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ARBEITERSTIMME/316: Wie der Kommunismus nach China kam - Teil 1


Arbeiterstimme Nr. 189 - Herbst 2015
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Wie der Kommunismus nach China kam

(Teil 1) - Eine Rekonstruktion revolutionärer Politik in China


Die Volksrepublik China hat eine der erstaunlichsten Geschichten des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts geschrieben. Gerade die Öffnung des Landes hin zu den entwickelten kapitalistischen Staaten und Regionen erfolgte auf spektakuläre Weise. Dies geschieht im "Reich der Mitte" historisch ohne Vorbild und erregt demzufolge weltweit größte Aufmerksamkeit. Das bevölkerungsstärkste Land der Erde (2013: 1360 Millionen Menschen) ist mit einer Dynamik in die Weltwirtschaft eingetreten, die vor einer Menschengeneration noch unvorstellbar war. Die Arbeiterstimme hat in den Anfangsjahren dieser Entwicklung eine ausführliche und immer noch lesenswerte Analyse der Umbruchszeit vorgelegt ("Um die Zukunft des Weltkommunismus. Zur Politik Chinas: Langer Marsch in den Kapitalismus?" Sonderheft Nr. 70 vom Oktober 1985).

Der "Lange Marsch" war damals noch mit einem Fragezeichen versehen, heute würden viele Sozialisten und Kommunisten gerne ein Ausrufezeichen dahinter setzen. In der Tat sind wesentliche kapitalistische Mechanismen bewusst zurückgeholt worden, diese haben nicht allein das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln als Systemprinzip aufgehoben. Wettbewerb und Konkurrenz traten an seine Stelle, Reichtum und Armut spalten - wieder - die Gesellschaft, Individualismus und Egoismus brechen sich Bahn, so dass sich sogar die Parteiführung der KPCh alarmiert zeigt. Ist es möglich, den Kapitalismus zu zähmen, ihn auf ein für die Gesellschaft, für die sozialistische Ordnung zuträgliches Maß zurecht zu stutzen? Ist diese Vorstellung überhaupt auf China anwendbar? Warum wird andererseits an den Formen sozialistischer Machtausübung, warum an der Parteistruktur festgehalten? Wozu dient unter den veränderten Bedingungen der Verweis auf den Marxismus? Kurz: warum ging die Führungselite nicht den Weg Osteuropas und der Sowjetunion und machte aus der KP eine "Reformpartei", die nicht nur ihren Namen ändert?

Diese Fragen (und die bisher nicht befriedigenden Antworten darauf) haben zur nachfolgenden Untersuchung geführt.

Das Jahrhundert des chinesischen Niedergangs

Das katastrophale 19. Jahrhundert, in dem innere Kämpfe und die äußere Bedrohung durch die imperialistischen Mächte vor allem Europas sich zu fortwährend blutigen Höhepunkten treiben, soll mit einigen statistischen Daten beleuchtet werden.(1) Im Jahr 1700 wird für China bei einem Anteil an der Weltbevölkerung von 23,3 % (entspricht ca. 138 Millionen Menschen) ein Anteil von 23,1 % des globalen Volkseinkommens angenommen. Die Vergleichszahlen für 1820 liegen bei 36,3 % der Weltbevölkerung (= 381 Millionen Menschen) und 32,4 % des Weltvolkseinkommens. Zwischen 1839, dem Beginn des ersten Opiumkrieges, und 1870, dem Tientsin-Massaker, das gegen christliche Missionare und christianisierte Chinesen gerichtet war, sinkt die Bevölkerungszahl in China um über 50 Millionen Menschen, d. h. um 13 %. Erst Ende des Jahrhunderts erreicht die Bevölkerungszahl wieder das Niveau von 1820. Noch dramatischer sinkt das Inlandsprodukt zwischen 1820 und 1890. Das chinesische Viertel der Weltbevölkerung erzeugt nur mehr ein Achtel der Weltproduktion. Im Zeitraffer verelendet ein Viertel der Menschheit.

