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ARBEITERSTIMME/344: Ist die Türkei auf dem Weg zum Faschismus?


Arbeiterstimme Nr. 194 - Winter 2016
Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Ist die Türkei auf dem Weg zum Faschismus?


Die Ereignisse in der Türkei überschlagen sich. Das Land befindet sich seit Jahren im Bürgerkrieg. Das Recht auf freie Meinungsäußerung stand schon vor dem Putsch unter Vorbehalt, missliebige Äußerungen wurden mit Anklagen, Geld- und Gefängnisstrafen oder Schließung der entsprechenden Medien bekämpft, gewählte BürgermeisterInnen abgesetzt, ganze Rathäuser unter Zwangsverwaltung des Staates gestellt. Auch das Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und das Streikrecht standen schon immer nur auf dem geduldigen Papier. Gerichtsurteile wurden von den Herrschenden offen ignoriert, das bekannteste Beispiel ist der Präsidentenpalast, der ein Schwarzbau ist.

Erdogan wurde im August 2014 zum Staatspräsidenten gewählt. Bis dahin waren die Staatspräsidenten vom Parlament gewählt worden und hatten neben der repräsentativen Rolle als höchste Vertreter des Staates nur symbolische Macht, wie die Regierungsbildung zu beauftragen und das Abnicken von Gesetzen. Ein Staatspräsident musste überparteilich sein, d.h. er legte nach seiner Wahl Parteiämter nieder und ließ seine Mitgliedschaft ruhen und durfte sich nicht in die Tagespolitik einmischen.

Mit Erdogan wurde dies alles anders. Schon zuvor war das Wahlgesetz so geändert worden, dass der Präsident direkt gewählt werden konnte. Das Ziel war klar, die Regierungsform der Türkei sollte in ein Präsidialsystem umgewandelt werden, in Erdogans Worten "nach türkischen Art", was das auch immer sein sollte. Die Direktwahl sollte ihm möglichst günstige Startbedingungen verschaffen, was ihm auch gelang. Er bekam 51,6 Prozent der abgegebenen Stimmen. In der Folgezeit hielt er sich nicht an die Gepflogenheiten und Gesetze, die die Tätigkeit eines Staatspräsidenten beschreiben, mischte sich ins Tagesgeschäft, brüskierte den Ministerpräsidenten, machte Wahlkampf für die AKP und forderte immer lauter die Verfassungsänderung zu einem Präsidialsystem.

Nach dem gescheiterten Putsch hat Erdogan nun endgültig alle Macht an sich gerissen und regiert das Land seitdem mit Präsidialdekreten. Die wesentlichen Tatsachen sind bekannt: zehntausende Beschäftigte des öffentlichen Dienstes sind entlassen, Tausende sitzen in U-Haft ohne Anklage, hunderte Zeitungen, Zeitschriften, Sender sind geschlossen worden; daneben Kindergärten, Schulen, Universitäten; Vereine und Gewerkschaften sind verboten worden, in der Regel ohne dass die Betroffenen einen formellen, juristischen Beschluss bekommen hätten.

Zusätzlich wurden über 500 Betriebe, die angeblich den Putschisten/Terroristen gehören sollen, in eine Treuhandgesellschaft überführt. Alleine die beschlagnahmten 62.000 Immobilien sind vermutlich mehrere Milliarden Euro wert. Dazu kommen die Maschinen und Rohstoffe/Lagerbestände, diverse Luxusgüter, Aktienfonds, Guthaben auf den beschlagnahmten Privat- und Geschäftskonten, Bargeld, Schmuck ... Es ist zur Zeit nicht möglich das ganze Ausmaß der Enteignung in Geld auszudrücken, aber es ist eine große Ausplünderung der einen Kapitalfraktion durch die andere.

Bisher werden diese Betriebe durch den von der Regierung eingesetzten Treuhänder verwaltet, irgendwann werden sie wieder "reprivatisiert", wer dann zum Zuge kommen wird, werden wir sehen. Das Umfeld vom Staatspräsidenten wird nicht zu kurz kommen, vermutlich werden auch die "alten Kapitalgruppen" einiges abbekommen, damit es nicht zu sehr nach Vetternwirtschaft aussieht.

