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DAS BLÄTTCHEN/1464: Harte Basis, weicher Überbau


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
18. Jahrgang | Nummer 3 | 2. Februar 2015

Harte Basis, weicher Überbau

von Heino Bosselmann


Was immer man in der üblich verkürzten Wahrnehmung von Marx halten mag, hüte man sich vor pauschalen Urteilen. Der Philosoph ist weder für die bolschewistische Revolution von 1917 verantwortlich noch dafür, was daraus wurde; und schon gar nicht war er der Urgroßvater Honeckers oder Mielkes. Nicht mal im Bereich des heute ausschließlich negativ konnotierten "Ideologischen"! - Man lese einfach das Vorwort "Zur Kritik der politischen Ökonomie" von 1859 und prüfe, was an diesem nüchtern analytischen Blick grundsätzlich nicht stimmen sollte. Ich finde im Folgenden keinen Denkfehler:

"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte notwendige von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen."

Verkürzt im Sinne des "historischen Materialismus": Das Sein, das ökonomische also, bestimmt das Bewusstsein, mithin die allgemein staatlichen, juristischen, religiösen, kulturellen und überhaupt denkerischen beziehungsweise reflektierenden individuellen wie gesellschaftlichen Ausdrücke. Auf dem Betriebssystem des produktivkräftig Industriellen und Wissenschaftlichen läuft die Software des Ideellen und Kulturellen. Ersteres bedingt das Zweite, ermöglicht es jeweils oder schränkt es ein.

Mit Blick auf die politischen Gegenwart der dritten, also der Berliner Republik erscheint das besonders interessant, wenn man folgenden Gedanken wagt:

Während der aufstrebende Kommunismus, bestimmt von Utopismen, einem illusionär rousseauistischen Menschenbild und dem gewendeten Gen des Hegelschen Idealismus, über einer Basis "vergesellschafteter Produktion" einen politisch urdemokratisch freien Überbau entfalten wollte, sehen die gegenwärtigen westlichen Demokratien des Marktwirtschaftskapitalismus ihr Heil darin, eine durchliberalisierte Basis der Strichcodes, Niedriglöhner und Exklusionen mit der Gerechtigkeits-, Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsrhetorik eines geradezu sozialistisch anmutenden Überbaus zu dämpfen oder gar zu kurieren.

Weiterhin: Meinte der einst real existierende Sozialismus davon ausgehen zu können, der fragmentierte, entfremdete und amoralische Mensch werde in seinem (überbaulichen) Bewusstsein nicht nur zum harmonisiert guten, sondern gleich zum neuen Menschen, wenn man ihm nur an der Basis die endlich richtigen Umstände dafür einrichte, so wird der neue Westen beziehungsweise sein bürokratisches Konstrukt "Europa" offenbar von dem Bedürfnis getrieben, der an der Basis leidende homo oeconomicus bedürfe überbaulich des therapeutischen Ausgleichs durch vermeintlich sehr menschliche Grundvereinbarungen. Dass diese ohnehin Rhetorik bleiben, macht die Phrasendrescherei zudem einfach. Zwischen den Apologeten der Gleichstellungsrechtlichkeiten und deren Kritikern besteht in etwa die alte Differenz von Rechts- und Linkshegelianismus.

Weil die Wirtschaft als Basis immer weniger Leute sinnvoll nötig hat, weil immer weniger Basic-Spezialisten - Ingenieure, Techniker, Informatiker, Mathematiker, Naturwissenschaftler - den Laden gemeinsam mit Verwaltern, Juristen, Spezialisten des Machens und Politikern des Redens am Laufen halten, weil also die Zahl der nur noch zu versorgenden und zu alimentierenden Konsumenten jene der fitten und schöpferischen Produzenten weit übersteigt, sollten alle überflüssig Ineffizienten umso mehr den Eindruck haben, sie wären wichtig, würden gebraucht, seien per se talentiert, unverwechselbar und wertvoll. - Für die produzierende und Wissenschaft treibende produktive Basis sind sie es jedoch mitnichten, schon gar nicht innerhalb weltweiter Arbeitsteilung mit indischen Informatikern und rumänischen Medizinern.