Die industrielle Revolution in Europa sprengt die Grenzen der neuen Nationalstaaten, mit der Forderung nach Freihandel und nicht reguliertem Güteraustausch wird die Expansion in weitere Wirtschaftsräume vorbereitet.

China, das seit 1644 von der mandschurischen Qing-Dynastie beherrscht wird, ist diesem Ansturm nicht gewachsen. Karl Marx beschreibt 1853 die chinesischen Ereignisse so: "Was immer die sozialen Ursachen sein mögen, die zu den chinesischen Aufständen geführt (...), ausgelöst wurde dieser Ausbruch ohne Frage dadurch, daß die englischen Kanonen China das Rauschgift aufzwangen, das wir Opium nennen. Vor den britischen Waffen ging die Autorität der Mandschu-Dynastie in Scherben; das abergläubische Vertrauen in die Unvergänglichkeit des Reichs des Himmels brach zusammen; die barbarische hermetische Abschließung von der zivilisierten Welt wurde durchbrochen (...) Gleichzeitig begann die Silbermünze des Chinesischen Reiches, sein Herzblut, (...) abzufließen."(2)

Damit umreißt Marx das chinesische Dilemma im Grundsatz. Das Reich der Mitte ist längst nicht mehr fähig, den Handel mit Europa nach eigenen Regeln zu gestalten. Der kontrollierte Warenaustausch über den Monopolhafen Kanton hatte ab Mitte des 18. Jahrhunderts China einen bedeutenden Silberzufluss sichergestellt, der aus den Exportgütern Tee, Porzellan und Seide entsprang. Dieses für den chinesischen Staatsschatz günstige System zerbarst unter den Ansprüchen der East India Company auf Marktöffnung, die im Schutze britischer Freihandelsgesetze mit brachialen Mitteln durchgesetzt wurden. Die East India lieferte für den Tee Opium, das in der eigenen Kolonie Indien angebaut werden musste. Die Zufuhr von 325 Tonnen des Suchtgiftes im Jahr 1800 wurde bis 1839 auf 2600 Tonnen vervielfacht.(3)


Karl Marx äußert sich in der "New York Daily Tribune" vom 20. September 1858 zur Bedeutung des Opiums für den britischen Fernhandel:

"(...) während der Kaiser von China gleichzeitig die Einfuhr des Giftes durch die Ausländer und seinen Konsum durch die Einheimischen verbot, um den Selbstmord seines Volkes zu verhindern, verwandelte die Ostindische Kompanie den Opiumanbau in Indien und den Opiumschmuggel nach China sehr schnell in unabdingbare Bestandteile ihres eigenen Finanzsystems. Während der Halbbarbar das Prinzip der Moral vertrat, stellte ihm der Zivilisierte das Prinzip des Mammons entgegen. Daß ein Riesenreich, das nahezu ein Drittel der Menschheit umfaßt, das trotz des Fortschreitens der Zeit dahinvegetiert, durch künstliche Abkapselung vom allgemeinen Verkehr isoliert ist und es deshalb zuwege bringt, sich mit Illusionen über seine himmlische Vollkommenheit zu täuschen -, daß solch ein Reich schließlich vom Schicksal ereilt wird in einem tödlichen Zweikampf, in dem der Vertreter einer veralteten Welt aus ethischen Beweggründen zu handeln scheint, während der Vertreter der überlegenen modernen Gesellschaft um das Privileg kämpft, auf den billigsten Märkten zu kaufen und auf den teuersten zu verkaufen - das ist wahrlich ein tragischer Abgesang, wie ihn seltsamer kein Dichter je ersonnen haben könnte."


