft

Bei der Betrachtung der heutigen gesellschaftlichen Verhältnisse darf nicht vergessen werden, wie stark die historische Katastrophe nachwirkt: Infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion waren 25.000 Betriebe geschlossen oder verscherbelt worden. Das BIP sank rapide um 54 %! Eine Hyperinflation von 300-800 Prozent schlug sich in einer Massenenteignung nieder. Millionen von Menschen wurden in Arbeitslosigkeit und Elend gestürzt. Die soziale Infrastruktur fiel in sich zusammen.

Das war vor etwa 25 Jahren und bisher hat sich vieles weiterentwickelt, doch der Kapitalismus ging auch in Rußland seinen gewohnten Krisengang. Die Kluft zwischen Arm und Reich wurde immer größer. 80 Prozent der Menschen in der russischen Föderation leben in Armut. Fast 4 Millionen Bettler und 1,2 Millionen Prostituierte sind die Folge. Die Kriminalität ist außergewöhnlich hoch. Die Mordrate beträgt das siebenfache derjenigen der USA.

In Moskau sollen schon 33 Milliardäre leben und eine große Zahl von Millionären. Der Abstand zwischen Unten und Oben ist größer als in den USA.

Von den Lohnabhängigen sind 60 % in der Privatwirtschaft tätig, fünf Prozent in ausländischen Unternehmen. 29 % arbeiten in Staatsunternehmen oder im Öffentlichen Dienst. Sieben Großkonzerne produzieren 40 % des BIP. Am bedeutendsten, auch für den Export, ist die Öl- und Gasförderung, die mit der Kohleausfuhr 70 % des Exportes ausmachen. Neben Nickel, Stahl und Aluminium trägt die Rüstungsindustrie zu den Exportzahlen bei, die Metallindustrie zu 12 %.

Die Oligarchen haben im heutigen Rußland große Macht in der Wirtschaft und im Staat, sofern sie nicht, wie Chodorkowski, dem Kreml feindlich gegenüberstehen. Putin versucht, ihre Bedeutung herunterzuspielen: Die Oligarchen seine "keine Klasse mehr". Die Regierungspolitik ist, ähnlich wie im Westen, auf Förderung der Privatunternehmen ausgerichtet. Seit 2001 gilt eine ermäßigte Einkommensteuer von 13 % und die Arbeitsgesetze wurden verschlechtert. In den letzten Jahren wurden den Unternehmen Steuernachlässe gewährt. Es gibt eine Rückkehr zur stärkeren Zentralisierung. Durch eine Steueränderung wurde der Anteil der Regionen am Steueraufkommen von 70 % auf 50 % herabgesenkt.

Ein autoritäres Regime

Angesichts solcher Verhältnisse ist die herrschende Klasse zur Befriedung der Masse auf noch mehr Repression und Meinungsmanipulierung angewiesen als in den sogenannten bürgerlichen Demokratien des Westens. Das betrifft die linienförmige Ausrichtung des Fernsehens, der Presse, von Justiz, Polizei und Geheimdiensten. Gegenwärtig spricht man aber von Putins Kontrollverlust über Teile der Machtelite. Das Parlament hat nur geringen Einfluss. Es wird zudem beherrscht von zwei großen Parteien, die Parteigänger Putins sind. Ministerpräsident Medwedjew ist zugleich Vorsitzender der Kremlpartei "Einiges Rußland". Alle Parteien sind Vertreter eines chauvinistischen Nationalismus, Schirinowskis Rechtsradikale sowieso. Der Klerikalismus der russisch-orthodoxen Kirche wird auch von Putin hofiert. Nun will Putin sogar dem zaristischen Schlächter Stolypin ein Denkmal setzen.

