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DAS BLÄTTCHEN/1733: EU in der Zwickmühle


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
20. Jahrgang | Nummer 21 | 9. Oktober 2017

EU in der Zwickmühle

von Erhard Crome


Bei dem Unabhängigkeitsreferendum in Katalonien am 1. Oktober 2017 wurden fast 900 Menschen durch die Polizei verletzt. Während die katalanischen Polizisten der Anweisung aus Madrid, gegen die Abstimmung, die Wahllokale und die Wähler vorzugehen, nicht gehorchten und dem Wählen freundlich zuschauten, gingen die aus anderen Landesteilen herangekarrten Polizisten mit großer Brutalität gegen die Menschen vor. Es waren die Bilder der friedlichen Bürger, die ihre Stimme abgaben oder abgeben wollten, einerseits und die der gewalttätigen Polizisten, die in Bürgerkriegsrüstung mit Schlagstöcken und Gummigeschossen gegen die Wähler vorgingen, andererseits, die im Gedächtnis haften bleiben. Wenn solche aus Moskau kommen, werden sie in deutschen Medien gern ausgebreitet. Aus EU-Landen kannten wir derlei Bilder bisher nicht. Verdruckst wurde kommentiert, es gehe um Rechtsstaat und Verteidigung der Verfassung Spaniens.

Dennoch gelang es den regierungstreuen Polizeikräften nur, knapp 100 von über 2.000 Wahllokalen zuzumachen. Trotz "gestohlener" Wahlurnen konnten 2,3 Millionen Stimmen ausgezählt werden, das waren laut katalanischer Regionalregierung 43 Prozent der Wahlberechtigten. Von ihnen stimmten über 90 Prozent für die Unabhängigkeit. Der konservative spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy dagegen erklärte: "Es gab kein Referendum in Katalonien." Der spanische König pflichtete ihm bei.

Vor ein paar Jahren, noch vor dem Unabhängigkeitsreferendum in Schottland 2014, traf ich auf einer Konferenz einen Politikwissenschaftler, der sich auf die Nationalitätenfragen in Westeuropa spezialisiert hatte. Er stammte aus Nordirland und hatte eine Professur in Bilbao in Spanien. Ich fragte, ob es denn ausgemacht sei, dass bei einem Referendum über die Unabhängigkeit in Schottland oder Katalonien die Mehrheit dafür sei. Seine Antwort lautete, die britische Regierung werde das Referendum erlauben und es werde scheitern, die spanische werde es verbieten und die Mehrheit werde für die Unabhängigkeit stimmen, schon aus Ärger über das Verbot. Je stärker der Druck der Zentralregierung, desto größer der Gegendruck. So ist es denn ja auch gekommen.

Nachdem das spanische Verfassungsgericht auch das Zusammentreten des katalonischen Parlaments verboten hat - es könnte ja die Unabhängigkeit beschließen - droht offenbar Blutvergießen. Eine zentrale Frage nun ist: Wie reagiert die EU? Die spanische Zeitung El Pais schrieb im Sinne des Madrider Zentralismus: "Mit den gestrigen Ereignissen wurde deutlich, dass sich die katalanische Regionalregierung wie ein Komitee professioneller Aufhetzer verhält, wie eine aufständische Anti-Institution. Sie handelt wie ein Apparat, der gegen das liberale System aufwiegelt und dabei die Privilegien der demokratischen Institutionen missbraucht, um Schritt für Schritt einen Staatsstreich durchzuführen." Die konservative französische Online-Plattform Caseur sekundierte: "Mariano Rajoy, zunächst wegen der Zersplitterung des Parlaments geschwächt, steht nun als letzter Verteidiger der Einheit Spaniens da."

Die katalanische Tageszeitung Ara dagegen konstatierte: "Während die Regierung in Katalonien weiterhin eine internationale Vermittlung fordert, antwortet Brüssel, dass es die katalanische Krise weiter als innere Angelegenheit Spaniens behandeln wird. Madrid will keine Aufsicht von außen, obwohl die Europäische Union Erfahrungen in Mediationen hätte, und nicht nur außerhalb des eigenen Territoriums. Sie vermittelte im Nordirlandkonflikt, wo Brüssel den Friedensprozess wirtschaftlich und politisch begleitete, um die geografischen und gesellschaftlichen Grenzen zu überwinden. Und sie vermittelte in Zypern und zwar schon vor dem EU-Beitritt der Republik Zypern." Auch die deutsche Die Welt nennt es einen großen Fehler der EU, Rajoy gewähren zu lassen. "Es rächt sich, dass die EU einerseits nationalstaatliche Hoheitsfragen wie Grenzsicherung, Währung, Justiz immer weiter an sich gezogen hat, doch wenn es dadurch innerhalb einer Nation zu anarchischen oder wenigstens zentrifugalen Entwicklungen kommt, dann hält sich Brüssel an das Gebot der Nichteinmischung. [...] Wenig mehr als ein paar dürre Worte zur Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit waren von Angela Merkel denn auch nicht zu hören, wohl weil sie ihren treuen Paladin Rajoy nicht diskreditieren möchte."