Neben den verheerenden Abhängigkeitsfolgen für Millionen von Menschen bedeutet der Drogenimport 1839 einen Abfluss von mehr als 1500 Tonnen Silber, der Deckungssumme für 50 % des chinesischen Staatshaushaltes.(4)

Das Verbot der Opiumeinfuhr war die logische Konsequenz, in dieser Frage raffte sich die kaiserliche Regierung tatsächlich noch einmal auf, ihre Autorität durchzusetzen. In Handelskontoren gelagertes Rauschgift musste zur Vernichtung freigegeben werden. Wenn sich die westlichen Kaufleute weigerten, ihren Besitz auszuliefern oder künftig auf den Handel zu verzichten, wurden sie des Landes verwiesen.(5)

Großbritannien nahm die Beschwerden ihrer Kaufleute als willkommenen Anlass, seine Freihandelsinteressen militärisch durchzusetzen. Die britische Flotte blockierte Kanton und drang nach Norden bis Peking, den Kaisersitz, vor. Mit den ersten "Ungleichen Verträgen"(6) endete der Krieg 1842, er leitete damit die Zwangsöffnung Chinas ein.

Damit war der Anfang gesetzt für die Einbeziehung der chinesischen Peripherie in die Weltwirtschaft einerseits, und die Konstituierung einer ersten, zahlenmäßig marginalen Arbeiterklasse in den Hafenstädten andererseits.

Die Sozialstruktur Chinas im 19. Jahrhundert: Anknüpfungspunkte einer linken Politik?

Im Zentrum des chinesischen Gesellschaftsverständnisses stand von jeher die Dynastie. Seit 4000 Jahren wurden die sinitischen Siedlungsgebiete von Königen und Kaisern regiert, das gilt für die dokumentarisch und für die archäologisch belegbaren Zeiträume gleichermaßen. Was China seit Jahrtausenden von, historisch späteren, europäischen Monarchien unterscheidet, ist die Tatsache, dass es seit der Han-Periode (206-220 v. unserer Zeitrechnung) von einer nichtaristokratischen Schicht von Beamtengelehrten regiert wird.(7) Der Feudaladel war also von den Schaltstellen der Macht weitgehend entfernt, stattdessen wurden bürokratische Lenkungsstrukturen eingezogen. Die Auswahl für diese Führungsschicht wurde über ein Prüfungssystem getroffen, das über die Jahrhunderte weitgehend unverändert blieb. Im Zentrum standen dabei das Moralverständnis und das Gesellschafts- und Staatskonzept des Konfuzianismus.(8)

Ein Großreich wuchs heran, das zwar von Kriegen und Teilungen nicht verschont blieb, das sich aber beständig als Einheit verstand. Sprache, Kultur, Gebräuche und vor allem die Schrift bilden die zentralen Merkmale dieser Gemeinsamkeit.

Nach außen schottete China sich fast durchgängig ab, Einfällen in das eigene Reich begegnete man mit Schutzmaßnahmen und war es Usurpatoren schließlich gelungen, dynastische Herrschaft über China zu erlangen, so wurden die Eroberer Teil der chinesischen Kultur. Dies galt für die Herrschaft der Mongolen (als Yuan-Dynastie, 1279-1368) genauso wie für die Herrschaft der Mandschuren (als letzte, die Qing-Dynastie, 1644-1911).

Was bedeutet das für die übergroße Bevölkerungsmehrheit? Existenzgrundlage Altchinas war der Ackerbau, für den das Schwemmland des Huanghe eine günstige Voraussetzung darstellte. Der notwendige Schutz vor Hochwasser begünstigte die Bildung von Dorfgemeinschaften, deren Basis ein kollektives Landnutzungsrecht war. Aus den Sippenverbänden in den Dörfern kristallisierten sich Familienstrukturen heraus. Und damit geht das agrarisch nutzbare Land vor mehr als 2000 Jahren langsam in (privaten) Familienbesitz über.(9) Aus den Abgaben für die Gemeinschaftsfelder, deren Erträge sich die Aristokratie angeeignet hatte, wurden ab dem 6. Jahrhundert v. d. Z. nach und nach Steuer- und Pachtabgaben. Die Konzentration des Besitzes hatte ihren Anfang gefunden.(10) In diesem Zusammenhang spricht Marx von der asiatischen Produktionsweise, die sich als vorkapitalistische Produktionsform vom (europäischen) Feudalismus darin unterscheide, "daß sowohl das Eigentum und die Surplusproduktaneignung, als auch der Besitz der Produktionsmittel nicht auf privater, sondern auf kollektiver Basis organisiert waren."(11)

Die Grundbesitzerklasse und die sie stützende und ergänzende Beamtenklasse im Dienste des Despoten, die beide vom Mehrprodukt lebten, stehen den Dorfgemeinschaften und Familienverbänden im schroffen Gegensatz entgegen.