Die russische "kommunistische" Partei verfügt über einen gewissen Wähleranteil. Was von ihr zu halten ist, erläuterte kürzlich die schweizer Parteizeitung Vorwärts: "Der Neo-Eurasismus ist in der russischen Politik verbreitet, auch in der 'kommunistischen' Partei. Bei deren Vorsitzendem Gennadi Sjuganow hat die Geopolitik den Marxismus längst abgelöst: in einem seiner Bücher erklärt er, der Konflikt zwischen den Zivilisationen sei heute wichtiger als derjenige zwischen den Klassen, der Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat sei in Rußland von demjenigen zwischen patriotischen EtatistInnen und antipatriotischen WestlerInnen abgelöst worden. Sjuganow operiert mit der im Nationalsozialismus populären Unterscheidung zwischen einer maritimen (atlantischen, liberalen-demokratischen, kommerziellen) und einer kontinentalen (russischen, gemeinschaftlichen-traditionellen) Zivilisation. Er geht dabei soweit, diese Zivilisation ethnisch zu fassen."

Putins autoritäres Regime bedeutet keine Alleinherrschaft. Gegenwärtig ist er im Volk weithin unangefochten, das zu 85 % hinter seiner Krim-Intervention steht. Der Präsident ist zugleich auch Moderator zwischen den Clans und Gruppen. Diese versuchen mitzuentscheiden und streiten um die Anteile an den Ressourcen. Die korrupte russische Elite ist ein Geflecht aus Interessengruppen und Bündnissen, die das Land überziehen. Die unterschiedlichen Oligarchen haben wirtschaftlich großen Spielraum, sofern sie sich politisch nicht mit dem Kreml anlegen. Am Chef des Yukon-Konzerns, Chodorkowski, wurde bekanntlich ein Exempel statuiert. Es soll nun schon 111 Milliardäre in Rußland geben.

Im letzten Jahrzehnt wurde die Zentralmacht Zug um Zug gestärkt. Eine Anzahl Regional-Gouverneure wurde durch Putins Gefolgsleute ausgewechselt. Die Erträge aus 10-15 % des BIP fließen direkt als finanzielles Rückgrat in den Kreml. Eine undurchsichtige Rolle spielt Tschetscheniens Präsident Kadyrow, der über eine Privatarmee verfügt. Auch der Geheimdienst FSB hat eine starke Stellung, wie auch der Chef der Rüstungswirtschaft, Tschenresow, und das Militär.

Soweit demokratische Strukturen überhaupt noch vorhanden sind, werden sie mehr und mehr abgebaut und Wahlen werden zur Farce. Oppositionelle, die sich zu weit Vorwagen, werden verfolgt und mundtot gemacht oder sogar umgebracht, von wem auch immer. Seit den Massenprotesten im Winter 2011/2012 scheint wenig Bewegung vorhanden zu sein. Entscheidend wird sein, ob die karge Existenzgrundlage für die Masse der Bevölkerung auch in der Krise weiterhin gewährleistet werden kann. Es gibt keine Anhaltspunkte für ein Wiederaufleben einer sozialistischen Arbeiterbewegung oder marxistischer Ansätze. Sie würden wohl schon im Entstehen unterdrückt. Selbst die barbarischen Zustände in der Armee sollen weiter bestehen.

Anklänge an den Kalten Krieg

Die Einschnürungspolitik der USA und der anderen NATO-Länder gegen Rußland hatte mit dem Umsturz und dem anschließenden Bürgerkrieg in der Ukraine einen dramatischen Höhepunkt erreicht. Das militärische Eingreifen Rußlands und die Annexion der Halbinsel Krim nahmen die Westmächte, einschließlich Deutschlands, dann zum Anlass, Wirtschaftssanktionen gegen Moskau zu verhängen. Sie betrafen Handels- und Finanzgeschäfte sowie Einreise-Verbote.

