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ARBEITERSTIMME/374: Sammeln - bewegen - siegen?


Arbeiterstimme Nr. 200 - Sommer 2018

Zeitschrift für die marxistische Theorie und Praxis
Die Befreiung der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiter selbst sein!

Sammeln - bewegen - siegen?
Poltische Sammlungsbewegungen als Reaktion auf die Krise der Volksparteien


Der vorhergehende Beitrag zeigte die Gründe dafür auf, dass die Wahlzustimmung zur Politik der Volksparteien seit dem Ende der Nachkriegskonjunktur zuerst allmählich, seit dem Ende der Schröder-Regierung beschleunigt sinkt. Diese Krise der Repräsentanz politischer Einstellungen eröffnet aber, anders als von manchen Politikplanern im letzten Jahrzehnt gedacht, nicht die Chance auf eine wie auch immer irgendwie links verortete strategische Mehrheit. Die ZEIT online nennt die Zahlen, wonach das rechnerische Gesamtergebnis für SPD, Grüne und PDS im Jahr 1998 noch bei 52,7 % lag, diese Parteien einschließlich der LINKEN als Nachfolgerin der PDS 2009 fast 7% einbüßten, um schließlich 2017 bei 38,6 % einzukommen.

Von 28 Millionen Wählern blieben 18 Millionen übrig - ein Desaster für alle Schmiedemeister und -meisterinnen einer "linken Regierung".

Gerade die LINKE ist herausgefordert, aus dieser strategischen Sackgasse Auswege zu finden. Und sie ist ja in Europa mit diesem Dilemma nicht allein. Ihre traditionelle politische Ausrichtung wie ihr Auftreten in der Öffentlichkeit reichen - und "garantieren" - für plus minus 10 % bei Bundestagswahlen. In westeuropäischen Ländern mit der Tradition unterschiedlicher linker Massenparteien zeigt sich schon seit Jahrzehnten die Krise. Parallel stolperten Sozialdemokraten, Sozialisten und Kommunisten in die Randlagen der Wählerwahrnehmung.

Sammlungsbewegungen scheinen sowohl Ausweg aus dem eigenen Bedeutungsverlust als auch Rückgewinnung von Handlungsmöglichkeiten. Mélenchon mit seiner France insoumise erreichte mehr als einen Achtungserfolg in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen und Pablo Iglesias kam 2016, zwei Jahre nach Gründung, mit Podemos bei den spanischen Parlamentswahlen als drittstärkste Kraft auf gut 21 %, dazu sind in der Bewegung ca. 500.000 Mitglieder - mehr oder weniger - aktiv. Mit einer noch höheren Mitgliederzahl kann Jeremy Corbyn aufwarten, nach den lähmenden New Labour-Jahren ging ein sammlungsähnlicher Ruck durch die altehrwürdigen Parteiglieder(ungen). Selbst in den USA wurde die demokratische Parteihierarchie von den großen Vorwahlerfolgen des eigentlich unabhängigen Senators von Vermont, Bernie Sanders, gegen die Kandidatin des Establishments, Hillary Clinton, zutiefst erschreckt. Und das mit Themen und Lösungsansätzen, die eine Reihe US-amerikanischer Denkverbote unter dem Applaus seiner Unterstützer beiseite räumte.

Sammlungsbewegungen sind Ausfluss der Krise parlamentarischer Politikausübung und gleichzeitig deren Lösungsversuch, was die Legitimation von politischer Vertretung angeht. Und damit spitzen Sammlungsbewegungen die Krise der traditionellen Repräsentationspolitik weiter zu. Mit der Schwächung der alten Bindungen und politischen Sicherheiten kann auch neuer Raum für unvoreingenommenes Denken entstehen und, wählerarithmetisch gesprochen, das Ghetto der 10 %-Unterstützung der LINKEN geöffnet werden. Wie weit, das hängt neben einigem anderen, auch von den Konzepten derjenigen ab, die diesen Prozess anstoßen. So bekam die LINKE zum Jahreswechsel 2017/18 eine Debatte über ihre Ausrichtung als Partei, als Sammlungsbewegung oder gar als linke Volkspartei geschenkt, die wenig Substanz und viel Polemik freisetzte und die, das bleibt festzuhalten, die Politik und die Auseinandersetzung darüber weiter personalisierte. Lafontaine/Wagenknecht stehen, wenn man den Veröffentlichungen der großen Mediengruppen traut, für die Idee einer linken Sammlungsbewegung, während Kipping als Antipode dazu auf eine Ausrichtung setze, die tendenziell eine urbane, intellektuelle Milieulinke umwerben soll. Ziel dabei seien 15 %.