Das Pachtsystem, das die einzige Überlebensgrundlage für das Gros der landlosen wie der landarmen Bauern bildete und deshalb gleichzeitig den Besitzern als vorkapitalistische Grundrente die Einkünfte sicherte, stellt die Basis der chinesischen Gesellschaft seit dem 8. Jahrhundert dar und bleibt die Basis bis in das 20. Jahrhundert.(12) Über den Grundbesitz differenzieren sich die sozialen Klassen auf dem Lande aus, dabei wird die agrarische Nutzfläche zu einem immer kostbareren Gut in dem Maße, in dem die Bevölkerungszahlen steigen. Die Landwirtschaft war sehr kleinräumig geworden.(13)

Die durchschnittliche Betriebsgröße in China lag Ende der 1920er Jahre bei unter 1,5 ha Land, von dem eine Familie und der Verpächter satt werden wollten. Es handelt sich sowohl im Norden, der Weizenanbauzone, wie im Süden, dem Reisanbaugebiet, weniger um Feld- als vielmehr um Gartenökonomie, welche die Landwirtschaft prägt.

Im 19. Jahrhundert waren die Betriebsgrößen zwar noch etwas günstiger, aber auch zu dieser Zeit steckte das Pachtsystem in einer Existenzkrise. Demzufolge begleiteten Revolten und Bauernaufstände das 19. Jahrhundert. Verglichen mit Europa lag der Urbanisierungsgrad in China 1820 bei der Hälfte", in den Städten ab 10.000 Einwohnern entstand während des Jahrhunderts kaum Industrie, also auch keine Industriearbeit.

Den Existenzdruck konnten Klein- und Mittelbauern, d. h, Familien mit etwa zwei Hektar Land, über Jahrhunderte dadurch mindern, dass sie neben der Landwirtschaft auch Klein- und Handwerksproduktion betrieben. Diese Produktionsform in Familienarbeit sorgte für einen hohen Selbstversorgungsgrad auf dem Lande, ein notwendiges Maß an Zusatzeinkommen und sie bildete ein Hindernis für die gesellschaftliche Arbeitsteilung aus. Städtische Siedlungen blieben, mit wenigen Ausnahmen, klein, die Notwendigkeit des Warenaustausches war regional begrenzt.

Durau konstatiert für das 19. Jahrhundert, dass sich in den Städten eine Waren- und Geldwirtschaft entwickelte, die Akkumulation von Handelskapital stattfand und im Bergbau und in Manufakturen Vorformen einer industriellen Produktion entstanden. Trotzdem kommt er zu dem Schluss, "das überkommene ökonomische Fundament der chinesischen Gesellschaft, die bäuerliche Eigenbedarfswirtschaft" sei "noch nicht unterhöhlt"(15) gewesen.

Institutionell, technologisch, militärisch und politisch ist China den Imperialisten aus Europa nicht gewachsen. Altbewährte Methoden, mit Fremdherrschaft fertig zu werden, indem die Usurpatoren sinisiert und akkulturiert werden, fruchten nicht bei Handelskompanien, die keine Regierungsgewalt, sondern Profite suchen. Rücksicht wird auf die chinesische Situation nicht genommen. Stattdessen nutzen die Handelskontore im Zusammenspiel mit der britischen Regierung jedes Nachgeben, jedes Entgegenkommen des Kaiserhauses rücksichtslos, um weiter gehende Ansprüche durchzusetzen. Gegenmaßnahmen wie die Konfiskation von Opium durch chinesische Regierungsstellen dienen als Anlass, um militärisch zu intervenieren. Großbritannien entsendet sechzehn Kriegsschiffe, besetzt Hongkong sowie die Mündungen mehrerer Flüsse und beschießt Hafenstädte an der Südküste. 1842 ist China gezwungen im Vertrag von Nanking den ersten der "Ungleichen Verträge" zu unterzeichnen. Darin werden unter anderem die Abtretung Hongkongs an das Vereinigte Königreich, die Öffnung weiterer fünf Häfen für den englischen Handel und eine horrende Geldentschädigung vereinbart.(16)