Als Grund für dieses Vorgehen wird pauschal der Putschversuch durch die "FETÖ" genannt, die "Fettullah-Terrororganisation". Seit sich Erdogan mit dem Islamisten Gülen entzweit hat, lässt er das Gülen-Netzwerk nur noch so nennen.

Der Putsch

Wir stellen nicht alle Einzelheiten dar, die wesentlichen Abläufe sind auch in den hiesigen Medien berichtet worden. Tage nach dem Putsch gab das Oberkommando der Armee bekannt, dass es am Putschtag um 12 Uhr vom MIT (Türkischer Geheimdienst) über den bevorstehenden Putsch informiert worden sei.

Hier eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse:

Am 15. Juli, gegen 22:00 Uhr besetzen in Istanbul und Ankara die Militärs mit einigen Panzern und Fahrzeugen öffentliche Plätze und Brücken, die Kasernen der paramilitärischen Polizeieinheiten und das Parlamentsgebäude werden durch Kampfflugzeuge und Hubschrauber beschossen. Vor dem Istanbuler Flughafen fährt ein Panzer vor und einige Soldaten postieren sich davor. Alle privaten und öffentlichen Sender können weiter senden und berichten live von dem Putsch, keiner der regierenden Politiker ist festgesetzt. Erst gegen Mitternacht wird ein staatlicher Fernsehsender besetzt und die Nachrichtensprecherin muss die Erklärung der Putschisten verlesen. Ein Rat des "Friedens im Land" hätte die Macht übernommen, um die verfassungsmäßige Ordnung, die Menschenrechte, den Rechtsstaat und die öffentliche Sicherheit wiederherzustellen.

Noch in der Nacht bekommen alle Mobiltelefonbesitzer eine SMS von Erdogan, worin er die Menschen aufruft für die "legitime Regierung und die Freiheit im Land" einzutreten. Ab ein Uhr in der Nacht wird von den Minaretten an die Bevölkerung appelliert, sich auf den Straßen und Plätzen zu versammeln um die Demokratie zu verteidigen. Allein diese beiden Ereignisse zeigen, dass die Regierung wohl auf den Putsch vorbereitet war.

Im Morgengrauen wird klar, dass der Putsch gescheitert ist, auch wenn noch einige Schießereien fortdauern. In der Putschnacht starben nach Regierungsangaben über 260 Menschen, davon 173 Zivilisten. Unmittelbar nach dem Putschversuch kündigte Erdogan "Säuberungen" an und nannte den Putschversuch "ein Geschenk Gottes".

Offiziell wird als Urheberin des Putsches die Gülen-Bewegung genannt. Sie hätte die "ruhmreiche türkische Armee infiltriert". Was meiner Ansicht nach Unsinn ist. Vermutlich standen einige hohe Militärs tatsächlich dieser religiösen Gemeinde nah, dass sie aber die Armee unterwandert hätte, ist weit hergeholt. Der Putschversuch scheint eher von einem informellen Bündnis aus verschiedenen Kreisen getragen werden zu sein: unzufriedene, von der Entlassung bedrohte rechtskemalistische Militärs, Gülen-Anhänger in der Verwaltung usw.

Alle politischen Kräfte und im türkischen Parlament vertretenen Parteien verurteilten den Putschversuch noch in der Nacht.

In der ersten Säuberungswelle wurden tausende Militärs - darunter ein Drittel der Generäle -, Polizisten, Richter und Staatsanwälte festgenommen. Es folgten zehntausende Entlassungen der Beschäftigten in der Verwaltung und Bildung. Diese Maßnahmen waren offensichtlich schon zuvor geplant und die "schwarze Listen" schon angelegt gewesen, wie verschiedene Regierungsangehörige bestätigen.

Putsch nach dem Putsch

Waren diese ersten Repressionswellen gegen vermeintliche Gülen-Anhänger und Putschisten gerichtet, wurden bald auch andere Oppositionelle zum Ziel - Journalistinnen und Journalisten und Mitglieder der HDP wurden festgenommen, über zehntausend Mitglieder der Bildungsgewerkschaft Egitim-Sen aus dem Schuldienst entlassen.

