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DAS BLÄTTCHEN/1811: Russlands neue Atomwaffen - Gefahr und Chance


Das Blättchen - Zeitschrift für Politik, Kunst und Wirtschaft
21. Jahrgang | Nummer 14 | 2. Juli 2018

Russlands neue Atomwaffen - Gefahr und Chance

von Jerry Sommer


In seiner Rede am 1. März 2018 sprach Präsident Putin gleich von mehreren neuen russischen Atomwaffen. Als erste nannte er die schwere Interkontinentalrakete "Sarmat". Sie könne praktisch unbegrenzte Entfernungen zurücklegen. Die Rakete kann mit mehreren Nuklearsprengköpfen bestückt werden, die zudem so manövrierfähig sein sollen, dass sie jede Raketenabwehr überwinden könnten. Die "Sarmat" ist schon länger in der Entwicklung und wird wohl in Kürze in Dienst gestellt. Sie soll ältere russische Interkontinentalraketen aus den 1980er Jahren schrittweise ersetzen. Sie ist Teil der seit Jahren bekannten Modernisierungspläne Russlands: Alle veralteten strategischen Waffen und ihre Trägersysteme - Flugzeuge, U-Boote und landgestützte Raketen - werden durch modernere Varianten ersetzt. Der Nuklearwaffenexperte Hans Kristensen von der Federation of American Scientists: "Russland tauscht seine gegenwärtigen Systeme alle aus. Aber nicht unbedingt eins zu eins. Russland hat weniger Trägersysteme, z. B. Raketen und Bomber, als die USA. Diese gewisse Unterlegenheit soll durch mehr Sprengköpfe auf den neuen Raketen ausgeglichen werden."

Ein weiteres von Putin erwähntes Waffensystem ist eine Rakete namens "Kinschal". Sie wurde auf der Militärparade zum Sieg über Hitler-Deutschland am 9. Mai gezeigt. Diese Rakete wird von Flugzeugen aus gestartet und soll mit einer mehrfachen Schallgeschwindigkeit 2.000 Kilometer weit ganz dicht über dem Erdboden fliegen können. Deshalb ist sie nur sehr schwer von Radaranlagen zu orten. Das dritte von Putin genannte System, die "Avantgard", ist ein Langstrecken-Gleitfahrzeug, das mit mehr als der fünffachen Schallgeschwindigkeit fliegen soll. Inwieweit diese Waffensysteme aber schon einsatzreif sind, ist schwer zu beurteilen. Nach Einschätzung des Atomwaffenexperten Andrei Baklitsky vom Moskauer Thinktank PIR-Center ist die Entwicklung jedoch bereits weit fortgeschritten: "Die hyperschallschnelle Kinschal-Rakete wird schon seit 2008 getestet. Und die 'Avantgard' soll jetzt in die Massenfertigung gehen. Zusammen mit der Sermat sind also drei der vorgeführten Systeme entweder schon in Dienst gestellt oder stehen kurz davor."

Viel unklarer ist der Entwicklungsstand von zwei weiteren neu präsentierten Waffensystemen: einem neuartigen Marschflugkörper und einer Unterwasserdrohne. Diese können mit konventionellen wie auch mit nuklearen Sprengköpfen bestückt werden. Als Antrieb sollen sie über einen kleinen Nuklearreaktor verfügen. Einige russische Experten halten das technisch prinzipiell für möglich, manche westliche Fachleute bezweifeln dies jedoch. Aber es wäre auch ökologisch unverantwortlich, eine solche Waffe zu entwickeln, meint Götz Neuneck vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik: "Es handelt sich hierbei um eine extrem unsichere Antriebstechnologie. Es gibt Fehlfunktionen und einen Reaktor, der bei einigen 1000 Grad funktioniert und dann heiße Gase nach hinten ausstößt. Ein solcher Reaktor kann gar nicht radioaktivitätsfrei funktionieren. Es ist immer damit zu rechnen, dass es zu einem Unfall - auch bei statischen Tests - kommen kann."

Diese nukleargetriebenen Waffen sollen ebenfalls jegliche Abwehrsysteme überwinden können. Sie wären keine sogenannten Erstschlagswaffen, mit denen das strategische Vergeltungsarsenal der anderen Seite durch einen Überraschungsangriff ausgeschaltet werden könnte, meint der Moskauer Militärexperte Andrei Baklitsky: "Das sind Waffen für einen Gegenschlag. Damit soll dem Gegner gezeigt werden: Du wirst nicht in der Lage sein, unsere nuklearen Streitkräfte zu enthaupten. Wenn du angreifst, ist irgendwo eine Drohne in Stellung, um zurückzuschlagen."

Zum Beispiel um einen Hafen oder eine ganze Küstenstadt atomar zu verseuchen.

Alle vorgestellten Waffensysteme wurden von Putin damit begründet, dass die USA ihre Raketenabwehr stetig ausbauen und sie keinerlei rüstungskontrollpolitischen Begrenzungen unterwerfen wollen. Doch eigentlich seien die neuen Waffensysteme gar nicht notwendig, um Russlands Zweitschlagsfähigkeit - und damit ein gewisses strategisches Gleichgewicht - aufrechtzuerhalten, schätzt Pavel Podvig, ein kritischer Kenner der russischen Atomwaffenpolitik, ein: "Die gegenwärtig vorhandenen Raketen sind vollständig zu einem Gegenschlag in der Lage, selbst wenn die Raketenabwehrsysteme in Zukunft immer effektiver werden sollten. Es ist völlig überflüssig, in neuartige Waffensysteme zu investieren."