Die damit einhergehende weitere Schwächung der kaiserlichen Zentralgewalt hat für die Bevölkerung die dramatischsten Folgen. Das Anlegen von Nahrungsmittelreserven, die Erhaltung der Transportwege und der Deiche, die Verteilung von Lebensmittelvorräten zu festgesetzten Preisen sind bisher wesentliche Aufgaben der Zentralgewalt, die sie von Jahr zu Jahr immer weniger erfüllen kann. Überschwemmungen und weitere Naturkatastrophen weiten sich unter diesen Bedingungen zwangsläufig zu regionalen und landesweiten Hungersnöten aus. Bis zu zehn Millionen Menschen verhungern in den Jahren 1877/79.

Die prekäre Existenz in den Dörfern wird nachhaltig erschüttert, als einheimische Produkte, zum Teil in Zuverdienstarbeit gefertigt, von vor allem britischer Importware verdrängt werden.(17) Die Landarmut und die wachsende Konkurrenz durch ausländische Produkte gefährden die Existenz der Bauernschaft im Kern, verschärft wird die Krise durch das Versagen der Zentralmacht und, als Ausdruck dieses Versagens, die ungehinderte Missionstätigkeit vorwiegend fundamentalistischer westlicher Christen. Die gleichermaßen innere wie äußere Bedrohung ist Ausgangspunkt einer Kette tiefer Verstörungen und Katastrophen im Lande.

Der Zusammenbruch des bisherigen Regierungssystems, nach Tausenden von Jahren, steht am Ende dieser Entwicklung. Das Kaisertum ist 1911 personell und politisch unfähig, materiell am Ende, bündnispolitisch zwischen allen Stühlen und moralisch desavouiert wie niemals zuvor in der Geschichte. Und deshalb stürzt es. wohlgemerkt, das Kaiserreich geht während des Zeitraums eines Menschenalters unter, Not und Verderben kennzeichnen diese Epoche. So sind etwa der Taiping-Aufstand ab 1851 oder der Kampf der "Bewegung der Verbände für Gerechtigkeit und Harmonie", der Sogenannte Boxeraufstand 1900/01, Ausdruck der unhaltbaren Zustände im Reich.

Ab Mitte des 18. Jahrhunderts war die Bevölkerungszahl erheblich gestiegen, dies bedeutete zwischen 1700 und 1820 annähernd eine Verdreifachung der Bevölkerung. Die Mandschu hatten ihre Macht im Reich nach langen Kämpfen gegen die Anhänger der Vorläuferdynastie endgültig gesichert und durch landesweite militärische Präsenz augenfällig gemacht. Diese "Ordnung" sorgte für Ruhe im Land und ließ das Interesse der Dynastie an der Expansion Chinas wachsen. Tributleistungen anderer Völker und Länder verschafften dem Kaisertum wiederum den Spielraum, die Tributpflicht im Kernland zu reduzieren. Anbaumethoden, Gerätschaften und die kollektive Organisation zur Steigerung des landwirtschaftlichen Ertrages waren traditionell in China hochentwickelt gewesen, weitere Fortschritte vor dem Zeitalter der Mechanisierung und Technisierung blieben zwangsläufig bescheiden und die steigende Bevölkerungszahl konnte nur zum geringen Teil mit einer Ausweitung der Anbauflächen kompensiert werden. Das Pachtverhältnis auf dem Lande war nach wie vor für die Mehrheit der Bevölkerung bestimmend.(18) Diese Pacht wurde häufig noch in der Form von Naturalabgaben und Arbeitsleistung abgeführt und umfasste zwischen 40 und 60 % des Ernteertrages.(19) Selbst die einfache Reproduktion war deshalb für viele Pächter gefährdet, eine erweiterte Reproduktion, die Entstehung von Akkumulationskapital war ausgeschlossen.

