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DAS BLÄTTCHEN/1791: Weiter Orbán


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
21. Jahrgang | Nummer 9 | 23. April 2018

Weiter Orbán

von Erhard Crome


Ein halbsachkundiger Kommentator einer hiesigen linken Zeitung schrieb vor den diesjährigen Parlamentswahlen in Ungarn, Viktor Orbán strebe seine dritte Amtsperiode als Ministerpräsident an. Es war die vierte: er hatte nicht nur die Wahlen 2010 und 2014 gewonnen, sondern regierte auch schon von 1998 bis 2002. Die Konrad-Adenauer-Stiftung schrieb im März, die Wahlen seien eine "Vertrauensabstimmung über den Kurs von Ministerpräsident Viktor Orbán". Allerdings hätten sich alle anderen gegen ihn verschworen: "Linksorientierte Intellektuelle haben mit der Bewegung 'Die Zweidrittelmehrheit abbauen' und 'Bewegung Gemeinsames Land' den Versuch unternommen, einen Konsens zwischen allen Oppositionsparteien, teilweise inklusive Jobbik, herzustellen." Die Losung "Alle gegen Fidesz" habe zudem den Vorteil, dass die Opposition sich nicht über Inhalte verständigen müsse.

Als am 8. April 2018, dem Wahlabend, die Meldung kam, die Wahlbeteiligung sei um acht Prozent gestiegen, meinten etliche Beobachter, nun beginne ein Wandel in Ungarn. Sie irrten. Das "Alle gegen" hatte dazu geführt, dass auch etliche Orbán-Anhänger zur Wahlurne gingen, die vier Jahre zuvor zu Hause blieben. Orbáns bürgerlich-konservative Parteienkonstellation - von Fidesz-Ungarischer Bürgerbund in Verbindung mit der Christlich-Demokratischen Volks-Partei (KNDP) - erlangte erneut eine Zweidrittelmehrheit: Sie erhielt mit 133 Mandaten in einem Parlament von 199 Sitzen exakt jene Anzahl, die erforderlich ist, damit Orbán mit verfassungsändernder Mehrheit weiterregieren kann. Die noch rechts von Fidesz-KNDP einzuordnende Jobbik-Partei wurde mit 26 Mandaten zweitstärkste Kraft, die einst stolze Sozialistische Partei (MSZP) mit 20 Mandaten weit abgeschlagen drittstärkste, gefolgt von der Demokratischen Koalition, einer Abspaltung von der MSZP, die mit neun, und der zwischen Grün und Protest changierenden Partei "Politik kann anders sein" (LMP), die mit acht Sitzen wieder in das Parlament einzog. (Es gab außerdem drei Einzelmandate.) Ungeachtet aller Kritiken, die es an der Politik Viktor Orbáns in den vergangenen Jahren im In- und Ausland gegeben hat: er kann wie bisher agieren.

Bei der Parlamentswahl 2014 hatte Fidesz-KNDP ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit von 133 Mandaten erreicht. Sozialisten und Demokratische Koalition waren damals ein Bündnis mit weiteren kleinen, sich als links beziehungsweise liberal verstehenden Parteien eingegangen und erreichten zusammen 38 Mandate. Jobbik wurde mit 23 Mandaten drittstärkste Kraft, LMP zog mit fünf Sitzen in das Parlament ein.

In Ungarn hat es nach dem Ende des Realsozialismus keine vorgezogenen Neuwahlen gegeben, wie die Adenauer-Stiftung stolz hervorhebt. Das politische System war zunächst zwanzig Jahre dadurch geprägt, dass konservativ und sozialistisch geführte Regierungen einander ablösten. Die ersten freien Wahlen in Ungarn 1990 gewann eine konservative Koalition, 1994 bis 1998 regierte eine sozialistisch geführte Koalition und 1998 bis 2002 Viktor Orbán. Nach den neuerlichen Wahlerfolgen der Sozialisten 2002 und 2006 kündigte er scharfen Widerstand "auf der Straße" an, während er im Parlament schwieg. Das Dilemma der Reformsozialisten in Ungarn war, dass sie eine maßgebliche Rolle im Systemwechsel gespielt hatten, aber in ihren nachwendischen Regierungsjahren wesentlich das Programm der Einführung der kapitalistischen Verhältnisse und der Anpassung an die Bedingungen des EU-Beitritts zu realisieren hatten, während ihr soziales Profil auf der Strecke blieb. Hinzu kamen Korruption, politische Skandale und häufige Personalwechsel an der Spitze.