Schon am nächsten Tag rief die Regierung die Bevölkerung dazu auf, allabendlich auf den öffentlichen Plätzen "Demokratie-Wachen" zu veranstalten. Ein Dekret forderte die Kommunen auf, bis auf weiteres die öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos zur Verfügung zu stellen, damit möglichst viele an diesen Kundgebungen teilnehmen können. Erst nach drei Wochen beendete Erdogan die "Demokratie-Wachen".

Waren in der Putschnacht, außer dem harten Kern der AKP-Anhänger, Dschihadisten und Grauen Wölfen kaum Menschen auf der Straße, konnte die Regierung jetzt auch ihre Wählerinnen und Wähler mobilisieren.

Am 21. Juli wurde der Ausnahmezustand über die ganze Türkei verhängt und Anfang Oktober für drei Monate verlängert. Seitdem regiert Erdogan mit Verordnungen am Parlament vorbei. Alle Maßnahmen wie Verbote, Beschlagnahmungen usw. beruhen auf diesen Verordnungen mit Rechtskraft.

Die Opposition existiert faktisch nicht mehr. Die kemalistische CHF ist in sich gespalten, schwankt zwischen Verteidigung der letzten bürgerlichen Rechte in Parlament und Gesellschaft und der Unterstützung der AKP in ihrem Kriegskurs gegen die kurdische Bewegung. Die faschistische MHP ist in faktischer Koalition mit der AKP, unterstützt Erdogan in seinem Streben nach Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem und seinem brutalen Vorgehen gegen die Opposition.

Die HDP, geschwächt durch die Festnahmen und Zwangsverwaltung der von ihr regierten Rathäuser, ist mittlerweile gesellschaftlich isoliert. Zehn ihrer Abgeordneten und der Parteivorsitzende wurden ebenso wie hunderte Politikerinnen und Politiker der Partei ins Gefängnis geworfen. Außerdem wurde die Immunität fast aller ihrer Parlamentsabgeordneten aufgehoben, ihnen droht jederzeit eine Verhaftung.

Zu Schulbeginn waren über eine Million Schülerinnen und Schüler ohne Lehrkräfte, einige Schulen sind bis heute wegen LehrerInnenmangel geschlossen.

Eine freudige Nachricht gab es für Strafgefangene: 38.000 von ihnen sollen entlassen werden, um die durch die neuen Massenverhaftungen überfüllten Knäste etwas zu entlasten. Die Regierung scheint aber noch Schlimmeres vor zu haben: in den nächsten fünf Jahren sollen Knäste für mindestens 100.000 Gefangene gebaut werden.

Wie kam es dazu?

Im Nachhinein kann man die AKP nur bewundern, wie sie ihr Projekt, die Durchdringung und Übernahme der Institutionen Schritt für Schritt verwirklichte. In den ersten Jahren ihrer Regierung startete sie einerseits eine neoliberale Offensive: die staatlichen und öffentlichen Betriebe und Infrastruktureinrichtungen wurden privatisiert, der Arbeitsmarkt dereguliert. Da der Widerstand dagegen, angesichts der schwachen Gewerkschaften marginal war, konnte er entweder ignoriert werden oder mit Hilfe der Repressionsorgane niedergeschlagen werden. Hilfreich war auch der Klientelismus, etwa bei der Einstellungen in den öffentlichen Dienst oder bei der Hilfe für Bedürftige unter Umgehung der offiziellen Wege.

Daneben durchsetzte die Partei mit Hilfe der Gülen-Bewegung die Verwaltung mit ihren Anhängern.

Dazu gehörte auch die Entmachtung der alten Eliten, dort wo sie durch besondere Umstände nicht einfach ausgetauscht werden konnten, z.B. in der Armee. Dass die türkische Armee nicht gerade ein Hort der Demokratie war und ist, ist allseits bekannt. So weinte auch den Generälen kaum jemand eine Träne nach, als sie teilweise mit grob gefälschten Anklagen aus dem Dienst entfernt und vor Gericht gestellt wurden. Die ganze Gesellschaft hatte unter diesen putschistischen Offizieren gelitten: die Linke, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die kurdische Bevölkerung, die Liberalen, die Kunstschaffenden und, ja auch die Islamisten.

