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DAS BLÄTTCHEN/1673: Kein Lutscher aus Genf?


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
20. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2017

Kein Lutscher aus Genf?

von Dieter B. Herrmann


Um das Europäische Kernforschungszentrum CERN in Genf ist es in letzter Zeit stiller geworden. Überschlugen sich noch vor Jahren die Pressemeldungen, so hört man in letzter Zeit nur noch selten etwas über neue Erkenntnisse mit dem Large Hadron Collider, in dem Protonen, die positiv geladenen Kerne von Wasserstoff-Atomen, mit fast Lichtgeschwindigkeit aufeinander geschossen werden. Obschon tausende Wissenschaftler aus aller Welt an der "Größten Maschine aller Zeiten" emsig forschen, scheint es so, als würde nichts gefunden. Dabei wurde der Collider mit klaren Erwartungen in Betrieb genommen: Man wollte dem Ursprung des Universums auf die Schliche kommen, Vorgänge nachahmen, die in der Frühzeit des Universums nach herrschender Lehrmeinung einmal stattgefunden haben müssen.

Da sich die Elementarteilchen, die wir heute kennen, sehr rasch in der Babyphase unseres Universums, winzigste Bruchteile von Sekunden nach dem sogenannten Urknall, herausgebildet haben, besteht ein enger Zusammenhang zwischen Elementarteilchenphysik und der Entwicklung des Kosmos. Als der Collider 2009 in Betrieb ging, fand man sehr rasch einige Teilchen wieder, die bereits fester Bestandteil des Standardmodells der Elementarteilchenphysik gewesen sind: die Quarks (Bausteine der Protonen und Neutronen) sowie auch einige der Austauschteilchen (Bosonen), mit denen die Übertragung von Kräften beschrieben wird. Ein wahrer Hype entbrannte um den Nachweis eines hypothetischen Teilchens, das der britische Physiker Peter Higgs und andere bereits in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts gefordert hatten, um die Massen der Teilchen zu erklären. Es ist ebenfalls ein Austauschteilchen und zwar des "Higgs-Feldes", dessen Existenz sich über den Nachweis des Bosons hätte bestätigen lassen. Jahrelang stritten Physiker und Philosophen über die Existenz dieses Teilchens, gleichsam den letzten noch fehlenden Baustein des Standardmodells. Da der Collider - nach einem anfänglichen Fehlstart - in einer Kultur der Behutsamkeit in mehreren Etappen mit dazwischenliegenden längeren Pausen für immer höhere Kollisionsenergien aufgerüstet wurde, meinten die Forscher anfangs, seine Energie seit noch zu gering, um das "Higgs-Boson" zu entdecken. Andere vertraten die Ansicht, dass es dieses Teilchen möglicherweise gar nicht gäbe. Auch solch ein Ergebnis hätte der Forschung zweifellos wichtige Impulse verliehen, gerade weil es nicht erwartet wurde. Doch es kam anders: 2012 wurde die Entdeckung des von manchen Journalisten gar als "Gottesteilchen" bezeichneten Partikels gemeldet und bereits ein Jahr später erhielten Peter Higgs und Fran Englert den Nobelpreis.

Nun ist es in der Physik nicht neu, dass Forscher etwas, was sie nicht verstehen, mit etwas erklären, das sie nicht nachweisen können. Das klingt zunächst etwas verrückt, gehört aber zu den Methoden der Naturwissenschaft. Auf diese Weise hat zum Beispiel Wolfgang Pauli die Existenz des Neutrinos "verlangt", - und es wurde gefunden. Das aber ist die Bedingung: Experimente oder Beobachtungen sind stets die höchsten Richter über eine Hypothese. Auch jetzt haben Theoretiker viele Ideen, deren Richtigkeit sie mit dem Large Hadron Collider zu bestätigen hoffen. Eine zentrale Hypothese betrifft die sogenannte Supersymmetrie. Demnach sollte es zu jedem Teilchen des Standardmodells einen supersymmetrischen Partner geben. Dann könnten nämlich alle uns bekannten elementaren Kräfte (starke und schwache Kernkraft, elektromagnetische Kraft und Gravitation) zu einer einzigen Urkraft am Beginn des Universums vereinigt werden. Von dieser Urkraft nun wiederum sind die Physiker aus verschiedenen Gründen überzeugt. Aus ihr hätten sich durch Symmetriebrechungen die uns heute bekannten vier Kräfte abgespalten. Doch niemand hat bislang auch nur eines dieser supersymmetrischen Teilchen entdecken können. Nun fiebert man ihrer Entdeckung entgegen. Ob es sie aber tatsächlich gibt, weiß niemand. Dabei könnte eines dieser Teilchen sogar für das gesamte Universum eine wichtige Rolle spielen, indem es uns das Geheimnis der "Dunklen Materie" enthüllt. Aus Beobachtungen wissen wir nämlich seit langem, dass sich die Galaxien in den Galaxienhaufen, aber auch die Sterne in den einzelnen Sternsystemen nicht so bewegen, wie sie es nach den Keplerschen Gesetzen tun sollten. Als Erklärung wurde die Existenz einer nicht sichtbaren "Dunklen Materie" angenommen, die sich lediglich durch ihre Gravitationswirkung bemerkbar macht. Sie ist mit rund 25 Prozent an der Energiedichte des Weltalls beteiligt - kein Phänomen, das man einfach ignorieren könnte. Doch was ist diese "Dunkle Materie"?