Mit einem Warenaustausch in Höhe von 330 Milliarden EUR ist die Europäische Union der wichtigste Handelspartner Rußlands. Bedeutet das für die EU nur ein Prozent der Wirtschaftsleistung, so sind es für Rußland immerhin 15 % des BIP. Mit einem Volumen von 76 Milliarden Euro und mit 300.000 Jobs sind über 6.000 deutsche Unternehmen von den Sanktionen betroffen. Deutschland bezieht 39 % seiner Gaslieferungen aus Rußland, die EU 25 % ihres Verbrauchs. Beim Erdöl deckt Deutschland 39 % seines Bedarfs aus Rußland; 31 % sind es bei der EU. Bis jetzt sind die Energie- und Rohstofflieferungen von den Sanktionen nicht berührt; umso mehr ist es der technische Sektor. Die Gegensanktionen treffen auch die deutsche Landwirtschaft. Manche Geschäftsbeziehungen drohen für immer verlorenzugehen. Der Siemens-Konzern hat gerade die Hälfte eines Ein-Milliarden-Auftrags eingebüßt. Die Schädigung ist beidseitig, doch trifft sie Rußland wesentlich härter. Es geht vor allem um den russischen Nachholbedarf an moderner Technologie, um Maschinen und Chemieprodukte. Kurzfristig hilft da auch keine stärkere Zuwendung zu dem BRICS-Block und auch nicht die Bildung einer "Eurasischen Union", in der Rußland, Kasachstan, Belarus, Armenien und Kirgistan eine Zollunion eingehen sollen, zumal Weißrußland in der Vergangenheit keine guten wirtschaftlichen Erfahrungen mit Moskau gemacht hat.

Zu den Sanktionen kam der rasante Absturz des Ölpreises am Weltmarkt, der Rußland ins Mark traf. Ob die "Fracking-Konjunktur" in den USA als Hauptursache gelten kann, ist schwer zu durchschauen. Der Ölpreis als politische Waffe? - Welch ein "Zufall", dass gerade jene Länder Hauptbetroffene sind, die mit dem amerikanischen Imperium im Konflikt liegen. Neben Rußland sind dies Venezuela (mit den Auswirkungen auf Kuba) und andere lateinamerikanische Länder sowie der Iran. Der Ölpreis ist im zweiten Halbjahr 2014 von 115 US-Dollar pro Barrel auf 60 Dollar (Sorte Brent) gefallen.

Rußland, sowieso schon am Rand einer Stagnation, fiel in eine ökonomische und soziale Krise. Eine Kapitalflucht setzte ein. Von in- und ausländischen Anlegern wurden 2014 80 Milliarden Dollar abgezogen und ins Ausland gebracht. Die Kapitalflucht hatte einen Rubelverfall zur Folge. Seit Mitte 2014 ist der Wert des Rubels um ein Drittel gesunken. Der Leitzins schoss auf 17 Prozent hoch. Im Januar stieg die Inflation auf 13 Prozent. Unternehmenspleiten und Inflationsschock bestimmten die missliche Lage. Die Importpreise schossen in die Höhe. Der Schmuggel bekam neue Nahrung. Jetzt soll der riesige Gazprom-Konzern von der EU-Kommission juristisch fertig gemacht werden mit einer Anklage wegen "marktbeherrschender Position" in den ehemaligen Ostblockländern.

Die Korruption durchzieht alle Ebenen der Gesellschaft. Die Menschen müssen für alle möglichen Anlässe illegale Zahlungen leisten, wie z. B. für angebliche Brandschutzbestimmungen. Es wird geschätzt, dass sich die Bestechungsgelder seit 2005 auf einige 100 Milliarden Dollar Verzehnfacht haben.

Der russische Finanzminister bezifferte die Mindereinnahmen aus dem Energiepreisdesaster für das letzte Jahr auf 100 Milliarden Dollar. Zusammen mit den Sanktionsschäden wären das etwa sieben Prozent des BIP!

Nationalistische oder internationalistische Außenpolitik?