Es gilt kritisch zu verfolgen, ob neue Anknüpfungspunkte bei bisher Parteifernen möglich sind und mit welcher inhaltlichen Ausrichtung dies geschieht. In wiefern kann ein neues Konzept mehr sein als eine Modeerscheinung?

Die gegenwärtigen internationalen Erfolge von Sammlungsbewegungen machen Eindruck, zumal in Deutschland die politische Rechte große Schritte auf den Bewegungsansatz hin macht. Die AfD gibt vor allem der CSU, die im Wahlkampf in direkter Konkurrenz um dieselben Wählerstimmen steht, die Themen vor. Und die CSU reagiert so nahe ihrer Konkurrentin, wie es ihr als Partei, die im demokratischen Konsens eingebunden ist, überhaupt möglich ist. Selbst die FDP ist als Ein-Gesicht-Partei wiedererstanden, erstarkt mit Themen, die über die Kerninteressen ihrer Ur-Klientel hinausreichen: die Betonung nationaler Belange und Interessen und die allgegenwärtige "Modernisierung" als öffentliche Aufgabe. Nur Neo-Liberalismus allein ist zu wenig geworden.

Der LINKEN gibt das Bundestagswahlergebnis 2017 neue Aufgaben mit auf den Weg. Der leichte Zuwachs der Wählerstimmen auf 9,2 % hat recht ambivalente Ursachen. In den östlichen "Stammländern" büßte sie zwischen 3,7 % und 6,6 % ein, während sie im Westen, und dort vor allem in den Großstädten, mehr als ausgleichende Zugewinne einfuhr. Die Konsequenz war eine Debatte über den (vermuteten) Wandel der Wählerschaft.

Raus aus der ostdeutschen Fläche, rein in die westdeutschen Zentren?

Die Wählerwanderung ist erst in Ansätzen mit Zahlen, dafür aber mit umso spitzeren Thesen unterlegt: die LINKE ist in die Zange geraten zwischen (gewesener) Volkspartei im Osten und (alternativer) Protestpartei im Westen.

Wenn die Resultate längerfristige Tendenzen ankündigen, wird dies zu erheblichen Korrekturen linker Strategien und Selbstdarstellung führen. Kann die Partei dann noch bewahrende Kümmererpartei im Osten sein, die pragmatische Lösungen vor Ort anstrebt und deren Perspektive darin liegt, Ungleichgewichte und Ungerechtigkeiten zu reparieren? Dies ist ohne Häme oder Schadenfreude gefragt, schließlich ist ihre Wählerschaft nicht auf Rosen gebettet. Sie ist weniger "wettbewerbsfähig" als der bundesdeutsche Durchschnitt, sie bekommt die Verknappung öffentlicher Mittel schneller und einschneidender zu spüren. Deshalb denkt und handelt sie eher regional als europäisch oder global. Und sie erlebt die Zuwanderung als Konkurrenz auf einem Markt knapper Güter. Da geht der Hinweis, im Osten gebe es fast keine Migranten, ins Leere. Den Zusammenhang zwischen sozialen Transferleistungen und Leistungen für die Flüchtlingshilfe haben nicht die Wähler der LINKEN erfunden, der ist Entscheidung aller deutschen Regierungen bisher. Der Wehretat, die Etats für Überwachung und Repression oder die Steuer-"erleichterungen" für Reiche und Unternehmen standen noch nie zur Disposition, wenn es um die Kosten der Flüchtlingshilfe ging. Die traditionellen LINKEN-Wähler wollen konkrete Hilfen, Unterstützung und den persönlichen Einsatz ihrer Politiker für ihre Anliegen.

Und jetzt bekommt die LINKE im Westen Zuspruch von politisierten Menschen, die - überdurchschnittlich - gut gebildet und ausgebildet, weniger arbeitslos sind, dafür in tariflich oder besser bezahlten Stellen arbeiten. Kurz, diese Klientel erwartet in geringerem Maße die konkrete Hilfestellung bei Problemen vom LINKEN-Politiker vor Ort, man erwartet eher die klare Kante der Partei in ihrer Politik und in ihren Stellungnahmen. Hilfe und Unterstützung dort, wo man eh schon in Projekten und Initiativen aktiv ist. Das Themenspektrum ist umfassend international so wie häufig die eigene Arbeit oder das Studium und die eigenen Netzwerke. Aus diesem Blickwinkel und in dieser materiellen Lage berührt Migration, auch die Arbeitsmigration das Sozialempfinden und den Solidaritätsgedanken. Wenn die Haltung zur Zuwanderung keine Sache der eigenen Überzeugung ist, dann ist sie eine Sache der Moral. Da reagiert man sehr empfindlich auf eventuelle Relativierungen und Begrenzungen, und da muss auch die Partei, die man unterstützt, sich eindeutig und klar positionieren. Von den Rechten angewidert zu sein und ein Zeichen dagegen zu setzen, genügt, mittelfristig, nicht, LINKE zu wählen. Die Partei muss auch glaubwürdig anders sein als die ununterscheidbaren (kleiner werdenden) Großparteien.