Auch die Wiener fordert, die EU müsse schon aus eigenem Interesse in Katalonien vermitteln: "Das derzeitige Verhalten der EU in der Katalonien-Frage ist auch deswegen vollkommen kontraproduktiv, weil es ihr eigenes Image beschädigt. Die Schande Spaniens wird somit zur Schande Europas. Es trägt lediglich zu einem EU-Skeptizismus bei, der sich rasch unter Katalanen - und Europäern - ausweiten könnte. Wenn Brüssel die weitgehend als offen und EU-freundlich geltende katalanische Bevölkerung und ihre 'Causa catalana' weiterhin ignoriert, könnte die EU bald als Befürworter maßloser Polizeigewalt und anti-demokratischer Tendenzen dargestellt werden. In einer Ära, in der EU-kritische Parteien immer mehr Zuspruch finden, in Parlamente einziehen oder gar Regierungen anführen, ist das keine gute Nachricht für das Projekt Europa."

Die der politischen Klasse Portugals nahestehende Público dagegen wendet ein, die EU basiere "auf rechtsstaatlichen Verträgen [...]. Jegliche Intervention seitens der EU, die nicht von Spanien beantragt oder angenommen wird, wäre eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des spanischen Staats. Schlimmer noch: Juristisch betrachtet könnte dies als Verletzung des Vertrags über die Europäische Union gewertet werden." Für das Gegenteil plädiert das bulgarische regierungskritische Online-Portal e-vestnik: "Sollte in Katalonien das Militär zum Einsatz kommen und die Gewalt weiter eskalieren, was mittlerweile unausweichlich scheint, werden sich noch mehr Menschen aus Mitleid auf die Seite der Separatisten schlagen. Die EU müsste jetzt eingreifen, mit den katalanischen Behörden Gespräche führen und Katalonien [im Fall der Unabhängigkeit] einen sofortigen EU-Beitritt zusichern. Sie haben den Euro, ihre Institutionen funktionieren nach EU-Vorgaben, sie sind in der EU - und daran sollte sich auch nichts ändern. Stattdessen werden wir jedoch bald Zeugen von Blutvergießen werden. Die Wunden des spanischen Bürgerkriegs, die noch nicht verheilt sind, werden wieder aufgerissen werden."

Bereits diese Zusammenstellung gegensätzlicher Positionen (die auf "eurotopics" beruht) zeigt, dass die katalanische Frage das Hauptproblem der Europäischen Union wieder in aller Dringlichkeit stellt. Es geht nicht nur darum, dass Angela Merkel ihre schützende Hand über Rajoy hält, wie stets über Orbán. Es geht darum, ob die EU im Kern ein Staatenverbund bleibt, wie sie es den Verträgen gemäß nach wie vor ist, oder ob sie wirklich zu einer Union der Völker und Bevölkerungen wird. Alle Verselbständigungs-Probleme innerhalb der Union könnten politisch und sachlich gelöst werden, wenn Lostrennungen akzeptiert werden und Teilstaaten, die bereits in der EU sind, das Gemeinschaftsrecht anwenden oder gar den Euro haben, dies alles behalten. Das hieße allerdings, die bisherigen Zentralregierungen, etwa in Madrid, zu schwächen. Auch Schottland oder Nordirland könnten so in der EU bleiben.

Indien liegt weit weg und gehört aus arroganter europäischer Sicht zu den ehemaligen Kolonialländern. Dort jedoch hat man seit den 1950er Jahren Selbständigkeitsbestrebungen in einzelnen Regionen stets durch Teilung der vorherigen Bundesstaaten entlang von sprachlichen oder kulturellen Grenzen entschärft und gelöst, während die Außengrenzen der Indischen Union gleich blieben. Nichts hindert die EU, dies ebenfalls so zu machen. Außer der Tradition des europäischen Nationalstaates. Aber Schottland und Irland waren mit Gewalt von England angegliedert worden, wie Katalonien 1714 wieder von der spanischen Krone unterworfen wurde. Das Autonomiestatut von 1932 war von Diktator Franco suspendiert worden. Vor dem Hintergrund der Geschichte ist eher der Machtanspruch Londons oder Madrids Fiktion als der der schottischen oder katalanischen Unabhängigkeit.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 21/2017 vom 9. Oktoer 2017, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 20. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Oktober 2017

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