Die AKP hat aufgrund ihres islamistischen Selbstverständnisses auch kein Problem damit, die kurdische Identität anzuerkennen. Solange sie sunnitischen Glaubens sind, gehören sie zur Gemeinde, zur "Millet". Die osmanische, islamische Gesellschaftverfassung kannte Begriffe wie Volkszugehörigkeit und Nation nicht, das Wort "Millet", das heute in der Türkei als Synonym für Nation verwendet wird, war die Bezeichnung für Religionsgemeinschaften.

Die strikten Sprachverbote wurden aufgelockert, es durfte in Sprachkursen kurdisch gelehrt werden, bis zu einem gewissen Grad wurde die kurdische Sprache in öffentlichen Ämtern in den kurdisch regierten Rathäusern toleriert, sogar der staatliche Sender TRT nahm kurdische Sendungen auf. 2013 wurde bekannt, dass über den türkischen Geheimdienst Verhandlungen mit der kurdischen Seite geführt wurden.

Wann es zum Bruch zwischen Erdogan und Gülen kam, ist nicht genau festzustellen. Da gehen die Meinungen auseinander, ob die Hinwendung Erdogans zu den arabischen Ländern und seine offen zur Schau getragene Sympathie für die Muslimbrüder ursächlich war, die Verschlechterung der Beziehungen zu Israel, der "Friedensprozess" mit der kurdischen Bewegung oder erst die Korruptionsermittlungen von Staatsanwälten in der unmittelbaren Umgebung von Erdogan. Vermutlich war es ein "Emanzipationprozess" von Erdogan und seiner AKP, weil sie meinten die Gülen-Gemeinde nicht mehr zu brauchen.

Ein Problem für die AKP und Erdogan entstand erst, als sich abzeichnete, dass die kurdische Bewegung sich nicht in die Pläne der AKP einfügen wird. Als die HDP aus den Parlamentswahlen am 7. Juni 2015 mit 13,1 Prozent hervorging und die AKP keine Mehrheit für eine Alleinregierung bekam, waren die Pläne von Erdogan für ein Präsidialsystem hinfällig.

Eine große Rolle für den Erfolg der HDP spielte das weitverbreitete Unbehagen in der Bevölkerung über die zunehmende Verschmelzung der Regierungspartei AKP mit dem Staat und das immer repressivere, Gerichtsurteile ignorierende Vorgehen. Dazu kam die Unzufriedenheit über die Syrien-Politik der AKP und ihre feindliche und gehässige Haltung zu Rojova.

Da Erdogan mit diesem Wahlergebnis seine Pläne nicht verwirklichen konnte, ließ er die für eine Regierungsbildung vorgesehenen 45 Tage verstreichen, damit durch Neuwahlen die Ergebnisse in seinem Sinne korrigiert werden würden.

Den folgenden Wahlkampf führte die AKP sehr aggressiv. Um die an die faschistische MHP verlorenen Wählerinnen und Wähler zurück zu gewinnen, versuchte sie diese an nationalistischem und faschistischem Vokabular noch zu überbieten. Sie mobilisierte ihren Parteimob gegen HDP-Parteibüros und Kundgebungen, griff missliebige Zeitungsredaktionen und Journalisten an und zerschlug kurzer Hand ganze Konzerne unter fadenscheinigen Argumenten ("Anhänger der Terrororganisation Gülen") um deren Zeitungen und Fernsehsender in die Hand zu bekommen. Im Verlauf des Wahlkampfes wurden hunderte HDP-Büros niedergebrannt und verwüstet. Auf Kundgebungen und Wahlkampfbüros der HDP wurden Bombenanschläge verübt, mehrere Menschen starben dabei.