Wie andere imperialistische Länder auch, vertritt die russische Föderation außenpolitisch, wenn es notwendig erscheint, ihre Interessen mit allen Mitteln, auch mit Krieg und Gewalt. Moskau hat gegen die Tschetschenen einen langen grausamen Krieg geführt, unterstützt das Regime in Syrien und hält dort ihren alten Marinestützpunkt besetzt. Die Waffenlieferungen gehen in alle Welt. Die Begrenzung von Interventionen liegt in der immer noch vorhandenen Schwäche der nachsowjetisch geschrumpften Föderation und in ihrer notwendigen Konzentration auf die Abwehr amerikanischer Eindämmungspolitik. Hat doch Obama öffentlich die Zurückstufung Rußlands auf den Status einer "Regionalmacht" als eine Hauptaufgabe der USA benannt. Führende Außenpolitiker haben mehrmals in den Vordergrund gestellt, es müsse jedes Aufkommen eines Rivalen zur Weltmacht USA verhindert werden. Das gilt für Rußland und China gleichermaßen. Man kann auch davon ausgehen, dass auch eine zu enge wirtschaftliche Verbindung von Europa und Rußland verhindert werden soll.

Die russische Föderation hält politisch und wirtschaftlich gute Verbindungen zu lateinamerikanischen Staaten mit linken Regierungen, auch mit Ländern, die in Konfrontation zum Westen stehen, wie dem Iran oder Kuba. Das hat aber nichts zu tun mit politischer Gesinnung oder gar internationaler Solidarität, dafür umso mehr mit weltpolitischer Konkurrenz. Beim Erlass der Restschulden Kubas durch Rußland hat wohl auch die Überlegung eine Rolle gespielt, dass das Geld sowieso nicht einzutreiben ist. Andere Gläubigerstaaten wie Japan haben sich ähnlich verhalten. Wie pragmatisch und prinzipienlos Moskaus Außenpolitik mitunter sein kann, lässt sich u.a. an der Unterstützung des "Front National" ablesen oder am Besuch Putins bei der rechtsradikalen Regierung in Ungarn.

Im Zug des Ukraine-Konflikts hatte Rußland die zuletzt zur Ukraine gehörende Halbinsel Krim annektiert und militärisch besetzt. Das fand bei der dortigen russischsprachigen Bevölkerungsmehrheit große Zustimmung. Bei der tatarischen Minderheit stieß die Wiedereingliederung auf Ablehnung. Die Halbinsel im Schwarzen Meer war fast 200 Jahre russisch gewesen und wurde in einem diktatorischen Akt von Chruschtschow einfach seiner Heimatrepublik Ukraine zugeschlagen.

Der Westen hat darüber eine gewaltige Propagandakampagne entfacht und Moskau "Völkerrechtsbruch" vorgeworfen. Das ist nach der UN-Charta zutreffend und keine Lappalie. Wenn dieser Maßstab aber juristisch nur auf einer Seite Anwendung finden soll, wird die Anprangerung parteiisch und zum politischen Schachzug der NATO-Staaten. Die Geschichte der imperialistischen Länder, besonders der USA, ist voll von gewaltsamen Einmischungen und Interventionen gegenüber anderen Staaten. Man braucht nur an den "big stick" gegen die lateinamerikanischen Länder zu denken und an die hunderte von Militärstützpunkten in aller Welt. Was ist mit der Folterhölle Guantanamo, mit der Zerstörung Gazas und der israelischen Behandlung von UN-Resolutionen? Die Kriege der USA und ihrer Verbündeten gegen Afghanistan, den Irak, Syrien, Libyen, den Jemen usw., die Chaos und Tod hinterließen, sollen wohl schon vergessen sein? Welche Konsequenzen gab es, als die Türkei Nordzypern besetzte?

Ursache und Wirkung sollen nicht verwechselt werden. Der Konflikt um die Krim ist Folge der Infragestellung eines seit 1990 bestehenden Status quo zwischen dem Westen und der neuen Russländischen Föderation. Nun versuchen die NATO-Staaten, Rußlands Ränder aufzubrechen, dort Truppen und Raketenabwehrsysteme zu stationieren, Flottenmanöver ins Schwarze Meer zu verlegen. Die westlichen Staatsmänner hatten einst Gorbatschow versprochen, keine Expansion der NATO nach Osten vorzunehmen. Diese Zusicherung gebrochen zu haben, kommt einer Kalten Kriegserklärung gleich.

