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DAS BLÄTTCHEN/1681: Kamo, Bankräuber der Revolution


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
20. Jahrgang | Nummer 7 | 27. März 2017

Kamo, Bankräuber der Revolution

von Thomas Parschik


Semjon Arschakowitsch Ter-Petrosjan hieß der Junge, der am 6. Mai 1882 im georgischen Gori das Licht der Welt erblickte. Nachdem man ihn von der Schule verwiesen hatte, machte er in Tiflis die Bekanntschaft des Revolutionärs Josef Dschugaschwili, der sich später Stalin nannte. Ter-Petrosjan schloss sich der russischen sozialdemokratischen Bewegung an und erhielt den Decknamen Kamo, möglicherweise von Stalin in Anspielung auf einen Aussprachefehler. Im Februar 1903 trat er erstmalig revolutionär in Erscheinung, indem er im armenischen Opernhaus von Tiflis Flugblätter von der Balustrade warf. Bei der Parade am 1. Mai 1903 reckte er den angreifenden Kosaken eigensinnig eine rote Fahne entgegen, beteiligte sich an der Gründung einer illegalen Druckerei und organisierte mit anderen Genossen den ersten Kongress der kaukasischen sozialdemokratischen Organisationen. Im November 1903 wurde er am Bahnhof von Batum wegen Besitzes verbotener Schriften verhaftet. Im Gefängnis infizierte er sich vorsätzlich mit Malaria und wurde auf die Krankenstation verlegt, von wo ihm im September 1904 die Flucht gelang. Kurz darauf griff ihn die Polizei wieder auf, doch Kamo spielte so überzeugend die Rolle eines anderen Studenten, dass man ihn laufen ließ. Kamo liebte es, sich zu verkleiden. Er trat mal als Zeitungsverkäufer, mal als Obsthändler, besonders gern als Mönch auf, bettelte die nach ihm fahndenden Gendarmen an oder flirtete als Kosakenoffizier im Eisenbahncoupé mit jungen Damen. In den Kämpfen der letztlich gescheiterten Revolution von 1905 wurde er fünfmal verwundet.

Im März 1906 lernte er in Sankt Petersburg Wladimir Iljitsch Uljanow, den späteren Lenin, kennen. Ihm übergab Kamo 15.000 Rubel, die er bei einem Bankraub in Kutaisi erbeutet hatte. Die als "Expropriation" bezeichnete Geldbeschaffung durch Banküberfälle wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von einer revolutionären Gruppe praktiziert, die sich "Bojewiki" nannte. Von einem Teil der sozialdemokratischen Bewegung begrüßt, vom anderen abgelehnt, waren die Aktivitäten der Bojewiki einer der Gründe, die zur Spaltung der Sozialrevolutionäre in Bolschewiki und Menschewiki führten.

In St. Petersburg lernte Kamo in einem illegalen Labor, Bomben zu bauen. Mit Maxim Litwinow reiste er im Sommer 1906 nach Westeuropa, um Waffen zu beschaffen. In der Folgezeit verübte er auf Befehl Stalins Banküberfälle, Brandanschläge und Morde. 1907 erlitt er bei der Explosion eines selbst gebastelten Sprengsatzes eine Verletzung des linken Auges. Dessen Sehfähigkeit wurde stark gemindert, die Pupille wies eine auffällige Fehlstellung auf, was die Fahndung nach Kamo erleichterte. Am 26. Juni jenes Jahres sollte er den spektakulärsten der als Enteignung deklarierten Raubzüge ausführen. An diesem Tag wurden 250.000 Rubel an die Depositenkasse der Staatsbank in Tiflis geliefert. Das entsprach etwa dem Jahresbudget des Zaren. Andere Quellen geben sogar 375.000 Rubel an. Zur Planung des Überfalls reiste Kamo zu Lenin nach Kuokkala. Als Geschenk brachte er Melonen mit, die er so verpackt hatte, dass sie wie Bomben aussahen. Damit erschreckte er Nadeschda Krupskaja. Am Überfall waren vierzehn Männer und zwei Frauen beteiligt, darunter Stalin (unter dem Decknamen Koba) und Daniko. Der Geldtransport bestand aus zwei gepanzerten Kutschen. In der ersten fuhren der Hauptkassierer der Staatsbank Kurdamow und der Oberbuchhalter Golowia mit zwei Wächtern und dem Geld. Die zweite war mit Soldaten und Polizisten besetzt. Eskortiert wurden die Kutschen von 18 berittenen Kosaken. Nachdem der Transport das Geld im Postamt übernommen hatte, verständigten zwei Frauen aus einem nahen Café telefonisch ihre Mitverschwörer. Kamo, als Offizier verkleidet, erwartete den Konvoi in einer offenen Kutsche auf dem Jerewanplatz. Als der Transport dort eintraf, warf einer der Verschwörer vom Dach des Palastes des Fürsten Schumbatow eine Bombe. Stalin behauptete später, dieser Mann gewesen zu sein. Nach anderen Darstellungen war Stalin nur für den Transport der Beute nach dem Überfall zuständig. Die Verschwörer warfen sechs weitere Bomben.