Bei den Wahlen zum ungarischen Parlament 2010 errang Viktor Orbán mit Fidesz (ebenfalls in Listenverbindung mit der KNDP) 263 der damals 386 Parlamentssitze und verfügte mit seiner Fraktion über 68 Prozent der Mandate, fünf Sitze mehr, als für eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erforderlich waren - und wurde so der erste Regierungschef seit der Wende, der nicht unter Koalitionszwängen stand. Die MSZP wurde mit nur noch 59 Abgeordneten beziehungsweise 15 Prozent der Sitze zweitstärkste Partei. Jobbik lag mit 47 Sitzen als drittstärkste Kraft nicht weit dahinter. Die damals neue LMP, die gegen Rechts wie gegen die MSZP angetreten war, stellte 16 Abgeordnete.

Orbán nutzte seine Zweidrittelmehrheit, um eine neue Verfassung zu oktroyieren und das Wahlsystem zu ändern. Das nach 1989 geschaffene Wahlsystem war kompliziert, aber praktikabel. Nach den Umbrüchen Ende der 1980er Jahre wurde in vielem das der Bundesrepublik Deutschland übernommen: das politische Gewicht liegt beim Parlament mit einer aus der Parlamentsmehrheit hervorgehenden Regierung (Kanzlerprinzip), eine Sperrklausel, jetzt mindestens fünf Prozent, für Parteienbündnisse höher, Wahlkreiskandidaten und Parteilisten. Die Parlamentssitze wurden jedoch nicht hälftig aufgeteilt, wie in Deutschland zum Bundestag mit den Direktmandaten und den nach Liste Gewählten, sondern 176 Abgeordnete wurden in den einzelnen Wahlkreisen gewählt, 152 über regionale Kandidatenlisten der Parteien und 58 ergaben sich aus einer Zusammenrechnung der Parteilisten auf Landesebene. Dafür waren zwei Wahlgänge erforderlich.

Durch das Wahlgesetz von 2011 wurde ein neues Wahlverfahren geschaffen, das 2014 erstmals zur Anwendung kam. Erstes Element ist eine deutliche Verkleinerung des Parlaments, von 386 auf 199 Abgeordnete - das ließ sich mit Einsparungsargumenten wohlfeil begründen. Von diesen sind dann 106 direkt in den Wahlkreisen gewählt (statt 176), 93 über die Landeslisten (statt 210). Mit der kleineren Zahl der Direktwahlkreise wurde deren Vergrößerung und Neuzuschnitt verbunden. Zugleich entfällt der zuvor notwendige zweite Wahlgang: Das Direktmandat erhält derjenige Kandidat, auf den die relative Mehrheit der Stimmen im Wahlkreis entfällt. Die Befürworter dieses Wahlgesetzes verwiesen darauf, dass das in Deutschland auch so sei - allerdings ist im ungarischen Wahlgesetz ein Ausgleich über die Listen nicht vorgesehen. Das neue System verstärkt die Elemente des Mehrheitswahlrechts zu Lasten der des Verhältniswahlrechts, so dass eine Partei auch mit einer Minderheit der Stimmen im Landesmaßstab eine Mehrheit der Parlamentssitze erhalten kann.

Bürger mit Wohnsitz in Ungarn haben zwei Stimmen, eine für das Direktmandat und eine für die Landesliste. Hinzu kommt: Durch das Gesetz über die doppelte Staatsbürgerschaft, das die Orbán-Regierung bereits im Sommer 2010 gemacht hatte, haben seit 2011 Auslandsungarn die Möglichkeit, die ungarische Staatsbürgerschaft zu erwerben. Mit dem neuen Wahlgesetz können seit 2014 auch sie an der Parlamentswahl teilnehmen, haben allerdings nur eine Stimme, für die Parteienliste. Von denen stimmten 2018 wieder die meisten, nun 96,2 Prozent für Fidesz-KNDP.

Eine politikwissenschaftliche Tiefenprüfung zum Wahlgesetz von 2011 ergab: wenn bereits 2002 und 2006 nach dessen Bestimmungen gewählt worden wäre, hätte Fidesz auch jene Wahlen gewonnen - und die acht Jahre "Unterbrechung" durch sozialistische Regierungen hätte es nicht gegeben, Orbán hätte bereits seit 1998 "durchregieren" können. Nun regiert er erstmal weiter "durch". Und nichts deutet darauf hin, dass die deutschen Christdemokraten ihn in "Brüssel" zur Disposition stellen könnten.

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 9/2018 vom 23. April 2018, Online-Ausgabe
Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft, 21. Jahrgang
Herausgeber: Wolfgang Sabath (†)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2018

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