Am 20. Juli wurden in Suruc an der Grenze zu Syrien durch Selbstmordattentäter 32 Mitglieder einer sozialistischen Jugendorganisation, die für den Wiederaufbau nach Kobanê reisen wollten, ermordet. Daraufhin eskalierten auch die militärischen Kämpfe zwischen der FKK und der türkischen Armee und Sondereinheiten der Polizei. Schon einige Tage später bombardierten türkische Flugzeuge zum ersten Mal seit 2011 wieder FKK-Stellungen im Nordirak.

Verschiedene Berufsverbände, Gewerkschaften und sozialistische und demokratische Parteien forderten auf Kundgebungen und Demonstrationen einen Waffenstillstand und Gespräche für die friedliche Beilegung des Konflikts. Am 10. Oktober starben auf der Auftaktkundgebung einer Friedensdemonstration unter dem Motto "Arbeit, Frieden und Demokratie" in Ankara durch zwei Selbstmordattentäter über 100 Menschen. Unter diesen Umständen sagte die HDP alle ihre Wahlkampfveranstaltungen ab, nachdem Sicherheitskräfte gewarnt hatten, dass weitere Anschläge geplant seien. Natürlich richtete sich diese massive Gewalt nur gegen linke Organisationen und kurdische Einrichtungen.

In dieser Situation, in einer Atmosphäre von Gewalt und Angst fanden die Wahlen statt. Die AKP bekam fast 50 Prozent der Stimmen und kann die Regierung alleine stellen.

Wie weiter?

Auch wenn es nicht den Anschein hat: der Sitz der AKP wackelt immer wieder, der Putschversuch hat gezeigt wie dünn die seidenen Fäden sind, die sie an der Macht erhalten. Deshalb versucht Erdogan die Diktatur weiter voran zu treiben und auch verfassungsmäßig abzusichern. Die Zufriedenheit im Land wird, wenn die Nebel des Putsches und Gegenputsches sich gelichtet haben, nicht wachsen.

Die privaten Haushalte sind hoch verschuldet. Schon heute können über eine Million Bürgerinnen und Bürger ihre Kreditkarten-Schulden nicht mehr bezahlen. Die Verschuldung der Bevölkerung hat sich seit 2008 vervierfacht, das Gesamtkreditvolumen beträgt mittlerweile 45 Milliarden US-Dollar.

Auch die Immobilien-Blase wird immer größer; seit 2013 sind die Preise für Grundstücke und Wohnungen um 28 Prozent gestiegen, die ausstehenden Hypothekenkredite haben sich seit 2005 versechsfacht.

Dabei beruht "das Wirtschaftswunder" der Türkei auf Bautätigkeit und Privatkonsum, beides auf Pump finanziert. Dass die Verschuldung des Staates im internationalen Vergleich gering ist, verschleiert die Tatsache, dass ohne stetigen Kapitalzufluss aus dem Ausland die ganze Wirtschaft zusammenbrechen würde.

Auch die Privatwirtschaft ist hoch verschuldet, braucht sie doch für ein fertiges Produkt fast 50 Prozent importierter Vorprodukte. Dafür sind Devisen nötig, doch das türkische Handelsbilanzdefizit bewegt sich seit Jahren um die 25 Prozent. Es werden also erheblich mehr Waren eingeführt als exportiert. Eine Änderung ist nicht im Sicht.

"Die Lira verliert seit Jahren an Wert gegenüber Dollar und Euro, was zwar die türkischen Exporte begünstigt, aber da fast der gesamte Energiebedarf aus dem Ausland abgedeckt werden muss und die erwähnten industriellen Vorprodukte gegen Devisen gekauft werden müssen, wird sich die Handelsbilanz der Türkei weiter verschlechtern.

Von Zeit zu Zeit versucht die türkische Zentralbank durch Devisenverkäufe die Lira zu stabilisieren. Seit Anfang November hat sich der Wertverlust der Lira stark beschleunigt. Vor einigen Tagen rief Erdogan die Bürgerinnen und Bürger des Landes dazu auf, ihre ersparten Devisen in Lira umzutauschen. Das wäre jetzt eine "Bürgerpflicht", um das "Spiel gewisser Leute zu durchkreuzen." Wer diese Leute sind, ließ er im Ungewissen. Wer könnte das aber sein? Auch wenn Erdogan nicht immer klar ausspricht, seine AnhängerInnen wissen: entweder die gewissenlosen Gülen-Leute oder die "westlichen Mächte", die die "Türkei nicht so mächtig sehen wollen".