Durch die Detonationen wurden zwei Kosaken getötet, Kurdamow und Golowia wurden schwer verletzt aus der Kutsche geschleudert, mehrere Kosaken stürzten von ihren Pferden, zudem gab es etwa 50 Verletzte unter den Passanten. Die Zugpferde der Kutsche gingen mit ihrer Beute in Richtung Soldatski-Markt durch. Das Gefährt kam erst zum Stehen, als die nächste Bombe der Kutsche die Räder abriss. Daniko ergriff einen der beiden Geldsäcke und flüchtete. Kamo war der Kutsche in seinem offenen Wagen gefolgt, laut über das Banditengesindel fluchend. Er holte Daniko ein, befahl ihm mit vorgehaltenem Revolver, einzusteigen, wobei er den erstaunten Gaffern erklärte, es sei nur gerecht, den Banditen der Justiz auszuliefern. Dann holte er den zweiten Geldsack und fuhr davon. Später wurde kolportiert, Kamo habe vor dem Überfall die Passanten aufgefordert, den Platz zu verlassen. Die Legende sollte verschleiern, dass die Revolutionäre unbeteiligte Opfer billigend in Kauf genommen hatten.

Die Beute, zunächst in der Wohnung eines Sympathisanten, danach im Tifliser Observatorium unter dem Sofa des Direktors deponiert, wurde Wochen später nach St. Petersburg gebracht, wo Leonid Krassin die nicht veräußerbaren Wertpapiere vernichtete und die Geldscheine ins Ausland schaffen ließ. Der größte Teil der Banknoten kam indes nicht in Umlauf, weil die Polizei die Seriennummern bekannt gegeben hatte. Im Januar 1908 wurde in München eine Frau festgenommen, die einen der erbeuteten Scheine wechseln wollte. In Paris verhaftete die Polizei Maxim Litwinow. Bei ihm wurden zwölf Geldscheine aus der Beute gefunden. Krassin wurde in Finnland festgenommen. Die Bolschewiki planten seine Befreiung, doch er wurde vorher überraschend freigelassen. In Berlin wechselte Krassin ein Paket erbeuteter Scheine, deren Seriennummern er verfälscht hatte.

Kamo erholte sich bei Lenin in Kuokkala, bevor er nach Berlin reiste, dort durch den Polizeiinformanten Schitomirski enttarnt und mit einem Koffer voller Sprengstoff verhaftet wurde. In der Haft täuschte Kamo eine psychische Erkrankung vor. Man überführte ihn im Mai 1908 in die Psychiatrie. Kamo simulierte vollständige Gefühllosigkeit der Haut. Weder Nadelstiche noch die Berührung mit heißem Eisen konnte ihm eine Schmerzreaktion entlocken. Die Mediziner attestierten ihm eine unheilbare Geisteskrankheit.

1909 lieferte das Deutsche Reich Kamo an Russland aus. Dort brachte man ihn zunächst im Schloss Metekh, später in einer psychiatrischen Anstalt unter. Aufgrund der Gutachten der deutschen Ärzte und infolge der Intervention von Ministerpräsident Pjotr Stolypin, der im Falle eines Todesurteils negative Auswirkungen auf die zukünftige Auslieferung von Anarchisten befürchtete, entging Kamo der Todesstrafe. Im August 1911 gelang ihm die Flucht.

Kamo ging nach Konstantinopel und traf später in Paris mit Lenin zusammen. Nachdem er in Belgien die Stellung der Pupille seines linken Auges hatte korrigieren lassen, kehrte er Ende 1912 nach Tiflis zurück, wurde jedoch im Januar 1913 bei einem Überfall, in dessen Verlauf sieben Menschen umkamen, gefasst und im März zum Tode verurteilt. Aufgrund einer Amnestie anlässlich des 300-jährigen Regierungsjubiläums der Romanows wurde die Strafe zu 20 Jahren Zwangsarbeit umgewandelt, die er in Charkow verbringen musste.

Im Zuge der Februarrevolution kam Kamo im März 1917 frei. Er beteiligte sich an der Oktoberrevolution und fungierte als Bote zwischen Lenin und Stepan Schahumjan. Einige Zeit brachte Kamo in Tiflis zu. 1919 fuhr er mit einem Boot nach Astrachan und gründete dort eine Partisanengruppe, deren Aktionsraum um Kursk und Orjol lag. Im Januar 1920 von den Menschewiki kurzzeitig in Haft genommen, war er im März bereits wieder frei und reiste nach Baku, im Mai nach Moskau. Dort war er im Außenhandelsministerium tätig. In Tiflis wurde er zum Leiter der Transkaukasischen Zollbehörde ernannt.

Am 14. Juli 1922 kam Kamo während einer Motorradfahrt in Tiflis durch einen Unfall mit einem Lastwagen ums Leben. Einige Historiker halten es für möglich, dass Stalin den Unfalltod inszeniert hatte. Kamo wurde im Puschkin-Garten unweit des Jerewan-Platzes beigesetzt. Lenin und die Krupskaja schickten einen Kranz. Stalin ließ den Grabstein später entfernen, den Leichnam umbetten und alle Aufzeichnungen Kamos zusammentragen. Sie liegen heute in russischen Archiven, werden gelegentlich von Historikern zitiert, sind aber bisher weder publiziert noch systematisch ausgewertet. Von 1959 bis 1995 trug die Hauptstadt der armenischen Provinz Mars den Namen Kamo, seither heißt sie Gawar.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 7/2017 vom 27. März 2017, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 20. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. April 2017

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