Diese Klasse blieb, obwohl formal frei, an die überkommenen Verhältnisse im Dorf gekettet und suchte verzweifelt Auswege aus ihrer Situation. In das Vakuum, das eine gegenüber den Europäern hilflose und durchsetzungsschwache Zentralgewalt erzeugte, strömten Heilsversprecher unterschiedlicher Art ein. Sie schufen regionale und darüber hinausgehende nationale Massenbewegungen, so etwa im Taiping-Aufstand. Ohne die genaueren Umstände dieser Bewegungen zu untersuchen, kann man festhalten, was sie so offensichtlich attraktiv machte. Das "Himmlische Reich des Großen Friedens", das als Neukonstruktion des alten China errichtet werden sollte, ist eine Aufbau-Vision im Zeitalter des Verfalls. Der "Große Friede" wurde ausdrücklich auch als sozialer Friede verstanden, wobei die Klassenlosigkeit der Gesellschaft wie die Gleichberechtigung der Geschlechter Forderungen an der Oberfläche blieben. Immerhin begann man das Binden der (Frauen-)Füße zu untersagen, Drogen und Kriminalität im Umfeld der Drogen zu unterbinden sowie Privat- in Gemeinschaftseigentum (als Stellvertretung des christlichen Gottes) umzuwandeln und/oder neu zuzuweisen. Doch blieb auch das alte Pachtsystem erhalten. In die Klassenbeziehungen wird korrigierend eingegriffen, der Gegensatz zwischen den Klassen existiert aber nach wie vor weiter. Die Taiping-Bewegung ist auf einen moralisch guten Führer gerichtet: Hong Xinquan war als Angehöriger einer Minderheit an der Verwirklichung seiner beruflichen Ziele gehindert worden und ließ sich daraufhin von der Lehre des (erfolgreichen) Westens, dem Christentum evangelikaler Ausprägung, beeindrucken. Diese Modernisierung zielt auf die Gleichheit der Perspektivlosen und verlangt allen gemeinsam Opfermut und Verzicht, aber für ein lohnenswertes Ziel, ab. Der Gegner, das mandschurische Kaiserhaus, war ausgemacht und sollte beseitigt werden, ohne die Vorstellung vom Kaisertum selbst aufzugeben. Menschen gerade aus den unteren Schichten, Angehörige von ethnischen Minderheiten erkämpften sich zwischen 1851 und 1864 die Kontrolle über beinahe ein Drittel des chinesischen Reichsgebietes, weil sie gebrochen hatten mit den alten Verhältnissen und sie nicht zurück konnten oder wollten. In äußerst gewalttätigen Auseinandersetzungen wurde dieser Krieg um die Umwälzung der überkommenen Gesellschaftsordnung geführt, Gnade kannten dabei beide Seiten nicht.

Kaiserliche und Provinztruppen örtlicher Militärbefehlshaber wurden genauso ausgelöscht wie im umgekehrten Fall aufständische Massenheere. Die Städte des jeweiligen Feindes wurden nach der Einnahme rücksichtslos "gesäubert". Die Zahl der Getöteten in diesem Zeitraum wird zwischen 20 und 30 Millionen Menschen veranschlagt, eine Ziffer, welche die Opferzahlen des I. Weltkrieges erreicht. Dass die verhassten Mandschu schließlich die Oberhand behielten, ist Resultat der institutionellen Schwäche der aufständischen Kräfte, die ohne einheitliche Führung, ohne gemeinsame politische Konzepte blieben bis zum vernichtenden Ende. Schließlich bekämpfte man sich, in heillosen, meist religiös unterlegten Richtungskämpfen verstrickt, selbst. Die Ausweglosigkeit der Lage ließ die Führer der Bewegungen zu Forderungen nach unbedingtem Gehorsam und der immer fundamentaleren Auslegung der jeweils reinen Lehre greifen. Bündnisse vor allem mit den städtischen Klassen, um die Kaiserherrschaft und ihre militärische Basis zu beseitigen, kamen unter diesen Bedingungen nicht zustande. Stattdessen suchte die Gentry aus den Städten Schutz vor den Aufständischen bei britischen und französischen Truppen, an die sich nach 1860 auch der Kaiser gewandt hatte. Im Zusammenwirken mit den imperialistischen Nationen war es dem Kaiserreich noch einmal gelungen, die Macht im Lande zu behalten. Doch fand dieser Koloss auf tönernen Füßen nicht mehr die Kraft, eine chinesische Moderne einzuleiten.(20)