Der einzige Weg um den Kapitalzufluss aufrecht zu erhalten, sind hohe Zinsversprechen an die Anleger, was wiederum die Schuldenfalle noch mehr zuspitzt.

Politische Kräfte

Erdogan versucht mit allen Mitteln die Opposition nieder zu halten. Die HDP ist - wie erwähnt - gesellschaftlich isoliert, die größte Oppositionspartei CHP schwankt zwischen Unterstützung der AKP und halbherzigen Versuchen Oppositionsarbeit zu leisten. Sie ist zerrissen zwischen ihren links- und rechtskemalistischen Flügeln. Die Anschläge der kleinen kurdischen Gruppen, wie kürzlich in Istanbul befördert nicht gerade die Öffentliche Opposition im Lande. Schnell ist die AKP mit dem Landesverrat- und Terrorismus-Vorwurf zur Hand.

Mit dem eskalierenden Krieg im Osten des Landes wächst auch die von Faschisten und der Regierung angefachte Lynch-Stimmung gegen alle, die noch nicht zu eingeschüchtert sind, um auf die Straße zu gehen. Den sozialistischen und kommunistischen Gruppen und Parteien werden die Presseorgane verboten, ihre Tätigkeit eingeschränkt. Alle Versuche der fortschrittlichen Gewerkschaften und linken Gruppen eine gemeinsame Front gegen die Diktatur aufzubauen sind bisher gescheitert. Die türkische Linke kann sich immer noch nicht auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner einigen, was angesichts der Entwicklung fatal ist. Es ist zu befürchten, dass die Regierung die Linke in die Illegalität treiben wird. Was dann kommen wird, möchte man sich nicht vorstellen.

Die Gewerkschaften verhalten sich größtenteils passiv; die Gewerkschaften, die trotzdem wagen auf die Straße zu gehen oder die Rechte ihrer Mitglieder verteidigen, werden ver- und behindert; Kundgebungen verboten, Gewerkschaftsversammlungen untersagt. Außerdem ist die Gewerkschaftsbewegung weiterhin schwach, nur ein Bruchteil der Beschäftigten sind organisiert.

Der Unternehmerverband des Großkapitals TÜSIAD mahnt die Regierung die Pressefreiheit und das Recht auf Privateigentum zu achten. Bis auf einige Warnschüsse hat Erdogan es bisher vermieden diese Kapitalfraktion ähnlich wie die Gülen-nahen Unternehmer direkt anzugreifen. Wobei auch die Unternehmer, auch wenn sie nicht wie ihre Kollegen enteignet werden, viel zu verlieren haben. Als die Koç-Gruppe ihm zu sehr kritisch wurde, ließ Erdogan sie kurzerhand wissen, dass sie an der Ausschreibung für den Bau einer Reihe neuer Marineschiffe eventuell nicht teilnehmen könnten. Das ließ die Koç-Holding schnell leiser werden.

Die Lage ist düster, die Gezi-Bewegung, die spontanen großen Streiks der Metallarbeiterinnen und -arbeiter scheinen Jahrzehnte her zu sein. Doch das kann sich schnell ändern. Die Linke in der Türkei wie in Kurdistan ist stärker als hierzulande; tausende Genossinnen und Genossen machen täglich ihre "Maulwurf-Arbeit" in Betrieben, Büros und in Stadtvierteln.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Die HDP-Abgeordnete Sebahat Tuncel wird in Diyarbakir von der Polizei verhaftet.

- Von der Polizei verwüstete HDP-Büro. Anschließend haben sie an die Wand gesprüht: "Wir haben euch besucht, ihr ward nicht da"

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 194 - Winter 2016, Seite 21 bis 24
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Februar 2017

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