Um in diesem Spagat der Erwartungen zu bestehen, ohne eine ausdrückliche Entscheidung für eine Seite zu treffen und die andere damit zu verprellen, gewinnt das Konzept einer Sammlungsbewegung seine Attraktivität. Die Befürworter versprechen sich ein Bündel an Vorzügen einer neuen und zeitgemäßen Art des politischen Engagements. Eine junge Neuorganisation signalisiert flache Hierarchien, Programme treten in ihrer Bedeutung hinter die Aktionsfähigkeit zurück. Wenn sich die Bewegung auf wenige, dafür sehr allgemein gehaltene Ziele, z. B. die Organisierung gegen die Rechtsentwicklung oder die wachsende Ungleichheit in Deutschland, konzentriere, sei eine höhere Durchschlagskraft der Aktionen möglich. Punktuelle Eingriffe und Mobilisierungen erlauben Erfolge, gerade wenn die Sonne medialen Interesses darauf scheint. Schneller und flexibler könne reagiert werden, weil kein (Partei-)Apparat mitgenommen werden muss. Die Aktiven und Sympathisanten wiederum sind in den Bewegungen weniger zur Identifikation mit einem bestimmten Weltbild als in einer Partei aufgefordert, die Bandbreite der Einstellungen ist größer, ohne das Bündnis (vorerst) zu gefährden. Dafür ist der Druck, sich koalitionsfähig, wenn nicht regierungsfähig zu machen, zumindest eine bestimmte Zeit lang geringer. Ein anhaltender Erfolg aber wird gerade diese Diskussion erzeugen, um die Mobilisierungswirkung aufrecht zu erhalten. Und schließlich sind Sammlungsbewegungen auf Führungspersonen ausgerichtet, an deren politischen Wegen und Zielen die Bewegungen selbst hängen.

Solche Leitfiguren füllen die Lücken fehlender kongruenter Anschauungen und Einstellungen. Sie täuschen darüber hinweg, dass die Mitglieder unterschiedliche, wenn nicht gar gegensätzliche Zielvorstellungen für das eigene politische Handeln verfolgen. Deshalb werden Bewegungen beständig den kleinsten gemeinsamen Nenner suchen, Aktionen werden zum Maßstab für den Erfolg und damit zum Ziel für das persönliche Engagement. Bekanntheit in und Aufmerksamkeit von den Medien sind wesentliche Parameter dafür. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Tun, dessen Begleitung und Korrektur durch Analyse und Diskussion verliert an Gewicht, zumal die Vorgaben für die erwünschte Mitwirkung allgemein und niederschwellig bleiben müssen.

Dort, wo politisch-gesellschaftliche Krisen tiefer gehen und sich die Spaltungen dauerhaft verfestigt haben, ist der Rückweg in die Parteiendemokratie verbaut. Deshalb nehmen die Sammlungsbewegungen eine wichtige systemische Ergänzungsfunktion ein. Neben Erfolgen wird es auch Krisen und Zusammenbrüche der Bewegungen geben. Enttäuschungen und Resignation werden folgen, aber neue Konstellationen werden neue Ansätze und "Lösungen" versprechen.

Noch sind die Träger repräsentativer Demokratie und des zugehörigen Politikverständnisses nicht am Ende, aber die Grenzen zu Willkür und Manipulation sind erfahrbar tiefer gelegt worden. Und das Gesamtsystem wird anfälliger für "starke Lösungen". Unter den gegenwärtigen Bedingungen sind das für uns bewusste Sozialisten und Kommunisten erschreckende Aussichten.

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Quelle:
Arbeiterstimme Nr. 200 - Sommer 2018, Seite 15 bis 17
Verleger: Thomas Gradl, Bucherstr. 20, 90408 Nürnberg
E-Mail: redaktion@arbeiterstimme.org
Internet: www.arbeiterstimme.org
 
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. August 2018

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