Der Zustand der Revolution, der im 19. Jahrhundert mehrmals erreicht war, sollte letztlich die Fremdherrschaft der Mandschu beenden. Die Dynastie hatte nach allgemeiner Auffassung ihre Aufgabe, "das Mandat des Himmels" zu verwalten, nicht erfüllt und musste abgelöst werden. Sie war nicht mehr in der Lage, die territoriale Einheit des Reiches und die physische Existenz seiner Bewohner, damit das konfuzianische Normensystem aufrecht zu erhalten.(21) Nicht gegen das Reich und seine gesellschaftliche Ordnung erhoben sich die Massen, sondern gegen die herrschaftliche Gefährdung dieser Ordnung. Das nimmt der revolutionären Bewegung nichts an Schärfe oder Erbitterung, und sie ist zum Äußersten entschlossen, doch muss man auf der anderen Seite feststellen, dass die Bedingungen für eine gesellschaftsverändernde Umwälzung noch nicht herangereift waren. Das Eigentumsrecht am Land und an den Produktionsmitteln war phasenweise und auf lokaler Ebene verändert worden, ohne die Pacht als solche abzuschaffen. Eher humanitär-religiöse Gründe waren dafür verantwortlich, das Eigentum wurde aber nicht als Hebel zur Veränderung der Sozialordnung wahrgenommen. Die Arbeiterklasse war zahlenmäßig nur marginal existent, deren Bildungsstand verschwindend gering und ein Klassenbewusstsein nicht vorhanden. So radikal und in eine sozialistische Richtung vorwärtstreibend manche Forderungen und Umsetzungsschritte anmuten, wenn man die überlieferten Äußerungen ansieht, so beschränkt und erfolglos mussten sie unter den vorhandenen Bedingungen bleiben.


Anmerkungen

(1) zitiert nach: Maddison Historical GDP Data
http//www.worldeconomics.com/Data/MadisonHistoricalGDP/Madison%20Historical%20GDP%20Data.efp

(2) MEW Bd. 9, 95f.

(3) Rainer Hoffmann: Geschichte in: Brunhild Staiger (Hrsg): Länderbericht China Darmstadt 2000, 57

(4) ebd.

(5) Pankaj Mishra: Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens. Frankfurt 20144, 38f.

(6) Christoph Müller-Hoßtede: Reich und rastlos? Chinas Aufstieg in der internationalen Ordnung. in: Fischer/Müller-Hofstede (Hrsg.): Länderbericht China. Bonn 2014, 822

(7) Hofmann: ebd., 7

(8) eine Erläuterung der wesentlichen Prinzipien des Lehrmeisters Kong Qiu würde den Rahmen und die Intention des Artikels verändern, deshalb wird hier darauf verzichtet

(9) Richard Lorenz: Die traditionale chinesische Gesellschaft. in: ders. (Hrsg.): Umwälzung einer Gesellschaft. Zur Sozialgeschichte der chinesischen Revolution (1911-1949). Frankfurt 1977, 14f.

(10) ebd., 29

(11) eine gute Zusammenfassung zum Begriff der Asiatischen Produktionsweise gibt Jannis Milios: Der Marxsche Begriff der asiatischen Produktionsweise und die theoretische Unmöglichkeit einer Geschichtsphilosophie. in: Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge 1997, 103ff.