Trotz jahrzehntelangen Forschens gibt es auf diese Frage bislang keine Antwort. Ein Erklärungsversuch nimmt sogenannte schwach wechselwirkende massive Teilchen (weakly interacting massive particles = WIMP's) an. Sie könnten nach Ansicht vieler Forscher zu den gesuchten supersymmetrischen Partikeln gehören. Andere Forscher sind aber davon überzeugt, dass es gar keine "Dunkle Materie" gibt. Sie wird uns ihrer Ansicht nach nur vorgetäuscht, weil die bislang benutzten physikalischen Gesetze noch nicht der Weisheit letzter Schluss wären. Entsprechende alternative Theorien konkurrieren bereits miteinander, konnten aber bislang noch nicht an geeigneten Beobachtungen überprüft werden. Fände man die hypothetischen WIMP's, wäre die zweite Hypothese erledigt. Die nunmehr schon lange währende erfolglose Suche hat jedoch bei manchen Physikern im Umfeld des CERN inzwischen bereits eine Art Katerstimmung ausgelöst. "Es ist verblüffend, dass wir 30 Jahre lang über diese Dinge nachgedacht und doch keine einzige Voraussage gemacht haben, die tatsächlich bestätigt wurde", äußerte sich der theoretische Physiker Nima Arkani-Hamed. Und Joe Incandela, Physiker an der University of California in Santa Barbara meint mit einem leicht sarkastischen Unterton: "Wenn man etwas sieht, kann man modellunabhängige Aussagen darüber machen, wenn man nichts sieht, ist es etwas komplizierter." Um nicht zu sagen: Wenn man nichts sieht, hat man ein Null-Ergebnis.

Doch Aufgeben zählt nicht. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass der "Glaube" an supersymmetrischen Teilchen etwas Religiöses an sich gehabt haben sollte, müssen die Physiker neu darüber nachdenken, ob nicht vielleicht solche fest verwurzelten Glaubenssätze für die physikalische Forschung untauglich sind Die Natur muss sich nicht daran halten, was ihre Erforscher glauben. So haben denn jetzt einige Theoretiker ganz neue Konzepte entwickelt, die sie in den nächsten Jahren überprüfen wollen. Vielleicht stoßen sie dabei auf eine wirklich neue Physik, die sie so bislang für unmöglich gehalten hatten. Für Enttäuschung gäbe es aber selbst dann keinen Grund, wenn man nichts fände. Dann müssten eben bislang hoch geschätzte Ideen das Feld räumen. Arkani Hamed regt sich auf über die Verzagten unter seinen Kollegen: "Die Natur ist einfach so! Wir erhalten Antworten! Diese 6.000 Leute reißen sich den Arsch auf und ihr schmollt wie ein kleines Kind, weil ihr nicht den Lutscher bekommt, den ihr haben wollt?"

Immerhin - eine neue Meldung gab es unlängst doch vom CERN: Der präparierte Kadaver des Marders, der die "Weltmaschine" durch sein Eindringen in ein Transformatorenhäuschen 2016 für einige Tage lahmgelegt hatte und dabei durch einen Stromschlag verendete, wird im Naturhistorischen Museum in Rotterdam ausgestellt. In der Abteilung "Tiere, die einen ungewöhnlichen Tod starben".

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 5/2017 vom 27. Februar 2017, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 20. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. März 2017

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