Kommen wir zum Resümee: Ein bekannter Ausspruch, den sich auch manche Linke zu eigen machen, lautet: "Der Feind meines Feindes ist mein Freund." Wir können dem nicht pauschal zustimmen. Einmal, weil der Hauptfeind immer nur aus der jeweiligen gegenwärtigen Situation heraus zu ermitteln ist. In einer anderen geschichtlichen Phase kann sich die Festlegung dazu wieder ändern. Grundsätzlich sind, der Klassenlage nach, alle Ausbeutergesellschaften Feinde sozialistischer Bestrebungen. Spätestens, wenn sozialistische Bewegungen der herrschenden Klasse gefährlich werden, können diese zu Todfeinden werden. Es gab und gibt existenzbedrohende Ausnahmesituationen, wo es um Leben und Tod geht, wo der Satz dann zur Maxime werden muss. Das war z.B. die antifaschistische Kriegsallianz der Sowjetunion mit den kapitalistischen Westmächten. Damit ist aber immer auch eine Negativseite verbunden, wie die vorübergehende Aufgabe von Teilen des eigenen Selbstverständnisses, wie die der Widersprüche zum bisherigen Handeln und der eigenen weltanschaulichen Propaganda. Beim Hitler-Stalin-Pakt war es die verheerende Zurückstellung des Antifaschismus beim Kriegsbündnis mit den bürgerlichen Demokraten, die vorübergehende Negierung der Systemfeindschaft. Die Verwirrung und der Schaden in den eigenen Reihen waren groß.

In der Zeitschrift Theorie und Praxis (Jan. 2015) des orthodoxen Flügels der DKP wird zur "Solidarität mit Rußland und Putin" aufgerufen und geschlussfolgert: "Äquidistanz zu Rußland heißt Unterstützung des eigenen Imperialismus." Auch die KAZ-Gruppe hat diese Losung übernommen. Wir sind nicht der Meinung, dass die gegenwärtige russische Politik und die vorliegenden Fakten eine so weitgehende Schlussfolgerung zulassen - im Gegenteil, sie schaffen neue Illusionen. Was anderes ist es, Widersprüche innerhalb des kapitalistischen Lagers auszunutzen. Wir stimmen der Forderung von Willi Gerns (DKP) zu, "zwischen Rußland und den kapitalistischen Hauptmächten zu differenzieren". Den gegenwärtigen "Hauptfeind" sieht er "im US-Imperialismus und seinen Verbündeten". Willi Gerns stellt "die Besonderheiten Rußlands" heraus und stellt in Frage, ob Rußland "ein imperialistisches Land sei". Nun, Unterschiede gibt es immer. Wie die Fakten belegen, ist auch Rußland ein kapitalistisches Land und unterliegt den systembedingten Gesetzmäßigkeiten. Es besteht eindeutig eine krasse Klassenherrschaft mit Ausbeutung und Unterdrückung der lohnabhängigen Klassen. Es gibt eine Finanzoligarchie und die Wirtschaft wird von Monopolen beherrscht. Industrie- und Bankkapital verschmelzen immer mehr. Es findet Kapitalexport statt. Die Eigentums- und Produktionsverhältnisse sind kapitalistisch; sie werden durch das staatliche Machtmonopol garantiert.

Den sozialistischen Linken in Deutschland sollte klar sein, dass ihre Beziehungen zu Rußland keine generelle Festlegung zulassen. Freund oder Feind? - Darüber kann in jeder Phase der Entwicklung nur die konkrete Analyse einer konkreten Situation entscheiden; also die innen- und außenpolitischen Verhältnisse Rußlands und die politischen Ziele, die das Land gegenwärtig verfolgt.


Zahlen und Angaben stammen aus verschiedenen Quellen. Sollten Ungenauigkeiten oder Unstimmigkeiten aufgetreten sein, so deuten sie doch in etwa die Größenordnung an.

Quellen waren: Le monde diplomatique, New Left Review, Russland, Masch Bremen, DLF usw.


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildung der Originalpublikation:

Abb. S. 16:
Beschluss des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. Unter Nikita Chruschtschow wurde die Krim 1954 an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik angegliedert.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 188 - Sommer 2015, Seite 12 bis 16
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2015

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