Die US-Regierung hat gelassen auf die Waffenshow Putins reagiert. Hans Kristensen von der Federation of American Scientists: "General Hayden, der Chef der US-Nuklearstreitkräfte hat gesagt, Russland könne sein Geld gern für solche Waffen ausgeben. Aber sie seien keine zusätzliche, grundsätzlich neue Bedrohung für die USA."

Allerdings sind die USA ohnehin dabei, ihr Atomwaffenarsenal grundlegend zu modernisieren und auch neue Nuklearwaffen zu entwickeln. Zugleich wird die Raketenabwehr unter Präsident Trump deutlich ausgebaut. Zudem dürften Stimmen im US-Kongress lauter werden, die zum Beispiel noch mehr Abwehrsysteme auch gegen russische Unterwasserdrohnen und neuartige Marschflugkörper fordern. Götz Neuneck vom Hamburger Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik ist deshalb über Putins Waffenankündigungen besorgt: "Das würde ich ein Wettrüsten nennen, wenn dafür sehr viel Geld ausgegeben wird, obwohl wir es immerhin noch mit rund 13.000 Nuklearwaffen auf beiden Seiten zu tun haben, und obwohl wir uns eigentlich mal wieder Gedanken machen sollten, wie man hier Abrüstung gestalten kann."

Der russische Militärkenner Pavel Podvig sieht jedoch auch einen Silberstreifen am Horizont: "Falls diese neuartigen Waffen Russland die Sicherheit geben, dass es in der Lage ist, die USA effektiv abzuschrecken, könnten sie auch einen positiven Effekt haben: zum Beispiel, wenn Russland und die USA sich darauf einigten, ihre Atomarsenale weiter zu reduzieren - unter die bisher vereinbarten Obergrenzen von 1.550 Sprengköpfen". Diese Zahl für jede Seite wurde im sogenannten "New START-Vertrag" festgelegt. In diesem Jahr sind die Reduzierungen auf jeweils 1.550 Sprengköpfe erreicht worden. 2021 läuft der Vertrag aus. Wiederholt hat Putin neue Verhandlungen vorgeschlagen. Zuletzt sagte er in seiner Rede am 9. Mai: "Russland ist bereit zum Dialog über alle Fragen, die die globale Sicherheit betreffen. Es ist bereit zu einer konstruktiven, gleichberechtigten Partnerschaft, um Abkommen, Frieden und Fortschritt zu erreichen."

In einem Interview mit dem US-Fernsehsender NBC hatte Putin schon im März konkretisiert: Russland sei bereit über die Verlängerung des New START-Abkommens vom April 2010 zu verhandeln. Und dabei würden natürlich auch alle neu angekündigten Atomwaffensysteme einbezogen, sagte der russische Präsident. Der Moskauer Militärexperte Andrei Baklitsky vermutet deshalb, dass die futuristischen Atomwaffenprojekte - die nukleargetriebenen Unterwasserdrohnen und Marschflugkörper - vor allem als Tauschobjekte für Verhandlungen gedacht sind: "Das ist verrückt, das ist tiefster Kalter Krieg - so soll am Verhandlungstisch argumentiert werden. Ihr wollt nicht, dass wir diese Waffen produzieren und wir wollen das eigentlich auch nicht. Also, wir bieten an: wir werden sie nicht produzieren, wenn der Westen uns bei unseren Anliegen entgegenkommt."

Russische Anliegen: Das sind vor allem Begrenzungen der US-Raketenabwehrsysteme. Ob die russische Regierung wirklich die neuen Waffensysteme als Tauschobjekte, als Bargaining-Chips, betrachtet, kann wohl nur am Verhandlungstisch herausgefunden werden. Seine Bereitschaft zu Gesprächen über Atomwaffen und die strategische Stabilität hat Putin jedenfalls erklärt - auch wenn das im Westen kaum wahrgenommen worden ist. Der Hamburger Konfliktforscher Götz Neuneck: "Das muss von der US-Administration beantwortet werden. Und natürlich wäre ein Gipfel extrem hilfreich."

Ein Treffen zwischen Trump und Putin könnte zur politischen Entspannung beitragen. Bisher gibt es jedoch dafür keinen Termin. Und bisher hat die US-Regierung auch noch nicht entschieden, ob sie grundsätzlich beziehungsweise zu welchen Bedingungen sie zu neuen Rüstungskontroll-Verhandlungen mit Russland bereit ist.

Jerry Sommer ist freier Journalist. Der Artikel ist eine leicht veränderte Version seines Beitrages für "Streitkräfte und Strategien" (NDR-Info, 18.5.2018).

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Quelle:
Das Blättchen Nr. 14/2018 vom 2. Juli 2018, Online-Ausgabe
E-Mail: redaktion@das-blaettchen.de
Internet: https://das-blaettchen.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juli 2018

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