Deswegen verkraftet es Deutschland beispielsweise problemlos, wenn 20 Prozent seiner Fünfzehnjährigen mittlerweile funktionale Analphabeten sind, ja dass jeder Fünfte mittlerweile die Schule verlässt, ohne im herkömmlichen Sinne lesen, schreiben und rechnen zu können. Dieser intellektuelle und kulturelle Notstand ist nirgendwo Thema, weil die alarmierend hohe Ziffer der innerhalb des Bildungssystems Retardierten einfach auf Discounterniveau unterhalten wird - und zwar im sozialen wie im medialen Sinne.

Für die arbeitsteilige Gesellschaft scheint man sie offenbar gar nicht mehr zu benötigen; sie werden technisch zu einer Verwaltungsmasse zurückgestuft, mit den Möglichkeiten des digitalen Zeitalters gut zu handhaben. Wo nicht mehr qualifiziert werden kann, wird nur noch quantifiziert. Mit Schopenhauer handelt es sich bei den weitgehend Ausgeschlossen oder Abgehängten um "den großen Haufen", mit Nietzsche um die "Fabrikware der Natur". Eine Masse ohne Macht, ja sogar ohne das Bedürfnis danach, ohne Sinngebung und Inspiration, eine - wieder treffend mit Marx - "industrielle Reservearmee" für die Statistiker und alsbald vor allem eine Herausforderung für das Krisenmanagement der Massen-Altenpflege. Dieser Masse sind die bürgerlichen Grundrechte leider größtenteils so einerlei wie die Politik, von der sie durchregiert werden.

Und die Jugend? Die Bertelsmann-Stiftung ermittelte gerade, dass der Parlamentarismus ihr nie so egal war wie jetzt. Von "Call of Duty" und "Candy Crush Saga" wissen die jungen Leute mehr als von der Politik. Die Allerwenigsten sind willens oder in der Lage, einen längeren Zeitungsartikel zu lesen; und das Feuilleton der Qualitätspresse bleibt das Refugium überständiger Intellektueller aus einer überalterten und ideell stagnierenden Republik.

Während an der Basis also der Siegeszug informationsverarbeitender Systeme für eine geradezu ungeheuerliche Effizienz sorgte, während vieles, was mit Mühe und Dreck verbunden ist, in Billiglohnländer "outgesourct" wurde, deren Wirtschaften dadurch zu prosperieren beginnen, ist Europa neben seinen neuen und alten Innovationszentren über weite Regionen von einer Degenerierung im Physischen wie Psychischen wie letztlich im Intellektuellen und Künstlerischen betroffen. - Keine Sendung mehr. Umso mehr hält dieses "Europa" seine Werte hoch und hält sie anderen vor. Wo immerfort von Antidiskriminierung die Rede ist, mag das freudianisch darauf hindeuten, dass genau das - Diskriminierung, und zwar tatsächliche statt rhetorische - laufend und ganz alltäglich erfolgt.

Handelt es sich beim lautstarken Ventilieren des einschlägigen Gerechtigkeitsvokabulars um vordergründig nostalgische Akte oder schon um solche der innerlich verzweifelten Selbstlegitimierung ohne echten Hintergrund, ohne Kraft und ohne Saft? Je deutlicher diese Defizite zwischen Anspruch und Realität zutage treten, umso feierlicher wird ein fauler Scheinfrieden gepflegt, in dem sich jeder noch mal so richtig wichtig nehmen darf - gleichgestellt, nicht diskriminiert und selbst bei weitgehender Talentfreiheit von Inklusions-Maßgaben geschützt.

Nein, "Ausgrenzung" - gegenwärtig immer als Droh- und Unwort empfunden - wäre nie und nimmer das Ziel. Im Gegenteil: Es läge mindestens noch eine theoretische Chance darin, auf ein Selbstverständnis von Leistungsorientierung und höchsten Ansprüchen an sich selbst zu setzen, statt auf geringstem Niveau eine quasisozialistische Gleichheit - wenigstens "überbaulich" - einfach dekretieren zu wollen. Leistung im Substanziellen kann man stimulieren, man muss sie aber auch erzwingen, notfalls existenziell aus der Idee vom eigenen Selbst heraus. Allein schon der Vorsatz, möglichst weder verfetten noch verblöden zu wollen, wäre die erste Mehrleistung, mit der sich auch die Demokratie als System des Streits um Ziele, Werte und Gerechtigkeit revitalisieren könnte. Mit Freiligrath: "Von unten auf!"

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 3/2015 vom 2. Februar 2015, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 18. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Februar 2015

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