(12) formal bedeutete die Pachtbeziehung ein Vertragsverhältnis zwischen juristisch freien Personen, Vertragsende und Pächterwechsel war also (juristisch) möglich. De facto waren die sozialen Beziehungen vorn Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnis zu Lasten der Pächter bestimmt. (vgl. Lorenz: ebd., 59ff.)

(13) ein chinesischer landesweiter Untersuchungsbericht, der von Mitgliedern der KP und der Guomindang 1927 veröffentlicht wurde, kommt zu folgenden Ergebnissen über die Bodenverteilung des Landes: (zitiert nach: Joachim Durau: Die Krise der chinesischen Agrarökonomie. in: Lorenz: ebd., 132)

(14) vgl. Fußnote 1; der Urbanisierungsgrad in China 1820 hatte den Wert in Europa aus dem Jahr 1500

(15) Durau: Die Krise der chinesischen Agrarökonomie, 94

(16) Runhild Böhm: Englands Opiumkriege in China. Tübingen 2000, 12

(17) Karl Marx schildert die Folgen der Handelsverträge aus der Sicht der englischen Handelsbourgeoisie mit umgekehrten Vorzeichen: "Nach einem sorgfältigen Studium der Geschichte des chinesischen Handels kamen wir zu der Meinung, daß im allgemeinen die Konsumtionsfähigkeit und die Kaufkraft der Bewohner des Himmlischen Reiches stark überschätzt worden ist. Bei der gegenwärtigen ökonomischen Struktur der chinesischen Gesellschaft, deren Angelpunkt die in kleinste Parzellen zersplitterte Landwirtschaft und das Handwerk ist, kann von einer nennenswerten Einfuhr ausländischer Waren gar nicht die Rede sein. Immerhin könnte China bis zu einem Betrag von 8.000.000 Pfd. St., nämlich der Summe, die grob geschätzt die Gesamtbilanz zugunsten Chinas gegenüber England und den Vereinigten Staaten bildet, allmählich einen Überschuß englischer und amerikanischer Waren aufnehmen, dies jedoch nur, wenn der Opiumhandel unterdrückt wird. Zu dieser Schlußfolgerung gelangt man zwangsläufig, wenn man die einfache Tatsache feststellt, daß die chinesischen Finanzen und die Geldzirkulation trotz der aktiven Handelsbilanz durch den Import von Opium zum Betrage von etwa 7.000.000 Pfd. St. ernsthaft zerrüttet sind." in: MEW 12, 569

(18) Lorenz: ebd., 66; der Anteil der Pächter an der Landwirtschaft treibenden Bevölkerung betrug insgesamt 45 bis 50%, in den zentralen und Südprovinzen sogar 70 bis 75%

(19) Lorenz: ebd., 67

(20) eine umfassende Darstellung des Taiping-Aufstandes fehlt, zumindest auf Deutsch

(21) Lorenz: ebd., 39

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Abbildungen der Originalpublikation im Schattenblick nicht veröffentlicht.

Alle Bilder in diesem Artikel sind Ausschnitte der Skulpturen-Installation "Der Hof für die Pachteinnahme".

Die aus mehr als 100 lebensgroßen Figuren bestehende Skulpturengruppe zählt zu den wichtigsten Werken der modernen chinesischen Kunstgeschichte und ist fest im kollektiven Gedächtnis Chinas verankert. 1965 von Lehrern und Absolventen der Hochschule der Künste Sichuan in Chongqing als ortsspezifische Installation auf dem ehemaligen Anwesen eines Großgrundbesitzers in Chengdu (Hauptstadt der Provinz Sichuan), geschaffen, wurde die Figurengruppe bald zu einem Musterkunstwerk der Kulturrevolution. In einer dramatischen Szenenfolge, die traditionelle chinesische, sowjetische und westliche Elemente zusammenführt, stellt sie die erbarmungslose Ausbeutung der Landbevölkerung durch einen reichen Grundbesitzer dar. (zitiert nach wikipedia.org)

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 189 - Herbst 2015, Seite 17 bis 22
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
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Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2015

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